Manchmal braucht man Anstöße. Z.B. Anstöße zum Nachdenken. Das gilt auch für mich als jemand, dem eine gewisse Intellektualität inklusive Eigenständigkeit im Denken zugesprochen wird. Man ist aber immer auch Knoten in einem Netz. Dazu gehört vor allem, dass man die Erregungswellen seiner Nachbarn konstruktiv und/oder kritisch aufgreift und gegebenenfalls kommentiert und verarbeitet.
Daher bin ich meinem Fraktionskollegen und Freund Daniel Düngel – qua Amt Vizepräsident des Landtags von Nordrhein-Westfalen – sehr dankbar, einen solchen Anstoß geliefert zu haben. Er sprach unlängst in einem seiner Blogbeiträge von einem “kranken System“. Genauer sagte er, dass “die Anderen”, gemeint sind die Fraktionen der anderen Parteien im Landtag, “uns nicht helfen, an diesem kranken System etwas zu ändern”.
Wenn ich Daniels Blogbeitrag lese, kann ich förmlich den Zorn fühlen, den er beim Schreiben und auch danach empfunden haben muss.
Übrigens, wem der Zorn fehlt, dem fehlt auch die Selbstachtung. Das wusste schon Aristoteles.
Ein Mangel an Selbstachtung aber mündet in Zerstörungslust.
Wie dem auch sei, es wird Daniel Düngel nun vorgeworfen, seine Rolle als Landtagsvizepräsident missbraucht und in dieser seiner privilegierten Funktion ein unzulässiges Statement abgelassen zu haben.
Ich frage mich, gelten für Rollen- und Funktionsträger noch die Menschen-, bzw, die Bürgerrechte der freien Meinungsäußerung in Deutschland?
Sind sie für die Zeit der Amtsfunktion in Gänze eingeschränkt und gekoppelt an das Amt? Darf man nicht mal mehr laut “krankes System” sagen? Oder Zorn zum Ausdruck bringen?
Wie sieht es denn aus mit der Beziehung zwischen politischer und persönlicher Identität? Ist konkordantes Handeln und Sprechen verboten? Muss ich aktiv Persönlichkeitsspaltung betreiben?
Bereits 1994 sagte der französische Kulturwissenschaftler Jacques Attali, dass wir auf eine multidimensionale Demokratie zustreben, in der jeder mehreren Gruppen und Funktionen angehören darf. Sind Amtsträger an ihr Amt zu jeder Zeit und ausschließlich gekoppelt?
Die offizielle Botschaft an Daniel lautet: “Sie müssen funktionieren, Sie müssen effizient sein”.
Ich frage mich, wie lange können wir die kulturelle Spaltung zwischen den Anforderungen von Funktionalität und Effektivität/Rollenerfüllung und der Aufforderung zu Selbstverwirklichung und Freiheit noch aushalten?
Ich kann mich übrigens nicht entsinnen, dass Daniel sein Amt – z.B. in der Leitungsfunktion von Plenarsitzungen des Landtages NRW oder in der Repräsentanz des Landtages – jemals missbraucht hätte, im Gegenteil, er leistet das zur Zufriedenheit aller, übrigens mit einem gesunden Schuß Humor und mit menschlicher Wärme.
Und wenn Ronald Pofalla zur Bahn wechselt, ist das ok?
Und wenn Eckard von Klaeden zu Daimler-Benz wechselt, ist das ok?
Und wenn Wolfgang Clement zur RWE wechselt, ist das ok?
Und wenn Joschka Fischer zu BMW wechselt ist das ok?
Und wenn Gerhard Schröder zu GazProm wechselt, ist das ok?
Und wenn Daniel Düngel “krankes System” sagt, ist das nicht ok?
Schlagen wir doch mal – in der Wikipedia – nach unter dem Stichwort “bigott“.
Da fährt gerade der Planet vor die Wand, und mir wird als Amtsträger verboten, mal das eigene System zu kritisieren oder was?
Warren Buffett erklärt ungeniert den Krieg zwischen Arm und Reich, und ich darf nicht mal mehr “Scheiße” sagen?
Wie weit sind wir eigentlich gekommen? Demokratie ade?
Altbundeskanzler Helmut Schmidt diagnostizierte unlängst ein revolutionäres Potential in Europa. Stimmt. Daniel Düngel und die Piraten sind ein kleiner Teil davon.
Krankes System – weitgehend unvollständige Symptomliste/ Factsheet:
- durch Edward Snowden aufgedeckter massiver Selbstverrat der westlichen Demokratien
- geschätzt weltweit etwa 32 Billionen US $ auf Schwarzkonten (zum Vergleich BIP weltweit ca. 74 Bio US $)
- 1965, zum Ende des Babybooms, lebte etwa jedes 75. Kind in Deutschland von Sozialhilfe, heute jedes Fünfte.
- weiterhin deregulierte Finanzmärkte, eine Finanztransaktionssteuer ist nicht in Sicht
- Jugendarbeitslosigkeit = Hoffnungslosigkeit in Südwesteuropa bei über 60%
- Wiedererstarken der Rechten in Frankreich und Südeuropa
- stark gestiegene Selbstmordrate in Griechenland ….
- Und mit TTIP wird gerade ein Freihandelsabkommen vorbereitet, dass Staaten zu Selbstbedienungsläden ohne Kasse verkommen lassen wird.
Angesichts dessen ist die Aufregung zu Daniels Wortwahl ein Aufwallerchen – allerdings an der falschen Stelle.
Es müsste ein Beben sein – an einer anderen Stelle – siehe Liste.
Am Samstag, den 11. Januar 2014, erkläre ich, zwischen meinen Freund Daniel und mich passt politisch nicht mal eine Rasierklinge.
Es ist unsere Pflicht, die Demokratie neu zu erfinden, gemeinsam. Das ist zugegeben alles andere als einfach.
Aber sonst hat die NSA gewonnen.
Und – - ich bin zornig.
In diesem Sinne,
Nick Haflinger aka Joachim Paul
Fraktionsvorsitzender der Piratenfraktion im Landtag von NRW