Olaf Wegner, Stellvertretender Fraktionsvorsitzender und ordentliches Mitglied im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend für die Piratenfraktion im Landtag NRW erklärt zur heutigen Anhörung:
Wir wurden in der heutigen Anhörung von den Experten darin bestätigt, dass die Einrichtung und Besetzung einer unabhängigen Stelle eines Landesbeauftragten für Kinderrechte unverzichtbar ist, um die UN-Menschenrechte der Kinder und Jugendlichen in NRW wirklich umzusetzen und zu achten.Piraten fordern in ihrem Antrag die Einrichtung und Besetzung einer Stelle eines unabhängigen Landesbeauftragten für die Rechte und Belange von Kindern und Jugendlichen in Nordrhein-Westfalen.
Für ein Leben in Frieden, Freiheit und Vielfalt in der Europäischen Union und der Welt
Die Piraten haben der gemeinsamen Resolution von SPD, CDU, Grüne und FDP (Drucksache 16/10307 (Neudruck)) nicht zugestimmt, da sie „die falsche Antwort ist auf Fragen, die gar nicht gestellt wurden“, sagt Michele Marsching, Vorsitzender der Piratenfraktion im Landtag NRW:
„Erstens: Die Resolution fordert mit deutlichen Worten den völkerrechtswidrigen Kriegseinsatz in Syrien. Abscheulich! Mit der Forderung nach Gewalt kommen wir nicht weiter – wenn wir Frieden fordern, müssen wir auch Worte des Friedens verwenden.
Zweitens: Auf Extremismus kann man nicht mit Massenüberwachung antworten. In der Vielzahl der Daten ist es unmöglich, das Relevante zur Gefahrenabwehr herauszufinden. Wenn wir uns zur absoluten Sicherheit hin überwachen wollen, werden wir unsere Freiheiten verlieren.
Drittens: Wir müssen die Bereiche Bildung, Integration und Arbeit so ausgestalten, dass sie Perspektiven und Chancen für alle schaffen. Nur so werden wir einer Radikalisierung von Einzeltätern vorbeugen können.“
Die Piraten haben eine eigene Resolution eingebracht, die diese Aspekte berücksichtigt.
Marsching: „Mit unserer Resolution fordern wir eine Antwort, die Menschen tatsächlich schützt, die Radikalisierung vorbeugt, die Flüchtlinge begrüßt und eigene Verantwortungen benennt. NRW muss auch weiterhin für Frieden, Freiheit, Vielfalt, Toleranz und gegen jegliche Ausgrenzung stehen!“
Am 7. November 2015 veranstaltet die Piratenfraktion im Landtag NRW ihr 4. Kommunalvernetzungstreffen #kvt154.
Alle kommunalpolitisch aktiven Menschen in NRW sind herzlich eingeladen, auf diesem Treffen mit externen Fachleuten und Fachleuten der Piratenfraktion im Landtag NRW über aktuelle und wegweisende politische Themen zu diskutieren und sich zu informieren. Die Veranstaltung findet ganztägig im Unperfekthaus in Essen statt und ist offen für jedermann.
Wir freuen uns, kommunal aktive Piraten und sachkundige Bürger begrüßen zu dürfen!
Diese Einladung darf gern verbreitet werden. Sie gilt selbstverständlich auch für kommunalen Partner aus anderen Parteien und Bürgerbewegungen.
Alle rufen nach Transparenz. Aber was heißt das genau? Was interessiert euch in puncto Transparenz? Was möchtet ihr von Regierung, Behörden & Co. wissen? Welche politischen Entscheidungen sollen transparenter gemacht werden? Weiterlesen ›
Konstruktiv und streitbar – Ihre Piratenfraktion im Landtag NRW
Nach 2 Wochen intensiver Vorbereitung in Marathonfraktionssitzungen freuen wir uns jetzt auf die kommende Arbeit im Landtag. Wir verstehen uns nicht als Fundamental-Opposition, sondern stehen für ein Miteinander aller Fraktionen. Wir begrüßen ausdrücklich die Worte von Frau Präsidentin Gödecke, den Politikstil und die Erfahrungen aus der Zeit der Minderheitsregierung, die parteienübergreifende Zusammenarbeit, fortzuführen und weiterzuentwickeln. Wir haben die Chance, vertrocknete Strukturen zu hinterfragen und aufzubrechen, ganz im Sinne unserer gemeinsamen Verantwortung für die Menschen in Nordrhein-Westfalen.
Neue Lösungen ergeben sich meist jenseits der klassischen Pro- und Kontra-Positionen. Der Dissens gewinnt damit eine neue und konstruktive Qualität. Diese aus unseren Parteitagen stammenden Erfahrungen wollen wir nun in das Parlament des größten Bundeslandes einbringen und laden Sie herzlich ein, mit uns neue Wege der Demokratie auszuloten und zu entwickeln. Eine erste Gelegenheit dazu wird sich bei der Diskussion um die neue Geschäftsordnung des Landtages ergeben.
Angenehm überrascht waren wir über die freundliche und herzliche Aufnahme durch die Verwaltung, allen Mitarbeitern des Landtags und den Kollegen der anderen Fraktionen. Dafür herzlichen Dank Ihnen Allen!
Ihre Piratenfraktion
Eigentlich habe ich überhaupt keine Lust mehr, auf SWERF und TERF Texte zu reagieren und Diskussionen zu Sexarbeit/Prostitution wieder aufzuwärmen, von denen ich eigentlich dachte, man hätte dies in den 90ern und später rund um die Prostitutionsgesetze ausgiebigst ausgehandelt. Wenn aber zunehmend junge, „linke“ Gruppen in ihren Forderungen wieder reaktionärer werden, sich eher auf CDU Niveau begeben in ihren populistischen, teils autoritären Argumentationen und damit weit hinter wirklich guten Texten und Analysen (https://www.aids-nrw.de/upload/pdf/empfehlungen/prostschg/20141008_runder_tisch_prostitution_abschlussbericht.pdf) aus dem bürgerlichen Niveau (übrigens unter Einbezug von Sexarbeitenden) zurückbleiben, wird es vielleicht doch Zeit für ein paar deutlichere Worte.
(Dies ist eine erste, kurze Fassung, die ich bei Gelegenheit erweitern könnte. Kommentiert/ergänzt gerne.)
Grundsätzlich stellt sich mir auch die Frage, ob es sinnvoll ist, einem schlechten Text durch Erwähnung zu mehr Reichweite zu verhelfen, aber da interne Diskussionen und meine Kritik jedes verfickte Mal in nach meinem Empfinden völlig abwertender Art abgebügelt wurden (zum Beispiel nach der Rede und dem Auftreten von fem:in Ruhr und den ihnen verbundenen Strukturen auf der 8. März Vorabend-Demo in Dortmund), ist es vielleicht einfach nötig, dass ich mal öffentlich klar Stellung beziehe.
Weil ich das wichtig finde. Eben genau, um Gewalt wirklich zu begegnen und auch, um Ally zu sein für meine Freund*innen in Sexarbeit. Und weil ich mich mit einer gegenläufigen feministischen, politischen Position zunehmend nicht mehr sicher fühle in Zusammenhängen und bei Demonstrationen, die derartig reaktionäre Beiträge nicht nur dulden, sondern feiern.
Ja. Ich bin wütend. Und nur dann schreibe ich überhaupt noch Texte.
Dieser Text hat nicht den Anspruch, alle Aspekte und Probleme von Sexarbeit erfassen zu können. Sexarbeit ist vielfältig, umfasst Escort, Pornos, Table Dance, Tantra-Massage und Straßenstrich. Und so vielfältig wie die Arbeitsfelder sind die Menschen, die entsprechend derart arbeiten.
Damit sind wir im Grunde schon beim ersten Kritikpunkt am neuesten Text von fem:in Ruhr zu Prostitution.
Der Text kommt ausschließlich cis-geschlechtlich daher. Es ist ausschließlich von weiblicher Prostitution die Rede. Das mag die Mehrheit sein der Menschen in Sexarbeit, beschränkt sich aber keinesfalls darauf. Ein Ausblenden der Vielfalt in Sexarbeit wirkt mir da systemisch. Es macht es einfacher, Frauen darauf zu beschränken, Opfer zu sein, die vor durchweg gewalttätigen Freiern gerettet werden müssten.
Ja. Es gibt in der Branche gewalttätige Übergriffe. Allerdings ist es -wie in dem Text gefordert- überhaupt nicht hilfreich, auf Kriminalisierung zu setzen, um Gewalt zu verhindern.
Aber der Reihe nach. Sehen wir uns den Text doch mal systematisch und von vorne an:
Die Veröffentlichung von fem:in Ruhr beginnt bereits mit der höchst populistischen Überschrift „Wenn Frauenkörper zur Ware werden“.
Die Diskussion, ob Sexarbeit eine Dienstleistung ist oder ob grundsätzlich und immer (wie bei fem:in) davon gesprochen werden kann, dass „Frauen ihren Körper verkaufen“, ist auch schon x Male geführt worden über die letzten Jahrzehnte. In der Sache würde es nach meiner Auffassung helfen, sich Antje Schrupp oder „Feminism Unlimited“ anzuschließen und begrifflich Sexarbeit und Prostitution auseinanderzudividieren.
Um Gewalt begegnen zu können, braucht es mE eine differenzierte Betrachtung, auch in der „linken“ Diskussion und mit Begriffen. Das ist aufwändiger, führt nicht zu reißerischen Bannern, hilft aber am Ende betroffenen Menschen weit mehr als das Befeuern von Stigmata und Stillschweigen oder gar die Forderung nach Kriminalisierung und damit ein Verdrängen ins Heimliche. „Prostituierte*r“, „Sexarbeiter*in“, „Hure“ etc. ist als Selbstbezeichnung zu akzeptieren, als Fremdbezeichnung aber durchaus problematisch, weil damit unmittelbar Ablehnung, Kriminalität, Stigmatisierung, Missbrauch etc. mitschwingen.
Die Gefahr dabei, alles in dem Bereich über einen Kamm zu scheren, ist vor allem ein systematisches Unsichtbarmachen von Gewalt, zum Beispiel bezüglich trans Menschen in Sexarbeit. Von den in 2023 ermordeten 321 trans Menschen waren 48 Prozent in Sexarbeit tätig. (https://transrespect.org/en/trans-murder-monitoring-2023/)
Das Ausblenden führt zudem zu weiterer Stigmatisierung (der trans Menschen, aber auch Menschen in Sexarbeit im aktuellen Rechtsruck ohnehin schon ausgesetzt sind).
Aber zunächst mal weiter im Text von fem:in: Nahezu alle Behauptungen des Textes bleiben ohne Beleg oder Quelle. Beispiel: „Aber um welche Frauen geht es dabei? Wer sollte die wichtigere Seite sein, bei einer Gegenüberstellung von wenigen Freiwilligen und einer großen Anzahl Zwangsprostituierter?“
Neben der fehlenden Seriösität solcher Aussagen kommt hier ein weiterer Aspekt zum Tragen: Offen auftretenden Sexarbeitenden, die dies freiwillig und selbstbestimmt tun, wird das Recht abgesprochen, zu reden/ernst genommen zu werden. Sie werden als „zu privilegiert“ abgestempelt. Nur Frauen, die Gewalt erfahren haben und Prostitution daraus folgend ablehnen, werden als legitime Stimme angesehen. Diese Argumentation weist deutliche Doppelstandards auf. (https://prostitutionspolitik.net/2024/09/15/warum-der-vorwurf-des-privilegs-gegen-sexarbeitende-eine-anti-demokratische-strategie-ist/)
Im Text von fem:in folgt dann ein größerer Abschnitt über Freier. Zweifellos ist in einer patriarchalen Gesellschaft männliche und sexualisierte Gewalt eingewoben, beschränkt sich aber bei weitem nicht auf Gewalt gegen Sexarbeitende. Jede Beziehung, jeder sexuelle Kontakt müsste daraufhin geprüft werden. Aber ist die Aussage, dass man sexuelle Dienstleistungen nicht kaufen dürfe, eine daraus unmittelbar folgende oder ist dies nicht eher ein sehr moralin-triefendes Ding? Ist Sex etwas so „Heiliges“/Besonderes, dass es auch konsensuell nicht mit Gegenleistung oder Bezahlung verbunden sein darf? Polemisch: Müsse man Sex anbieten, ohne dafür bezahlt zu werden? Im Nebensatz findet sich noch ein wenig mehr Moralvorstellungsgedöns in Form von Kinkshaming zu „Fetischnischen“, was ich jetzt aber in diesem Text nicht weiter problematisieren werde. Die moralische Überhöhung von Sex sieht man mE auch in Aussagen wie „Dadurch verliert die Sexualität ihren sozialen und zwischenmenschlichen Kontext“. Natürlich ist es legitim, Sexualität diese Bedeutung zuzumessen. Allgemeingültig ist diese aber keineswegs. Manchmal ist Sex einfach nur Sex. Lust, Befriedigung, Frustabbau. (Konsens natürlich vorausgesetzt.)
Auch Kund*innen von Sexarbeitenden sind übrigens vielfältig. Ein überwiegender Anteil von Männern blendet Frauen, queere und behinderte Menschen einfach mal aus.
In die emotional aufheizenden Formulierungen mischt sich nun im Text etwas Paternalistisches. Frauen werden als Opfer, migrantisch, jung gesehen und vor allem als hilflos, als jemand, den man „retten“ müsse.
Nun könnte ich mich noch mit Marx‘ Verdinglichung beschäftigen, da das aber den Rahmen sprengen würde, endet diese Analyse zunächst mal mit einem Blick auf die Auswirkungen der von fem:in geforderten Kriminalisierung. Fem:in setzt hier auf einen gesellschaftlichen Wandel, der durch Ausweitung von Scham und dadurch zunehmende gesellschaftliche Ablehnung des Kaufs von Sex passieren soll.
Kriminalisierung/Auswirkungen und Kritik:
Gerade Scham und mehr Repression führen aber eben nicht zu einem Rückgang von Gewalt, sondern vor allem dazu, dass Betroffene erst recht nicht mehr über diese Erfahrungen sprechen könn(t)en und Sex gegen Bezahlung vermehrt im Verborgenen ablaufen würde.
Aussagen, dass Menschenhandel durch das Prostitutionsgesetz befördert worden seien, haben bisher keine in Daten abgebildete faktische Basis. Mehr zu Menschenhandel:
Das könnte ich nun noch eine Weile fortführen, belasse es aber erst einmal dabei.
Was wirklich helfen würde:
Nach meiner Auffassung neben einer wie von mir oben geforderten differenzierten Betrachtung: Über Bedarfe mit Betroffenen zu reden und dementsprechend solidarisch zu handeln. Auch hier gilt: „Nicht über uns ohne uns.“
Studie der Aidshilfe zu gesundheitlichen Bedarfen von Sexarbeitenden:
„‚Sexarbeitsfeindlichkeit, Rassismus und Transmisogynie führen zu Gewalt gegen Sexarbeiter*innen, ganz besonders gegen trans weibliche Sexarbeiter*innen. Wir möchten mit Respekt behandelt werden. Wir sind normale Menschen, keine Monster. Ausgrenzung und Isolierung haben eine negative Auswirkung auf die Gesundheit von Sexarbeiter*innen. Durch Projekte von und für Sexarbeiter*innen und akzeptierende Arbeit kann die Gesundheit in unserer Community gefördert werden.‘“
Darüber hinaus wird ein längst erschienener Aufsatz des Philosophen und Psychoanalytikers Rudolf Heinz, „Was ist Patho-Gnostik?„, nun online zur Verfügung gestellt.
Und erneut hervorgehoben werden sollen eine sprachphilosophische und eine praktisch konstruktive Arbeit des Begründers der Koreanistik in Deutschland, Andre Eckardt, seine „Philosophie der Schrift“ und seine Sinnschrift SAFO.
Obendrein gibt es noch einen – zugegeben längst überfälligen! – Literaturtipp, „Das Bewusstsein der Maschinen – die Mechanik des Bewusstseins“ — „Mit Gotthard Günther über die Zukunft menschlicher und künstlicher Intelligenz nachdenken“ von Werner Vogd und Jonathan Harth.
Abschließend wird – in eigener Sache – auf einen neuen Video-Podcast „Bildung – Digitalisierung – Zukunft“ verwiesen.
Xu untersucht in ihrer Arbeit internationale sowie deutsche kollektive Stellungnahmen, Vereinbarungen, Gesetzgebungsprozesse und Studien und darüber hinaus einschlägige Statements einzelner Autoren aus dem Jahr 2023 aus dem Diskurs um generative KI-Systeme und belegt – so der Kommentar auf dem Server der Universität -, dass innerhalb der Debatten für ethische Fragestellungen vorwiegend die Outputs der KI-Generatoren betrachtet werden. Insofern ist ihre Arbeit auch ein dringendes Plädoyer dafür, die „Voraussetzungen generativer KI-Systeme“ ebenfalls ethisch zu reflektieren und stellt daher eine unbedingt hervorzuhebende Bereicherung des aktuellen Diskurses um generative KI dar.
Dadurch, dass in der Arbeit auch Quellen abseits der allgemeinen Trends und der Mainstream-Debatte um KI ausführlich berücksichtigt werden – pars pro toto hervorgehoben werden können hier die Publikationen des Autorenduos Jobst Landgrebe und Barry Smith -, bereichert sie über die ethischen Fragestellungen hinaus auch technikphilosophische Diskurse sowie die Kritik von Trans- und Posthumanismus.
Dabei benennt die Autorin mögliche Fallstricke und Stolpersteine für den offenen Diskurs, sie weist auf eine „Ethik unter Zeitdruck“ hin und warnt vor
„der Gefahr einer zweifach verengten Perspektive: Zum einen dadurch, dass Elemente der transhumanistischen Ideologie quasi ontologisiert Eingang finden, zum anderen, dass ökonomisch motivierte Argumente die Debatte einhegen und Kritik oder Aufklärung bezüglich der Voraussetzungen generativer KI nur insoweit zulassen, als sie das „Geschäft“ mit ihr nicht in Frage stellen. Über die „Zukunftsversprechen“, die einen wesentlichen Teil des KI-Marketings ausmachen, [seien] „diese beiden perspektivischen Verengungen, in welche die Debatte unter Zeitdruck hineingetrieben wird, auch thematisch miteinander verknüpft“,
so Melanie Xu auf Seite 19f ihrer Arbeit. Dies kann nur mit den Attributen „schlüssig und lesenswert“ unterschrieben werden.
Rudolf Heinz, dessen am 23.11.2019 im Correctiv-Buchladen in Essen gehaltener Vortrag „Eindüsterungen zum Identitätsproblem, pathophilosophisch“ hier als Kurzzusammenfassung mit Videolink bereitgestellt wurde, liefert in einem 1984 erstmals als gedruckte Version publizierten Aufsatz „Was ist Patho-Gnostik?“ einen tieferen Einblick in Motivation und Entstehungsgeschichte seines psychoanalytischen Denk- und Lehransatzes.
Ein Problem im universitären Raum bestand zunächst in der Frage, wie sich Psychoanalyse an interessierte Studierende vermitteln lässt, ohne dabei auf einschlägige klinische Verfahren zurückzugreifen. Bei der „gruppenmäßig betriebenen Anwendung von Psychoanalyse auf Kunst und Kunstähliches wie z.B. Märchen oder Mythen“ wurde festgestellt, dass „die dabei immer virulente Idee einer Sachvermittlung von Psychischem und gesellschaftlicher Objektivität als Inbegriff der Kritik des psychoanalytischen Subjektivismus“ für die Teilnehmenden recht überraschend einer möglichen Realisierung zutrieb.
Die Folge war ein langwieriger Umorientierungsweg vermittels einer erneuten Lektüre der Freudschen Todestriebtheorie sowie die Beschäftigung mit „psychiatrienahen extremeren Psychoanalyseversionen“. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Melanie Klein und Heinz Kohuts Narzissmustheorie anzuführen. Eine Schlüsselrolle kommt der Rezeption der Psychoanalyse-Philosophie Jacques Lacans zu. Wie Heinz bemerkt, führte dies leider zur „Mißliebigkeit eines Selbstausschlusses aus der herkömmlichen Psychoanalyse“.
Zur Lektüre von Rudolf Heinz Texten sei hier noch angemerkt, dass Heinz gebürtiger Saarländer ist, der auf Deutsch schreibt aber häufig in französischen Satzstrukturen denkt. Dieser Hinweis mag sich als Hilfe für alle LeserInnen erweisen.
Andre Eckardt ist als Autor von zwei Beiträgen seit 2011 hier vertreten, zum einen steht seine Philosophie der Schrift online zur Verfügung sowie die von Eckardt entwickelte Sinnschrift SAFO. Ein Fehler in Dateizuordnungen führte dazu, dass sein Nachlassverwalter PD Dr. Albrecht Huwe sich meldete und im Zuge der Korrektur seine Zustimmung zur Bereitstellung von Eckardts Werken noch einmal ausdrücklich erneuerte. Im gebührt ein ganz herzlicher Dank dafür!
Aus diesem Anlass weisen wir erneut auf das Werk des Begründers der Koreanistik in Deutschland hin. Wer sich wie Eberhard von Goldammer mit den Arbeiten des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz und insbesondere mit seinem Anspruch ein universelles Zeichensystem (characteristica universalis), eine Universalschrift konstruieren zu wollen beschäftigt, der Beitrag titelt mit „Leibniz … reloaded oder UniversalSCHRIFTsprache — Vision oder Illusion?„, der stößt fast zwangsläufig auch auf die Arbeiten von Andre Eckardt.
Was Eckardt auszeichnet, ist seine physische – er lebte lange Zeit vor Ort in Korea – und mentale Selbstpositionierung an den Berührungsstellen zwischen Ost und West, zwischen Ideogramm und Alphabet, von denen aus er seine Philosophie der Schrift entwickelt. Ideographische Schriften können – beim Lesen – in einem gewissen Sinn als Abstraktionen des Sehens verstanden werden, alphabetische als Abstraktionen des Hörens, bzw. Transformationen von Gehörtem in Sichtbares. Daraus folgt unmittelbar, dass z.B. Chinesen anders „ticken“ als z.B. Europäer. Aber beiden Arten der graphischen Darstellung durch Zeichensysteme muss einerseits ein Mehr, andererseits auch ein Weniger gegenüber der gesprochenen Sprache zugestanden werden, oder wie von Goldammer es verkürzt ausdrückte:
Schrift ist häufig mehr als nur verschriftlichte Sprache und umgekehrt ist Sprache unter Berücksichtigung von Betonungen, Mimik usw. ebenfalls mehr als ihre einfache Verschriftlichung.
Dieser Widerspruch – wie kann beides jeweils mehr als das andere sein? – erweist sich als monokontextural. Er löst sich unmittelbar auf, wenn mehrere Kontexturen zugrunde gelegt werden.
Eckardt jedenfalls, die koreanischen Schriftenschöpfer (Hangul) vor Augen und den Wunsch nach Völkerverständigung im Herzen, entwickelt eine eigene Symbolschrift, die er Sa = Sinn, Fo = Schrift, SAFO = Sinnschrift nannte in der Hoffnung, dass sie sich sowohl für Asiaten als auch Europäer als praktikabel erweise. Und seine Philosophie der Schrift kann auch, dialektisch wohlgemerkt, als Gegenthese zu Marshall McLuhans in den magischen Kanälen geäußerte Auffassung [*] von den gleichschaltenden Momenten alphabetischer und den trennenden ideographischer Schriftsysteme gelesen werden.
Werner Vogd und Jonathan Harth veröffentlichten bereits im Oktober 2023 im Velbrück Verlag ihr Werk „Das Bewusstsein der Maschinen – die Mechanik des Bewusstseins“ mit dem Untertitel „Mit Gotthard Günther über die Zukunft menschlicher und künstlicher Intelligenz nachdenken“.
Leider kann erst jetzt darauf Bezug genommen werden. Eine diesem 400-Seiten-Werk gerecht werdende Würdigung muss zwangsläufig die Ausmaße eines umfangreicheren Essays annehmen. Dazu gab es – leider – vielfältigen, teilweise recht unangenehmen Umständen geschuldet auch nach längerem Hin und Her kein passendes Zeitfenster.
Gleichwohl, das Werk stellt einen höchst wertvollen Beitrag dar nicht nur zu den Diskursen zu dem, was gemeinhin künstliche Intelligenz genannt wird, sondern auch zu Technikphilosophie ganz allgemein. Dort ist man sich nämlich immer noch nicht einig, ob der Kybernetik-Philosoph Günther da überhaupt einen Platz hat oder haben soll. Die Monographie „Technikanthropologie“ (Hg. Martina Heßler, Kevin Liggieri, Nomos, Baden-Baden 2020) beschäftigt sich in mehreren Beiträgen mit dem Philosophen, das „Handbuch Technikphilosophie“ (Hg. Mathias Gutmann, Klaus Wiegerling, Benjamin Rathgeber, J.B. Metzler, Stuttgart 2024) erwähnt ihn nicht ein einziges Mal im Gegensatz zu einigen Autoren, die selbst Günther ausgiebig zitiert haben. Für ein Werk mit dem Anspruch eines Nachschlagewerks wirkt das zumindest irritierend.
Das Werk von Vogd und Harth ist – sehr erfreulich – zudem eine Open-Access-Publikation in der Nomos eLibrary und kann dort als ebook heruntergeladen werden. Die Print-Ausgabe kostet 49,90 €.
Wer der im Untertitel ausgesprochenen Einladung folgt, den erwartet ein Werk, in dem die Autoren nicht der kommerziellen Versuchung erliegen, auf Fragen (einfache) Antworten zu geben, ihr Verdienst besteht vielmehr darin, wissenschaftlich und philosophisch Fragen zu präzisieren und deren Konnotationsräume anzureichern, gedankliche Seitenlinien scharf zu machen, etc. Ich persönlich habe an einigen Stellen Einwände und Anmerkungen. Das ist gut so und erhöht den persönlichen Wert des Werkes für mich.
Im Grunde liegt ein im besten Sinne transdisziplinärer Forschungsleitfaden vor, der gleichermaßen Widerspruch und Zustimmung provoziert und der einerseits weit in das Informationstechnologisch-Maschinelle hineinreicht, andererseits aber nicht im Positivistisch-Instrumentellen verweilt oder gar hängen bleibt – wie aktuell das Gros der Publikationen zu KI, sondern der immer wieder, in jedem Kapitel, implizit und gelegentlich auch explizit die Kantsche Kernfrage „Was ist der Mensch?“ offensiv stellt.
Auch um einen kurzen Eindruck von Sprachstil und – melodie zu vermitteln, soll hier das Werk in zwei etwas längeren Zitaten für sich sprechen:
Eine der wesentlichen Errungenschaften der Kybernetik besteht darin, anzuerkennen, dass unsere Welt unvorstellbar komplex ist und die Möglichkeiten, Daten zu Zusammenhängen zu verknüpfen, also Information zu erzeugen, um ein Vielfaches größer sind als die gesamte Anzahl der Elementarteilchen im Universum. Dies führt zu dem Befund, dass kognitive Systeme (wie zum Beispiel menschliche Lebewesen) keine andere Wahl haben, als sich ihre eigene Welt zu schaffen, um hierdurch Orientierung zu gewinnen. Subjektivität bedeutet in diesem Sinne immer auch, mit Nichtwissen in einer produktiven Weise umgehen zu können, also sich eine Existenz aufzubauen, indem grobkörnig – das heißt mit selektiver Blindheit – auf die Welt geschaut wird. [Vogd, Harth, S. 18]
Nicht nur dieser Absatz lässt sich unmittelbar zu Gotthard Günthers Essay „Erkennen und Wollen“ in Beziehung setzen. Subjektivität bedeutet immer auch, Teil eines größeren Ganzen zu sein, das nicht vollständig erfasst werden kann. Nichtwissen ist daher – hier erfrischend positiv gewendet – notwendige Bedingung für die Konstruktion von Welt.
Wer demgegenüber eine monokontexturale Erkenntnistheorie pflegt, wird andere Wesen weder als Subjekte noch als inhärenten Bestandteil des eigenen Beziehungsgewebes verstehen können. Er oder sie wird andere Wesen tendenziell als befremdlich, gefährlich oder zumindest störend empfinden und damit einer Entfremdung Vorschub leisten, die die eigenen Freiheitsgrade und letztlich auch die eigene Subjektivität unterminiert. Denn wer Tiere, Pflanzen, Kinder, Partnerinnen, Kollegen oder kybernetische Maschinen überwiegend instrumentell begreift, wird dazu neigen, auch sich selbst – also seinen eigenen Leib und seine eigene Psyche – als einen zu optimierenden Mechanismus aufzufassen. Unweigerlich wird damit all das, was aus dem Bereich der eigenen Subjektivität in den Bereich des Objektiven entäußert werden kann, der Manipulation ausgeliefert werden: der trainierbare und chirurgisch gestaltbare Körper, die Neurochemie, die Expression der Gene, die optimierbaren Aspekte der Psyche, die seelischen Aspekte, die dem Zugriff einer vermeintlich positiven Psychologie zugänglich sind, etc.
Wenn sich das eigene Selbstverhältnis immer weniger von etwas berühren lässt, was sich der Positivität der eigenen Weltobjektivierung entzieht, dann wird das seelische Leben über kurz oder lang flach werden. Es gibt keinen Raum des Negativen, des Unverfügbaren mehr, aus dem heraus das Selbst berührt und transzendiert werden könnte. Das Subjektive – und damit verbunden die Möglichkeit des Empfindens von Freiheit – wird an den äußersten Rand verdrängt. Die Sehnsucht nach Lebendigkeit – also nach dem Risiko des Lebens – mag zwar fortbestehen, wird jedoch unter den Skripten der Optimierung und Rationalisierung des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses kaum mehr einen eigenständigen Ausdruck finden. [Vogd, Harth, S. 358]
Hier wird die Konsequenz eine mehr oder weniger rein instrumentellen Sicht auf Welt schonungslos aufgezeigt, sie schlägt zurück auf Physis und Psyche des Subjekts. Bemerkenswert ist der Charakter einer Gegenrede zu technologieeuphorischen Positionen, so wie wir sie von Apologeten der Silicon Valley-Ideologie kennen, der jedoch ebenso kulturpessimistischen oder gar maschinenstürmerischen Tendenzen widersteht, eben durch Einbeziehung der kybernetischen Maschinen, also der Konstruktionen des Menschen in die Gegenwehr zum „überwiegend instrumentellen“ Begreifen. Eine Subjektivierung des Maschinellen ist das deshalb noch lange nicht. Es geht um die Ausgestaltung der Beziehungen zur Welt und ihren lebenden und nicht-lebenden Teilen. Der Schlusssatz der Verlagsbeschreibung bringt den Anspruch des Werkes verdichtet zum Ausdruck:
So lässt sich schließlich zeigen, wie künstliche Intelligenzen Aufschluss darüber geben können, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Thomas Hickfang, u.v.a. Teamkoordinator für das Medienpädagogische Zentrum Leipzig, Thomas Rudel, Leiter des Kommunalen Medienzentrums des Kreises Tübingen und ich, Joachim Paul, haben uns entschlossen, regelmäßig, monatlich, bzw. wenn unsere Zeit es zulässt, mehr oder weniger Weltbewegendes unter dem Titel Bildung – Digitalisierung – Zukunft zu diskutieren. Sie sind alle herzlich eingeladen, in den Vodcast-Kanal auf youtube reinzuschauen. Aktuell sind bereits drei Folgen online unter https://www.youtube.com/@Bild_Digit_Zukunft
Mit [trotzdem] besten Grüßen, Ihr Nick H. aka Joachim Paul (Hg.)
Darüber hinaus wird ein längst erschienener Aufsatz des Philosophen und Psychoanalytikers Rudolf Heinz, „Was ist Patho-Gnostik?„, nun online zur Verfügung gestellt.
Und erneut hervorgehoben werden sollen eine sprachphilosophische und eine praktisch konstruktive Arbeit des Begründers der Koreanistik in Deutschland, Andre Eckardt, seine „Philosophie der Schrift“ und seine Sinnschrift SAFO.
Obendrein gibt es noch einen – zugegeben längst überfälligen! – Literaturtipp, „Das Bewusstsein der Maschinen – die Mechanik des Bewusstseins“ — „Mit Gotthard Günther über die Zukunft menschlicher und künstlicher Intelligenz nachdenken“ von Werner Vogd und Jonathan Harth.
Abschließend wird – in eigener Sache – auf einen neuen Video-Podcast „Bildung – Digitalisierung – Zukunft“ verwiesen.
Xu untersucht in ihrer Arbeit internationale sowie deutsche kollektive Stellungnahmen, Vereinbarungen, Gesetzgebungsprozesse und Studien und darüber hinaus einschlägige Statements einzelner Autoren aus dem Jahr 2023 aus dem Diskurs um generative KI-Systeme und belegt – so der Kommentar auf dem Server der Universität -, dass innerhalb der Debatten für ethische Fragestellungen vorwiegend die Outputs der KI-Generatoren betrachtet werden. Insofern ist ihre Arbeit auch ein dringendes Plädoyer dafür, die „Voraussetzungen generativer KI-Systeme“ ebenfalls ethisch zu reflektieren und stellt daher eine unbedingt hervorzuhebende Bereicherung des aktuellen Diskurses um generative KI dar.
Dadurch, dass in der Arbeit auch Quellen abseits der allgemeinen Trends und der Mainstream-Debatte um KI ausführlich berücksichtigt werden – pars pro toto hervorgehoben werden können hier die Publikationen des Autorenduos Jobst Landgrebe und Barry Smith -, bereichert sie über die ethischen Fragestellungen hinaus auch technikphilosophische Diskurse sowie die Kritik von Trans- und Posthumanismus.
Dabei benennt die Autorin mögliche Fallstricke und Stolpersteine für den offenen Diskurs, sie weist auf eine „Ethik unter Zeitdruck“ hin und warnt vor
„der Gefahr einer zweifach verengten Perspektive: Zum einen dadurch, dass Elemente der transhumanistischen Ideologie quasi ontologisiert Eingang finden, zum anderen, dass ökonomisch motivierte Argumente die Debatte einhegen und Kritik oder Aufklärung bezüglich der Voraussetzungen generativer KI nur insoweit zulassen, als sie das „Geschäft“ mit ihr nicht in Frage stellen. Über die „Zukunftsversprechen“, die einen wesentlichen Teil des KI-Marketings ausmachen, [seien] „diese beiden perspektivischen Verengungen, in welche die Debatte unter Zeitdruck hineingetrieben wird, auch thematisch miteinander verknüpft“,
so Melanie Xu auf Seite 19f ihrer Arbeit. Dies kann nur mit den Attributen „schlüssig und lesenswert“ unterschrieben werden.
Rudolf Heinz, dessen am 23.11.2019 im Correctiv-Buchladen in Essen gehaltener Vortrag „Eindüsterungen zum Identitätsproblem, pathophilosophisch“ hier als Kurzzusammenfassung mit Videolink bereitgestellt wurde, liefert in einem 1984 erstmals als gedruckte Version publizierten Aufsatz „Was ist Patho-Gnostik?“ einen tieferen Einblick in Motivation und Entstehungsgeschichte seines psychoanalytischen Denk- und Lehransatzes.
Ein Problem im universitären Raum bestand zunächst in der Frage, wie sich Psychoanalyse an interessierte Studierende vermitteln lässt, ohne dabei auf einschlägige klinische Verfahren zurückzugreifen. Bei der „gruppenmäßig betriebenen Anwendung von Psychoanalyse auf Kunst und Kunstähliches wie z.B. Märchen oder Mythen“ wurde festgestellt, dass „die dabei immer virulente Idee einer Sachvermittlung von Psychischem und gesellschaftlicher Objektivität als Inbegriff der Kritik des psychoanalytischen Subjektivismus“ für die Teilnehmenden recht überraschend einer möglichen Realisierung zutrieb.
Die Folge war ein langwieriger Umorientierungsweg vermittels einer erneuten Lektüre der Freudschen Todestriebtheorie sowie die Beschäftigung mit „psychiatrienahen extremeren Psychoanalyseversionen“. Hier sind insbesondere die Arbeiten von Melanie Klein und Heinz Kohuts Narzissmustheorie anzuführen. Eine Schlüsselrolle kommt der Rezeption der Psychoanalyse-Philosophie Jacques Lacans zu. Wie Heinz bemerkt, führte dies leider zur „Mißliebigkeit eines Selbstausschlusses aus der herkömmlichen Psychoanalyse“.
Zur Lektüre von Rudolf Heinz Texten sei hier noch angemerkt, dass Heinz gebürtiger Saarländer ist, der auf Deutsch schreibt aber häufig in französischen Satzstrukturen denkt. Dieser Hinweis mag sich als Hilfe für alle LeserInnen erweisen.
Andre Eckardt ist als Autor von zwei Beiträgen seit 2011 hier vertreten, zum einen steht seine Philosophie der Schrift online zur Verfügung sowie die von Eckardt entwickelte Sinnschrift SAFO. Ein Fehler in Dateizuordnungen führte dazu, dass sein Nachlassverwalter PD Dr. Albrecht Huwe sich meldete und im Zuge der Korrektur seine Zustimmung zur Bereitstellung von Eckardts Werken noch einmal ausdrücklich erneuerte. Im gebührt ein ganz herzlicher Dank dafür!
Aus diesem Anlass weisen wir erneut auf das Werk des Begründers der Koreanistik in Deutschland hin. Wer sich wie Eberhard von Goldammer mit den Arbeiten des Universalgelehrten Gottfried Wilhelm Leibniz und insbesondere mit seinem Anspruch ein universelles Zeichensystem (characteristica universalis), eine Universalschrift konstruieren zu wollen beschäftigt, der Beitrag titelt mit „Leibniz … reloaded oder UniversalSCHRIFTsprache — Vision oder Illusion?„, der stößt fast zwangsläufig auch auf die Arbeiten von Andre Eckardt.
Was Eckardt auszeichnet, ist seine physische – er lebte lange Zeit vor Ort in Korea – und mentale Selbstpositionierung an den Berührungsstellen zwischen Ost und West, zwischen Ideogramm und Alphabet, von denen aus er seine Philosophie der Schrift entwickelt. Ideographische Schriften können – beim Lesen – in einem gewissen Sinn als Abstraktionen des Sehens verstanden werden, alphabetische als Abstraktionen des Hörens, bzw. Transformationen von Gehörtem in Sichtbares. Daraus folgt unmittelbar, dass z.B. Chinesen anders „ticken“ als z.B. Europäer. Aber beiden Arten der graphischen Darstellung durch Zeichensysteme muss einerseits ein Mehr, andererseits auch ein Weniger gegenüber der gesprochenen Sprache zugestanden werden, oder wie von Goldammer es verkürzt ausdrückte:
Schrift ist häufig mehr als nur verschriftlichte Sprache und umgekehrt ist Sprache unter Berücksichtigung von Betonungen, Mimik usw. ebenfalls mehr als ihre einfache Verschriftlichung.
Dieser Widerspruch – wie kann beides jeweils mehr als das andere sein? – erweist sich als monokontextural. Er löst sich unmittelbar auf, wenn mehrere Kontexturen zugrunde gelegt werden.
Eckardt jedenfalls, die koreanischen Schriftenschöpfer (Hangul) vor Augen und den Wunsch nach Völkerverständigung im Herzen, entwickelt eine eigene Symbolschrift, die er Sa = Sinn, Fo = Schrift, SAFO = Sinnschrift nannte in der Hoffnung, dass sie sich sowohl für Asiaten als auch Europäer als praktikabel erweise. Und seine Philosophie der Schrift kann auch, dialektisch wohlgemerkt, als Gegenthese zu Marshall McLuhans in den magischen Kanälen geäußerte Auffassung [*] von den gleichschaltenden Momenten alphabetischer und den trennenden ideographischer Schriftsysteme gelesen werden.
Werner Vogd und Jonathan Harth veröffentlichten bereits im Oktober 2023 im Velbrück Verlag ihr Werk „Das Bewusstsein der Maschinen – die Mechanik des Bewusstseins“ mit dem Untertitel „Mit Gotthard Günther über die Zukunft menschlicher und künstlicher Intelligenz nachdenken“.
Leider kann erst jetzt darauf Bezug genommen werden. Eine diesem 400-Seiten-Werk gerecht werdende Würdigung muss zwangsläufig die Ausmaße eines umfangreicheren Essays annehmen. Dazu gab es – leider – vielfältigen, teilweise recht unangenehmen Umständen geschuldet auch nach längerem Hin und Her kein passendes Zeitfenster.
Gleichwohl, das Werk stellt einen höchst wertvollen Beitrag dar nicht nur zu den Diskursen zu dem, was gemeinhin künstliche Intelligenz genannt wird, sondern auch zu Technikphilosophie ganz allgemein. Dort ist man sich nämlich immer noch nicht einig, ob der Kybernetik-Philosoph Günther da überhaupt einen Platz hat oder haben soll. Die Monographie „Technikanthropologie“ (Hg. Martina Heßler, Kevin Liggieri, Nomos, Baden-Baden 2020) beschäftigt sich in mehreren Beiträgen mit dem Philosophen, das „Handbuch Technikphilosophie“ (Hg. Mathias Gutmann, Klaus Wiegerling, Benjamin Rathgeber, J.B. Metzler, Stuttgart 2024) erwähnt ihn nicht ein einziges Mal im Gegensatz zu einigen Autoren, die selbst Günther ausgiebig zitiert haben. Für ein Werk mit dem Anspruch eines Nachschlagewerks wirkt das zumindest irritierend.
Das Werk von Vogd und Harth ist – sehr erfreulich – zudem eine Open-Access-Publikation in der Nomos eLibrary und kann dort als ebook heruntergeladen werden. Die Print-Ausgabe kostet 49,90 €.
Wer der im Untertitel ausgesprochenen Einladung folgt, den erwartet ein Werk, in dem die Autoren nicht der kommerziellen Versuchung erliegen, auf Fragen (einfache) Antworten zu geben, ihr Verdienst besteht vielmehr darin, wissenschaftlich und philosophisch Fragen zu präzisieren und deren Konnotationsräume anzureichern, gedankliche Seitenlinien scharf zu machen, etc. Ich persönlich habe an einigen Stellen Einwände und Anmerkungen. Das ist gut so und erhöht den persönlichen Wert des Werkes für mich.
Im Grunde liegt ein im besten Sinne transdisziplinärer Forschungsleitfaden vor, der gleichermaßen Widerspruch und Zustimmung provoziert und der einerseits weit in das Informationstechnologisch-Maschinelle hineinreicht, andererseits aber nicht im Positivistisch-Instrumentellen verweilt oder gar hängen bleibt – wie aktuell das Gros der Publikationen zu KI, sondern der immer wieder, in jedem Kapitel, implizit und gelegentlich auch explizit die Kantsche Kernfrage „Was ist der Mensch?“ offensiv stellt.
Auch um einen kurzen Eindruck von Sprachstil und – melodie zu vermitteln, soll hier das Werk in zwei etwas längeren Zitaten für sich sprechen:
Eine der wesentlichen Errungenschaften der Kybernetik besteht darin, anzuerkennen, dass unsere Welt unvorstellbar komplex ist und die Möglichkeiten, Daten zu Zusammenhängen zu verknüpfen, also Information zu erzeugen, um ein Vielfaches größer sind als die gesamte Anzahl der Elementarteilchen im Universum. Dies führt zu dem Befund, dass kognitive Systeme (wie zum Beispiel menschliche Lebewesen) keine andere Wahl haben, als sich ihre eigene Welt zu schaffen, um hierdurch Orientierung zu gewinnen. Subjektivität bedeutet in diesem Sinne immer auch, mit Nichtwissen in einer produktiven Weise umgehen zu können, also sich eine Existenz aufzubauen, indem grobkörnig – das heißt mit selektiver Blindheit – auf die Welt geschaut wird. [Vogd, Harth, S. 18]
Nicht nur dieser Absatz lässt sich unmittelbar zu Gotthard Günthers Essay „Erkennen und Wollen“ in Beziehung setzen. Subjektivität bedeutet immer auch, Teil eines größeren Ganzen zu sein, das nicht vollständig erfasst werden kann. Nichtwissen ist daher – hier erfrischend positiv gewendet – notwendige Bedingung für die Konstruktion von Welt.
Wer demgegenüber eine monokontexturale Erkenntnistheorie pflegt, wird andere Wesen weder als Subjekte noch als inhärenten Bestandteil des eigenen Beziehungsgewebes verstehen können. Er oder sie wird andere Wesen tendenziell als befremdlich, gefährlich oder zumindest störend empfinden und damit einer Entfremdung Vorschub leisten, die die eigenen Freiheitsgrade und letztlich auch die eigene Subjektivität unterminiert. Denn wer Tiere, Pflanzen, Kinder, Partnerinnen, Kollegen oder kybernetische Maschinen überwiegend instrumentell begreift, wird dazu neigen, auch sich selbst – also seinen eigenen Leib und seine eigene Psyche – als einen zu optimierenden Mechanismus aufzufassen. Unweigerlich wird damit all das, was aus dem Bereich der eigenen Subjektivität in den Bereich des Objektiven entäußert werden kann, der Manipulation ausgeliefert werden: der trainierbare und chirurgisch gestaltbare Körper, die Neurochemie, die Expression der Gene, die optimierbaren Aspekte der Psyche, die seelischen Aspekte, die dem Zugriff einer vermeintlich positiven Psychologie zugänglich sind, etc.
Wenn sich das eigene Selbstverhältnis immer weniger von etwas berühren lässt, was sich der Positivität der eigenen Weltobjektivierung entzieht, dann wird das seelische Leben über kurz oder lang flach werden. Es gibt keinen Raum des Negativen, des Unverfügbaren mehr, aus dem heraus das Selbst berührt und transzendiert werden könnte. Das Subjektive – und damit verbunden die Möglichkeit des Empfindens von Freiheit – wird an den äußersten Rand verdrängt. Die Sehnsucht nach Lebendigkeit – also nach dem Risiko des Lebens – mag zwar fortbestehen, wird jedoch unter den Skripten der Optimierung und Rationalisierung des eigenen Selbst- und Weltverhältnisses kaum mehr einen eigenständigen Ausdruck finden. [Vogd, Harth, S. 358]
Hier wird die Konsequenz eine mehr oder weniger rein instrumentellen Sicht auf Welt schonungslos aufgezeigt, sie schlägt zurück auf Physis und Psyche des Subjekts. Bemerkenswert ist der Charakter einer Gegenrede zu technologieeuphorischen Positionen, so wie wir sie von Apologeten der Silicon Valley-Ideologie kennen, der jedoch ebenso kulturpessimistischen oder gar maschinenstürmerischen Tendenzen widersteht, eben durch Einbeziehung der kybernetischen Maschinen, also der Konstruktionen des Menschen in die Gegenwehr zum „überwiegend instrumentellen“ Begreifen. Eine Subjektivierung des Maschinellen ist das deshalb noch lange nicht. Es geht um die Ausgestaltung der Beziehungen zur Welt und ihren lebenden und nicht-lebenden Teilen. Der Schlusssatz der Verlagsbeschreibung bringt den Anspruch des Werkes verdichtet zum Ausdruck:
So lässt sich schließlich zeigen, wie künstliche Intelligenzen Aufschluss darüber geben können, was es heißt, ein Mensch zu sein.
Thomas Hickfang, u.v.a. Teamkoordinator für das Medienpädagogische Zentrum Leipzig, Thomas Rudel, Leiter des Kommunalen Medienzentrums des Kreises Tübingen und ich, Joachim Paul, haben uns entschlossen, regelmäßig, monatlich, bzw. wenn unsere Zeit es zulässt, mehr oder weniger Weltbewegendes unter dem Titel Bildung – Digitalisierung – Zukunft zu diskutieren. Sie sind alle herzlich eingeladen, in den Vodcast-Kanal auf youtube reinzuschauen. Aktuell sind bereits drei Folgen online unter https://www.youtube.com/@Bild_Digit_Zukunft
Mit [trotzdem] besten Grüßen, Ihr Nick H. aka Joachim Paul (Hg.)
Isaac Asimovs Science Fiction-Band „I, Robot“ erschien 1950 und versammelte Roboter-Erzählungen des Autors aus den Jahren 1940 bis 1950. Eine deutsche Ausgabe – als vierter Band von Rauchs Weltraumbüchern – erschien 1952 im Carl Rauch Verlag, Düsseldorf, versehen mit einem Vorwort und einem philosophischen Kommentar des Herausgebers Gotthard Günther, betitelt mit „Die „zweite“ Maschine„.
Der historisch bedingte Aspekt kann nun neu aufgezogen werden,
da Zeit vergangen ist. Aus anderen Zeiten folgen andere Bühnen, Stücke, Spieler, Kostüme, Kulissen, Requisiten, Regie … Nach Baudelaire verzeitigt sich die unvermeidliche Doppelstellung der Kulturproduktion – zwischen Ewigkeitsbindung und aktuellem Zeitkontakt, beides determiniert das Produkt.
In „tribute“ von Claus Baldus vollziehen sich zehn Robot-Auftritte. Nummer 10 kann als Überbau und abstrakte Reflexion zur alltäglichen Wirkung der “Übertragung“ interpretiert werden, ohne die Kommunikation und intersubjektive Beziehungen unmöglich sind. Dieser Freudsche Begriff war im Verlauf von Jahrzehnten auf jedwede Alltagspraxen zu erweitern.
Der Typbegriff „Minutenstück“, so Baldus, ist im Besonderen angeregt von der Minutensymphonik der Wiener Moderne (Schönberg …) jedoch auch generell von minimalistischen Konzepten.
Praktikant’innen sind Spieler‘innen im Alltag, ganz besonders Anfänger und – in Krisen – Neuanfänger, unabhängig von der jeweiligen Altersetappe.
Für die Graffiti-Kunst gilt, dass sie schnell zu produzieren ist – um der Polizei zu entgehen. Sie muss daher einfach und großzügig sein, etwas auf den Punkt bringen mit nicht zu vielen Details. Graffitis haben oft kritische und provokative Absichten, so etwa gegen Immobilienspekulation, wie es Bilder am temporären Ersatzbau zum Markt Sant Antoni in Barcelona zeigten. Ebenso lassen sich Freilegungen von narzisstischen Identifikationen finden, Wunschvorstellungen, Triebkomplexen, auch solchen, die Gesellschaft wie individuelles Dasein ganz gerne unter Deckstruktur stellen …
„tribute“ enthält 10 Stücke mit einem Vortext, der nicht den Anspruch erhebt, Einleitung im traditionellen Sinn zu sein, sowie einem detaillierten Impressum. Die Text-Bild-Bezüge sind nicht determiniert, sondern frei gestellt, womit den individuellen Assoziationen (Spiel-)Räume gegeben sind. Das bereits hier erschienene „Gestolpert“ ist einen Vorab-Auszug der „tribute“.
Bontrup ist ein Wirtschaftswissenschaftler, der für seine Zunft den Anspruch einer Trias der Denkmethoden erhebt, kausal – holistisch – dialektisch. So hat die Volkswirtschaftslehre immer auch Soziologie, Politikwissenschaft sowie der philosophischen Erörterung/Debatte fähig zu sein, sonst verbleibt sie als unvollständige, rein technische Disziplin, ihr Denken verkümmert im Fragmentarischen, das jedwedem ideologischen Missbrauch Tür und Tor öffnet, wie die sogenannte Neoklassik in den letzten Jahrzehnten hinreichend belegt hat.
„So, wie es ein Marktversagen in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnungen gibt, so gibt es auch ein vielfältiges Staats- und Politikversagen in parlamentarischen Demokratien.“ (H.-J. Bontrup)
Er schält die Fehlstellungen und Konstruktions-Bugs unserer repräsentativen Demokratien deutlich heraus und begründet, warum diese ganz zwangsäufig dazu führen, dass Politik sich vielfach auf Symptombekämpfung reduziert. Er fordert nicht nur eine direkte Demokratie anstatt einer „Zuschauerdemokratie“, seine Überlegungen und Argumente zielen letztlich auf eine Wirtschaftsdemokratie.
Eberhard von Goldammer, Biophysiker und Kybernetiker, verstarb am 27. Mai 2024. Ein Nachrufwurde bereits veröffentlicht. Seine Bibliographiewird sofern möglich auch weiterhin fortlaufend ergänzt. So hielt Eberhard von Goldammer am 23. Mai 2015 einen Vortrag mit dem Titel „Anmerkungen zu André Gorz’ „Welches Wissen? Welche Gesellschaft?“ im Rahmen eines von der Piratenpartei NRW veranstalteten kleinen Kongesses „Ökonomie der Zukunft – Zukunft der Ökonomie“ im Theater im Depot in Dortmund. Der Vortrag steht nun als separates Video zur Verfügung und ebenso der zugehörige Foliensatz.
Bleiben Sie gelassen, herzlich, Ihr Joachim Paul (Hg.)
Isaac Asimovs Science Fiction-Band „I, Robot“ erschien 1950 und versammelte Roboter-Erzählungen des Autors aus den Jahren 1940 bis 1950. Eine deutsche Ausgabe – als vierter Band von Rauchs Weltraumbüchern – erschien 1952 im Carl Rauch Verlag, Düsseldorf, versehen mit einem Vorwort und einem philosophischen Kommentar des Herausgebers Gotthard Günther, betitelt mit „Die „zweite“ Maschine„.
Der historisch bedingte Aspekt kann nun neu aufgezogen werden,
da Zeit vergangen ist. Aus anderen Zeiten folgen andere Bühnen, Stücke, Spieler, Kostüme, Kulissen, Requisiten, Regie … Nach Baudelaire verzeitigt sich die unvermeidliche Doppelstellung der Kulturproduktion – zwischen Ewigkeitsbindung und aktuellem Zeitkontakt, beides determiniert das Produkt.
In „tribute“ von Claus Baldus vollziehen sich zehn Robot-Auftritte. Nummer 10 kann als Überbau und abstrakte Reflexion zur alltäglichen Wirkung der “Übertragung“ interpretiert werden, ohne die Kommunikation und intersubjektive Beziehungen unmöglich sind. Dieser Freudsche Begriff war im Verlauf von Jahrzehnten auf jedwede Alltagspraxen zu erweitern.
Der Typbegriff „Minutenstück“, so Baldus, ist im Besonderen angeregt von der Minutensymphonik der Wiener Moderne (Schönberg …) jedoch auch generell von minimalistischen Konzepten.
Praktikant’innen sind Spieler‘innen im Alltag, ganz besonders Anfänger und – in Krisen – Neuanfänger, unabhängig von der jeweiligen Altersetappe.
Für die Graffiti-Kunst gilt, dass sie schnell zu produzieren ist – um der Polizei zu entgehen. Sie muss daher einfach und großzügig sein, etwas auf den Punkt bringen mit nicht zu vielen Details. Graffitis haben oft kritische und provokative Absichten, so etwa gegen Immobilienspekulation, wie es Bilder am temporären Ersatzbau zum Markt Sant Antoni in Barcelona zeigten. Ebenso lassen sich Freilegungen von narzisstischen Identifikationen finden, Wunschvorstellungen, Triebkomplexen, auch solchen, die Gesellschaft wie individuelles Dasein ganz gerne unter Deckstruktur stellen …
„tribute“ enthält 10 Stücke mit einem Vortext, der nicht den Anspruch erhebt, Einleitung im traditionellen Sinn zu sein, sowie einem detaillierten Impressum. Die Text-Bild-Bezüge sind nicht determiniert, sondern frei gestellt, womit den individuellen Assoziationen (Spiel-)Räume gegeben sind. Das bereits hier erschienene „Gestolpert“ ist einen Vorab-Auszug der „tribute“.
Bontrup ist ein Wirtschaftswissenschaftler, der für seine Zunft den Anspruch einer Trias der Denkmethoden erhebt, kausal – holistisch – dialektisch. So hat die Volkswirtschaftslehre immer auch Soziologie, Politikwissenschaft sowie der philosophischen Erörterung/Debatte fähig zu sein, sonst verbleibt sie als unvollständige, rein technische Disziplin, ihr Denken verkümmert im Fragmentarischen, das jedwedem ideologischen Missbrauch Tür und Tor öffnet, wie die sogenannte Neoklassik in den letzten Jahrzehnten hinreichend belegt hat.
„So, wie es ein Marktversagen in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnungen gibt, so gibt es auch ein vielfältiges Staats- und Politikversagen in parlamentarischen Demokratien.“ (H.-J. Bontrup)
Er schält die Fehlstellungen und Konstruktions-Bugs unserer repräsentativen Demokratien deutlich heraus und begründet, warum diese ganz zwangsäufig dazu führen, dass Politik sich vielfach auf Symptombekämpfung reduziert. Er fordert nicht nur eine direkte Demokratie anstatt einer „Zuschauerdemokratie“, seine Überlegungen und Argumente zielen letztlich auf eine Wirtschaftsdemokratie.
Eberhard von Goldammer, Biophysiker und Kybernetiker, verstarb am 27. Mai 2024. Ein Nachrufwurde bereits veröffentlicht. Seine Bibliographiewird sofern möglich auch weiterhin fortlaufend ergänzt. So hielt Eberhard von Goldammer am 23. Mai 2015 einen Vortrag mit dem Titel „Anmerkungen zu André Gorz’ „Welches Wissen? Welche Gesellschaft?“ im Rahmen eines von der Piratenpartei NRW veranstalteten kleinen Kongesses „Ökonomie der Zukunft – Zukunft der Ökonomie“ im Theater im Depot in Dortmund. Der Vortrag steht nun als separates Video zur Verfügung und ebenso der zugehörige Foliensatz.
Bleiben Sie gelassen, herzlich, Ihr Joachim Paul (Hg.)
bereits mehrfach veröffentlicht an anderen Orten, 26.07.2024 [Hervorhebungen, Einrückungen, Fett- und Kursivsetzungen von Zitaten und Textteilen durch den Herausgeber mit Genehmigung des Autors.]
Die parlamentarische (indirekte) Demokratie ist in vielen Ländern gefährdet. Wir haben längst „postdemokratische Zustände“, so der britische Politikwissenschaftler Colin Crouch, und der deutsche Philosoph Jürgen Habermas spricht von einer „Fassadendemokratie“. Die Menschen wenden sich ab. Es entsteht Politikverdrossenheit. Das Vertrauen in die Demokratie schwindet seit der letzten Bundestagswahl 2021 besonders rapide, stellt in einer jüngsten repräsentativen Umfrage die Körber-Stiftung fest. Wähler gehen nicht mehr wählen. Die größte „Partei“ bei Wahlen sind heute die Nichtwähler. Die derzeitige „Ampel-Regierung“, bestehend aus SPD, Bündnis90/Die Grünen und FDP, ist, bezogen auf die Wahlberechtigten, nur von 49,5 Prozent, also knapp der Hälfte der Bürger und Bürgerinnen gewählt worden. Die Menschen durchschauen immer mehr eine Politik, die nicht für die Mehrheit der Menschen gemacht wird, was aber die eigentliche Aufgabe von Demokratie wäre, sondern für eine kleine Schicht von Profiteuren in der Gesellschaft, wovon die meisten ihren Reichtum geerbt und die anderen sich die Arbeits- bzw. Mehrwerte durch Ausbeutung der Arbeitskräfte angeeignet haben. Auf der anderen Seite leiden gut 16 Prozent der deutschen Bevölkerung unter Armut und jedes fünfte Kind hat arme Eltern. Nicht nur die schon lange ausgegrenzten gesellschaftlichen Ränder – Soziologen sprechen von einer „Externalisierung“ –, sondern selbst der Mittelstand fühlt sich mittlerweile von der jeweils herrschenden Politik bedroht.
Bedrohungen empfinden aber auch immer mehr Politiker und Politikerinnen, die regelmäßig vom Volk gewählt und auf Zeit mit dem staatlichen Gewaltmonopol ausgestattet werden. Politiker werden körperlich angegriffen und ermordet.
Hier kam es während der Weimarer Zeit, am Ende der ersten deutschen Demokratie, sogar zu Hunderten von politischen Morden. In den USA waren Präsidenten und Politiker schon immer Zielscheibe von Attentaten, die auch tödlich endeten. Was ist das für eine „Demokratie“, wo sich Wähler und Gewählte gegenseitig bedrohen und bis aufs Äußerste bekämpfen und wo Politiker vor dem Volk vielfach mit Polizeigewalt beschützt werden müssen? Was sind die Ursachen für die verheerenden Symptome?
Der große französische Philosoph Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) schrieb schon 1762 im dritten Buch seines Gesellschaftsvertrages:
„Das englische Volk hält sich für frei. Es irrt gewaltig. Es ist nur frei während der Wahl der Mitglieder des Parlamentes. Sobald diese gewählt sind, wird das Volk zum Sklaven und ist nichts.“
Und der SPD-Politiker Herbert Wehner (1906-1990) brachte es in jüngerer Geschichte auf den Punkt.
„Der Wähler legitimiert mit seiner Wahl die Entscheidungen, die anschließend gegen ihn unternommen werden.“
So lebt dann das Volk in einer Zuschauerdemokratie.
„Die Volksvertreter können, sind sie einmal im Amt, so handeln, wie es ihnen beliebt, gleichgültig, wie die Wähler wünschen, dass sie handeln“,
schreibt der Schweizer Philosoph Urs Sommer, Professor für Philosophie an der Universität Freiburg i. Br. Auch die ehemalige Bundesverfassungsrichterin Gertrude Lübbe-Wolff konstatiert:
„Die Bürger sind, was politisches Entscheiden angeht, weitestgehend auf Wahlen beschränkt.“
Einmal in die Parlamente gewählt, sind Volksvertreter nicht mehr an Aufträge und Weisungen gebunden, sondern nur noch ihrem Gewissen verpflichtet. So steht es im Grundgesetz. Das stimmt aber realiter nicht. Politiker und Politikerinnen sind vielmehr Abhängige ihrer jeweiligen Parteien und hier insbesondere Abhängige von den Parteispitzen, die sie als Kandidaten zur Wahl letztlich aufstellen und damit auf ein parteipolitisches Wahlprogramm festlegen und verpflichten. Die Wähler und Wählerinnen entscheiden sich dann womöglich mehr für die Partei und das Wahlprogramm als für die aufgestellten Politiker. Nach der Wahl erzielt die Partei aber nur in Ausnahmefällen eine absolute Mehrheit, und es kommt in der Regel zu Koalitionen und Koalitionsverträgen. Dann müssen die Wähler feststellen, dass von dem Wahlprogramm der gewählten Partei nicht mehr viel im Koalitionsvertrag übrig geblieben ist. Und selbst an der Umsetzung des Vertrages während der Legislaturperiode hapert es, es kommt zu „Verwässerungen“ oder sogar zu einer vollständigen Streichung der Vereinbarung.
EU-Politiker werden bei Wahlen zum Europäischen Parlament nicht einmal in ein richtiges, sondern nur in ein Pseudoparlament gewählt (vergleiche dazu meinen Beitrag in den NachDenkSeiten „Die EU-Wahl wird nichts verändern“). Gesetze erlassen, die wichtigste Aufgabe der Legislative, kann das sogenannte EU-Parlament nicht. Und wenn nicht einmal die existenziell wichtige Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative in indirekten Demokratien sauber funktioniert, dann ist mehr als Gefahr in Verzug. Das zeigen auf EU-Ebene Länder wie Polen und Ungarn, aber auch in anderen Ländern gibt es innerstaatliche Übergriffe. So schreibt die Frankfurter Rundschau in Bezug auf Österreich:
„Politik setzt Judikative unter Druck. Die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft (WKStA), die eine zentrale Rolle bei allen Ermittlungen in den jüngsten Polit-Affären spielt, sollte nach Erkenntnissen der Kommission zerschlagen werden. Für diese Bestrebungen habe es im vergangenen Jahrzehnt mehrfache Hinweise gegeben. Die Kommission sprach von Seilschaften und einer zweifelhaften Rolle einiger Mitglieder des Justizsystems. Es herrschte ein ‚Verantwortungsnebel‘ und eine teils fehlende Distanz zur Politik. Extrem lange Verfahrensdauern von bis zu 15 Jahren seien zudem ein Mittel ‚zur sachfremden Einflussnahme‘ auf Ermittlungen gewesen.“
Wo war hier übrigens in Deutschland der Generalbundesanwalt bei der Causa-Spendenaffäre des deutschen CDU-Bundeskanzlers Helmut Kohl (1930-2017)?
„Am 4. Dezember 2017 wurde eine Fernseh-Dokumentation von SWR und ARD ausgestrahlt, und parallel erschien ein Bericht im Spiegel über die Rolle Kohls in der Spendenaffäre. In beiden Berichten wurde die Version Kohls, dass er vier bis fünf Spendern sein Ehrenwort gegeben habe, ihre Namen nicht preiszugeben, als ‚absolut unglaubwürdig‘ bewertet. Kohls Mitarbeiter im Konrad-Adenauer-Haus hätten seit den 1970ern ein System geheimer Kassen betrieben, aus denen sich Kohl nach Bedarf bedient hätte – nicht zur eigenen Bereicherung, aber zum eigenen politischen Vorteil. Das Geld in diesen Kassen sei aus der Industrie gekommen und in der Schweiz weißgewaschen worden. Alleine das über die Schweiz verschobene Geld betrug demnach rund 200 Millionen Euro. Schon im Jahr 2015, zu Lebzeiten Kohls, war diese Version durch den CDU-Frontmann Wolfgang Schäuble (1942-2023) in einem Interview so bestätigt worden“,
Immerhin wurde in einem anderen Fall der zweimalige österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz (ÖVP) wegen Falschaussagen in einem Untersuchungsausschuss angeklagt und verurteilt, was zu einem Rückzug von allen politischen Ämtern führte. Kurz arbeitet jetzt als Investor und Unternehmer in den USA und verfügt über Verbindungen zu vielen Unternehmen und Organisationen. Vor Kurzem nahm er an der Luxus-Hochzeit des Sohnes der reichsten indischen Familie teil. Die Hochzeit hat einen dreistelligen Millionenbetrag gekostet. Politiker halten sich eben gerne im internationalen Geldadel auf und lassen sich dabei nicht selten von Reichen auch korrumpieren. Wir können es drehen und wenden, wie wir wollen, nur eine direkte Volksdemokratie schützt das Volk vor Volksvertretern, Parteien und damit die Demokratie. In der Schweiz muss man keine Angst vor Politikern und Parteien haben, sie könnten die Macht über das Volk bekommen, weil sie letztlich nichts zu sagen haben. Selbst über die Verfassung wachen hier nicht durch Politik berufene Verfassungsrichter, sondern das Volk, das auch nur Verfassungsänderungen in Abstimmungen vornehmen kann.
So, wie es ein Marktversagen in marktwirtschaftlich-kapitalistischen Ordnungen gibt, so gibt es auch ein vielfältiges Staats- und Politikversagen in parlamentarischen Demokratien. (H.-J. Bontrup)
Politiker und Parteien verfolgen hier Eigeninteressen, die zwar auch am Gemeinwohl orientiert sein können, aber nicht sein müssen, sondern in der Regel vielmehr nur Partialinteressen befriedigen. Hier besteht regelmäßig die Gefahr einer nicht mehr kontrollierbaren Verselbstständigung.
„Der Bundestag agiert abgehoben und fern der Lebensrealität der Menschen“,
kritisiert die Soziologie-Professorin Christiane Bender von der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr in Hamburg. Das bestätigt die Körber-Stiftung in der schon zitierten Umfrage, wonach 71 Prozent der Befragten davon ausgehen, dass Politiker in einer eigenen Welt lebten und auf den Rest der Bevölkerung herabschauten. Nicht einmal jeder zweite Deutsche fühlt sich von der deutschen Politik respektvoll behandelt. Das berichtet die Neue Osnabrücker Zeitung aus einer repräsentativen Umfrage des German Internet Panels der Universität Mannheim.
Politiker und Politikerinnen unterliegen, wie alle Menschen, vielfältigen menschlichen Schwächen. Vor allen Dingen können sich Menschen irren. Tun das wenige für alle, wie das in repräsentativen Demokratien immer möglich ist, kann das katastrophale Folgen für das Ganze, für das Volk haben. Man denke hier nur an die Entscheidung Krieg oder Frieden. Eine Stellvertreterentscheidung ist hier inakzeptabel, und trotzdem wurde sie schon immer und auch heute noch durch Politiker getroffen, ohne das Volk zu fragen. Volksvertreter unterliegen bei ihrem Tun oder auch Nicht-Tun vielen Abhängigkeiten und Unvollkommenheiten. Sie sind abhängig von der Wahl und Wiederwahl des Volkes und von ihrer Partei. Ohne diese sind sie politisch ein Niemand, das gilt auch für die in einem Wahlkreis direkt Gewählten. Insofern haben sie bei einem Wechsel zu einer anderen Partei oder als parteiloser Abgeordneter ihr Mandat auch zurückzugeben. Aber selbst das machen sie nicht, weil viele vom Sitz im Parlament existenziell abhängig sind. Das gilt insbesondere für Politiker, die sich schon in jungen Jahren in die Politik begeben. Man könnte sagen, vom Kreißsaal in den Hörsaal und danach in den Plenarsaal, wobei nicht wenige den Hörsaal ohne Abschluss an einer Hochschule mit einer Exmatrikulation verlassen müssen. Ohne Ausbildung und bürgerlichen Beruf denkt man verständlich an eine ex-postpolitische Karriere in der Wirtschaft oder bei Verbänden. Auch das schafft Abhängigkeiten und womöglich Anfälligkeiten für Korruption.
Politik ist auch unvollkommen. Das Denken beschränkt sich hier auf Ereignisse. Diese haben aber immer eine Vorgeschichte, die in Form eines holistischen Denkens zu berücksichtigen ist. Das ist im Politischen aber nicht opportun, weil gefährlich, genauso wie das Aussprechen von Wahrheiten, weshalb Politiker auch kausales Denken negieren. (H.-J. Bontrup)
Man „lebt“ in einer Welt der politischen Symptombekämpfung, ohne noch nach den Ursachen zu fragen und diese zu beseitigen. Das, was in der Wissenschaft unumgänglich ist, findet in der Politik nicht statt, wo darüber hinaus nur in kurzfristigen Wahlzyklen gedacht wird – man will ja im Hier und Jetzt wiedergewählt werden. So ist Politik nicht nachhaltig, und sollten Politiker tatsächlich über ihre Wahlperiode hinaus ein langfristiges und nachhaltiges Denken an den Tag legen, so verbindet sich Zukunft im politischen Raum in der Regel mit einem reinen Wunschdenken, das zu katastrophalen Ergebnissen führt.
Ein aktuelles Beispiel ist hier die Energiewende. Das Westfälische Energieinstitut in der Westfälischen Hochschule hat zu einem solchen Wunschdenken unter der Federführung von sieben Professoren des Instituts (einer davon ist der Verfasser des Artikels) eine Energiestudie unter dem Titel „Energie- und Klimawende zwischen Anspruch, Wunschdenken und Wirklichkeit – Umsetzungspfade“ vorgelegt. Hier wird gezeigt, dass die von der Ampel-Regierung geplante Energiewende weder technisch noch soziökonomisch umsetzbar ist. Zweimal wurde die Studie Bundeswirtschafts- und Klimaschutzminister Robert Habeck (Bündnis90/Die Grünen) zugänglich gemacht. Der hat es aber nicht einmal für nötig erachtet, den Eingang der Studie in seinem Ministerium zu bestätigen. Sieben Professoren sind über ein derartiges Verhalten entsetzt, zumal gerade die Grünen als Partei sich immer eine partizipative, offene Diskussion in der Gesellschaft wünschen – zumindest in Sonntagsreden.
Eine weitere Unvollkommenheit bei Politikern und Politikerinnen ist, dass sie in der Regel kein ökonomisches Wissen haben – weder theoretisches noch praktisches Wissen. Das sieht man nicht nur an dem amtierenden Finanzminister Christian Lindner (FDP), der in einer unglaublichen Ignoranz an der staatlichen Schuldenbremse festhält (siehe dazu auch meinen Beitrag in den NachDenkSeiten „Herr Lindner, treten sie zurück“), die niemals 2009 im Rahmen der Föderalismusreform II von Politikern mit einer Zweidrittelmehrheit ins Grundgesetz hätte aufgenommen werden dürfen. Jetzt wollen zumindest SPD und Bündnis90/Die Grünen Anpassungen bei der Schuldenbremse vornehmen; ganz streichen wollen sie die kontraproduktive Kreditbremse aber nicht. Der Politikwissenschaftler Stefan Bajor von der Universität Düsseldorf ordnet die Schuldenbremse politisch richtig ein, wenn er schreibt:
„Die sogenannte Schuldenbremse, also das Ergebnis der Reform des deutschen Kreditverfassungsrechts von 2009, ist nicht, wie manche meinen, eine Schlussfolgerung aus der Finanz- und Staatsschuldenkrise ab 2008. Diese hätte ja angesichts des Wirkens der erwähnten keynesianisch inspirierten Konjunkturprogramme eher in anderer Richtung ausfallen müssen. Nein, die Schuldenbremse ist das Ergebnis des neoliberalen Staatsverständnisses, das den privaten Nutzen voranstellt und den öffentlichen Sektor daran hindern will, das Allgemeininteresse an ausreichenden öffentlichen Leistungen vor allem in den Bereichen Gesundheit und soziale Sicherheit, Chancengleichheit und Bildung, Umweltschutz und Kultur zu realisieren. Die strikte Schuldenregel sollte in Kraft gesetzt werden, um Staat und Kommunen daran zu hindern, die eingeschlagene Steuersenkungspolitik der vergangenen Jahrzehnte durch Krediteinnahmen auszugleichen. Am Ende des Weges soll ‚eine neue Stabilitätskultur‘ stehen, in der sich der öffentliche Sektor den privatwirtschaftlichen Interessen allein schon deshalb zu beugen hat, weil ihm die finanziellen Mittel zum Gegensteuern fehlen.“
Die Wirkung der ökonomisch kontraproduktiven Grundgesetzverankerung der Schuldenbremse hat die „Ampel-Regierung“ im November 2023 mit dem Bundesverfassungsgerichtsurteil zu spüren bekommen. Die Richter monierten hier eine schwerwiegende Umgehung der Schuldenbremse. So wurden Kürzungen im Bundeshaushalt notwendig, die sich bis in den von der Regierung vorgelegten aktuellen Bundeshaushaltsentwurf für 2025 und darüber hinaus bis 2028 zeigen; und dies trotz eines ebenfalls ins Grundgesetz aufgenommenen sogenannten „Sondervermögens Bundeswehr“ (richtig ist hier die Formulierung „Aufrüstung durch Verschuldung“), bei der die Schuldenbremse nicht zur Anwendung kommt. Zur Einordnung des „Sondervermögens“ vergleiche ausführlich meinen Beitrag in den NachDenkSeiten „100 Milliarden Euro fürs Militär und Rüstung. Mehr bornierte Politik geht nicht – es reicht“.
Ohne das Volk zu fragen, hat die Bundesregierung damit einen gefährlichen Aufrüstungskurs initiiert und ins Grundgesetz geschrieben, das in der originären Fassung von 1949 genau dies nicht wollte, sondern rein friedensorientiert verfasst war. Staatsschulden für Rüstung werden heute von Politikern als gute Staatsschulden deklariert, für zivile Staatsausgaben dürfen aber keine Schulden gemacht werden. Dies zeigt eine unglaubliche Borniertheit der Politik, die nicht einmal den nichtreproduktiven Charakter von Rüstungsausgaben und die wesentlich geringeren multiplikativen Wachstums- und Einkommenseffekte im Vergleich zu zivilen Staatsausgaben ökonomisch richtig einordnen kann. Hier fällt einem dann das alte chinesische Sprichwort ein, das sich die Dummheit Kraft ihres Selbst leider nicht erkennen kann. Mit der Dummheit von Politikern beschäftigt sich die bekannte US-amerikanische Historikerin Barbara Tuchman (1912-1989) in ihrem Buch über „Die Torheit der Regierenden. Von Troja bis Vietnam“ ausführlich.
Es darf nicht sein, dass nur vom Volk gewählte Vertreter und Vertreterinnen über den Rüstungskurs eines Landes entscheiden. Das gilt auch für die grundsätzlichen Richtlinien der Wirtschaftspolitik. Paradigmenwechsel von einem Wohlfahrts-Keynesianismus hin zu einem marktradikalen Neoliberalismus, wie ab etwa Mitte der 1970er-Jahre vollzogen, darüber haben keine Politiker zu entscheiden, sondern das Volk, zumal, wenn sich heute Politiker einseitig von Wirtschaftswissenschaftlern beraten lassen, die dem Neoliberalismus das Wort reden. Wie jede Wissenschaft beruht auch die Wirtschaftswissenschaft auf einem umfassenden Theoriengebäude und einem verifizierten Wissen. Keiner erwartet, dass Politiker die hier auftretende wissenschaftliche Komplexität verstehen müssen, dies tun selbst die meisten akademisch gebildeten Ökonomen nicht. Wer kann schon beispielsweise die Frage beantworten, ob Keynes ein Keynesianer war oder worin sich der Kurzzeit-Keynes vom Langzeit-Keynes unterscheidet. Selbst Keynesianer tun sich hier schwer.
Auch auf einzelwirtschaftlicher Ebene müssen Politiker nicht wissen, wie Abschreibungen unterschiedlich in der Gewinn- und Verlustrechnung und der Kapitalflussrechnung eines Unternehmens wirken. Was man aber zumindest von Politikern in parlamentarischen Demokratien erwarten darf, ist, dass sie bei ihrer notwendigen Beratung auf eine dialektische Vorgehensweise zu achten und zu setzen haben. Das ist aber nicht der Fall, wie gerade eine Studie der Otto-Brenner-Stiftung zur einseitigen ökonomischen Beratung von Politik durch Beiräte beim Bundesfinanz- und Bundeswirtschaftsministerium aufgezeigt hat. Dabei fällt aber selbst in dieser kritischen Studie eine Nichterwähnung der seit 1975 jährlich erscheinenden Memoranden der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik auf, die immer links-keynesianische Gegenpositionen zum neoliberalen Mainstream entwickelt und veröffentlicht hat.
In einer partizipativen direkten Demokratie würde das alles ganz anders laufen. „Sie steht – ungeachtet aller demagogischen Anfälligkeit – gegen die Verweltanschaulichung des Politischen: Man muss sich bei jeder Entscheidung, die einem aktive Partizipation abverlangt, neu orientieren und formieren, neu positionieren und bleibt so in ständiger Bewegung, bleibt politisch handelnd. Demgegenüber scheint die Ideologisierung des Politischen eine unmittelbare Folge des Repräsentatismus zu sein: Weil ich dort von politischen Einzelentscheidungen ausgeschlossen bin und sie meinen Repräsentanten überlassen muss, zu deren Wahl ich alle paar Jahre beitragen darf, muss ich mir eine politische Weltanschauung zulegen, die sich irgendwo auf einer ziemlich starren Bandbreite von ganz links bis ganz rechts ansiedelt. Dürfte ich hingegen politische Sachentscheidungen fällen, könnte mir die Selbstverortung irgendwo auf dieser starren Bandbreite herzlich egal sein“, schreibt Urs Sommer und stellt zusammenfassend fest:
„Direkte Partizipation unterbindet die Ideologisierung des Politischen.“
Der wohl größte Vorteil bei direkten Abstimmungen der Bürgerinnen und Bürger über Sachfragen ist, nicht alle paar Jahre bei der Wahl von Repräsentanten und Parteien alles auf eine Karte setzen zu müssen, sondern permanent in der Sache gefragt zu sein.
„Direkt-partizipative Demokratie dient dem Komplexitätsabbau, oder vielmehr dem Abbau geballter Komplexität. Denn jede Sachentscheidung muss für sich getroffen werden; ich muss nicht einmal für vier Jahre jemanden mandatieren, der für mich alles entscheidet. Gerade in einer komplexen Gesellschaft ist nicht der parlamentarische Repräsentatismus das Gebotene, sondern die direkt-partizipatorische Demokratie. Komplexität ist viel besser zu bewältigen, wenn wir alle möglichst alle Einzelentscheidungen zu treffen haben“,
so Urs Sommer. Hier gilt dann mit dem US-amerikanischen Managementberater und viel gelesenen Autor Ken Blanchard der Sinnspruch: „Keiner von uns ist so klug wie wir alle,“ womit dann auch gegen den immer wieder vorgetragenen Vorwurf, für „Sachentscheidungen sei das Volk zu dumm“ und würde nur „Demagogen begünstigen“, alles gesagt ist. Und wem das nicht genügt, dem empfehle ich zur Vertiefung das Buch „Demophobie. Muss man die direkte Demokratie fürchten?“ von Gertrude Lübbe-Wolff.
Alle in meinem Beitrag aufgeführten Punkte, die sicher nicht vollständig sind, sprechen im Befund eindeutig für partizipative Sachentscheidungen in einer direkten Demokratie. „Menschen sind teilhabenwollende Wesen“, so noch einmal Urs Sommer.
„Und das Politische – die gemeinsame Gestaltung der eigenen Lebensbedingungen – ist etwas, bei dem man das Teilhaben prinzipiell nicht an andere abgeben kann. Der mündige Mensch ist zur Teilhabe verurteilt. Und muss sich darin unentwegt einüben.“
Und Gertrude Lübbe-Wolf ergänzt:
„Wo die Bürger sich über Sachfragen informieren, weil sie dabei mitzuentscheiden haben, steigt nicht nur die Sachkunde bezogen auf einzelne zur Abstimmung stehende Gegenstände, sondern die staatsbürgerliche Kompetenz ganz allgemein, denn jeder ernsthafte Versuch, sich ein Urteil zu bilden, fördert tendenziell die Urteilskraft auch über den konkreten Fall hinaus und trägt insofern zu verbessertem Funktionieren der Demokratie auch in ihren repräsentativen Elementen bei.“
Es ist aber nicht nur die Politik zu demokratisieren, sondern auch die Wirtschaft. Wir brauchen eine Wirtschaftsdemokratie, was bis heute aber in der Schweiz auch noch nicht umgesetzt worden ist. Eine gesellschaftliche Dichotomie darf es zwischen Politik im staatlichen Überbau und der Wirtschaft im Unterbau nicht geben. Dazu schrieb schon 1972 der ehemalige 1. Vorsitzende der IG Metall, Otto Brenner:
„Wir wissen, dass die Freiheit des Menschen außerhalb seines Arbeitslebens nicht vollständig und gesichert ist, solange der Mensch in seinem Arbeitsleben der Herrschaft anderer unterworfen bleibt. Die Demokratisierung des öffentlichen Lebens, das freie Wahl-, Versammlungs-, Rede- und Presserecht bedarf der Ergänzung durch die Demokratisierung der Wirtschaft, durch Mitbestimmung der arbeitenden Menschen über die Verwendung ihrer Arbeitskraft und der von ihnen geschaffenen Werte.“
Einseitig haben aber in der Wirtschaft die Kapitaleigner das Sagen, weil sie über das „Investitionsmonopol“ (Erich Preiser) verfügen und die abhängig Beschäftigten ihre Arbeitskraft den Produktionsmitteleigentümern verkaufen müssen. Diese doppelte Abhängigkeit macht alle Beschäftigten quasi zu Untertanen des Kapitals. Um diesen unhaltbaren Zustand zu beseitigen, kann es jedoch nicht nur um Mitbestimmung gehen. Der nach dem Zweiten Weltkrieg herausragende Ökonom Preiser konstatierte hier schon 1965 in einem Vortrag an der Universität Bonn:
„Konsequent durchdacht, muss sich die Forderung mitzubestimmen in die Forderung verwandeln mitzubesitzen. Keine wirtschaftliche Tätigkeit ist denkbar ohne die Verfügung über Produktionsmittel. Ihr Eigentümer hat notwendigerweise ein Übergewicht über den, den er an diesen Produktionsmitteln beschäftigt. Das bloße Mitreden ist nur eine halbe Sache – erst die Teilnahme an den Produktionsmitteln schafft klare Verhältnisse.“
Den Beitrag widme ich meinem Doktorvater und langjährigen Freund, Prof. em. Dr. Eberhard von Goldammer und seiner Familie, seinen Freundinnen und Freunden, Kolleginnen und Kollegen.
Es ist mir ein persönliches Bedürfnis, diesen Nachruf zu schreiben, denn ich habe dem Verstorbenen sowohl fachlich-wissenschaftlich als auch als Mensch viel zu verdanken. Aber wo anfangen? So nach und nach realisiert sich aus den Erinnerungen heraus ein Bewusstsein für die Bedeutung des Verstorbenen für die Menschen in seiner Umgebung – und für mich.
Bei Eberhard von Goldammer blicken wir zurück auf ein reiches, erfülltes Leben, in dem zwei Zuschreibungen besonders hervortraten, erstens der Familienmensch und zweitens der Wissenschaftler. Familiäres gehört in die Privatheit der Familie, darüber hinaus verdient sein wissenschaftliches und menschliches Wirken auch eine öffentliche Würdigung.
Als Eberhard von Goldammer 10 Jahre alt war, verstarb sein Vater, ein Verlust mit zwangsläufig prägender Wirkung. Er wuchs im Allgäu als Ältestes von drei Geschwistern auf und ging dort zur Schule. An seinem Gymnasium gehörte auch der Ski-Sport zum Unterricht. Nach dem Abitur studierte er Chemie und Physik, Letzteres u.a. bei Gottfried Falk, an der Technischen Universität Karlsruhe. Er erwarb das Diplom im Fach Chemie und promovierte in physikalischer Chemie. Im Anschluss an die Promotion zog es ihn und seine Frau – das Paar hat sich in Karlsruhe kennengelernt – für einen mehrjährigen Aufenthalt nach Kanada, wo er am Chemistry Department der University of Ottawa mit Brian Evans Conway zusammenarbeitete, einem weltweit anerkannten Elektrochemiker.
Wieder zurück in Deutschland schenkte das Ehepaar kurz nacheinander zwei Söhnen das Leben. Eberhard von Goldammer habilitierte an der Universität Regensburg in Biophysik. Sein besonderes Interesse galt damals den biophysikalischen Anwendungsmöglichkeiten der Kernspinresonanz- (NMR) und der Elektronenspinresonanz- (ESR) Spektroskopie. Erstere spielt heute als Magnetresonanztomographie (MRT), als bildgebendes Verfahren eine nicht mehr wegzudenkende Rolle in der medizinischen Diagnostik. Und mit der zweiten lassen sich weitere Erkenntnisse zu Moleküldynamiken gewinnen. Eberhard von Goldammer konnte dazu in der Grundlagenforschung Wesentliches beitragen.
Ruhruniversität Bochum
1978 trat er eine auf acht Jahre befristete, außerplanmäßige (apl.) Professur am Institut für Biophysik der Ruhruniversität Bochum (RUB) an. Dort begegnete ich ihm als Student der Physik erstmals 1981 im Fortgeschrittenen-Praktikum, wo er einen Versuch zur Kernspinresonanz (NMR) betreute. Zu Beginn des Wintersemesters 1981/82 wurde ich dann in seinem Büro am anderen Ende des Naturwissenschaftstraktes der RUB – bei den Biologen im Keller! – vorstellig und bat, bei ihm in Biophysik meine Diplomarbeit leisten zu dürfen.
Auf seine Frage: „Warum ausgerechnet Biophysik?“, gab ich eine zuvor überlegte Antwort, die mir heute als ausgesucht dumm erscheint: „Das ist als angewandte Physik von Allem etwas, Quantenmechanik, Elektrodynamik, usw., da kann man ein wenig den Überblick behalten.“
Er lachte kurz auf und meinte: „Überblick? Vergessen Sie’s. Den verlieren Sie sowieso!“ Ein wenig verunsichert wollte ich das schon als Absage auffassen, da schloss er direkt eine Frage an: „Können Sie mit einem Lötkolben umgehen?“ Als ich bejahte, sagte er: „Prima, kommen Sie morgen um Zehn vorbei!“
Diesem „kürzesten Vorstellungsgespräch aller Zeiten“ folgte ein Schüler-Lehrer-Verhältnis, das sich in den 43 Jahren bis zu seinem Tod über eine enge Zusammenarbeit ganz allmählich in eine Freundschaft verwandelte.
Am darauf folgenden Tag steckten wir dann die Köpfe gemeinsam in ein Bruker-NMR-Spektrometer, um einen defekten Hochfrequenztransistor auszuwechseln.
Dabei fielen mir in seinem NMR-Labor zwei Notenständer auf. Auf meine Frage, ob er darauf die Plots seiner Messungen studiere, lachte er und sagte: „So ein Spektrometer-Durchlauf dauert. Und wenn ich hier nachts messe, dann spiele ich Geige.“ Ich selbst habe ihn nie spielen hören, aber er muss „ziemlich gut“ gewesen sein, sagte mir einer seiner Söhne. Jedenfalls lagen im Notenstapel im Labor unter vielem Anderen auch Paganinis Capricen.
Wir waren 1981 eine Diplomandin und fünf Diplomanden in von Goldammers Arbeitsgruppe, ergänzt durch einen weiteren Diplomanden von Prof. Dr. Josef Pelzl aus der Bochumer Festkörperphysik, der regelmäßig an unseren Arbeitstreffen teilnahm. Und gelegentlich schaute Dr. Hablick, akademischer Rat an Prof. Dr. Gieses Institut für extraterrestrische Physik, auf ein Gespräch vorbei.
Die Arbeitsgruppe traf sich regelmäßig einmal pro Woche für etwa anderthalb Stunden. Angewandte Physik birgt prinzipiell technische und fachliche Hürden und Probleme, die wir Diplomanden miteinander diskutierten. Locker und spielerisch lernten wir dort die Kunst der wissenschaftlichen Argumentation, wie man Vorträge hält und wissenschaftliche Inhalte präsentiert, und das in einer untereinander eher von Freundschaft denn Konkurrenz geprägten Atmosphäre.
Eberhard von Goldammer gab uns ein meist auf die Situation gut abgestimmtes motivierendes Feedback, oft knapp, ruhig und sachlich, manches Mal begeisternd, manchmal sogar verblüffend. Er flocht nicht nur dort gelegentlich Weisheiten und Tipps seines früheren, von ihm verehrten Geigenlehrers ein:
„Wenn man auf’s Podium geht, muss das perfekt sitzen, selbst wenn nur „Alle meine Entchen“ gespielt wird!“
Des Weiteren ging ihm eine auch in den Naturwissenschaften nicht so seltene professorale Arroganz völlig ab. Seine inhaltliche und methodische Autorität vermittelte sich über detailliertes Eingehen auf Fragen und Probleme. Hinzu kam, dass er die Beschäftigung mit Computern – auch abseits unserer Themen – nicht nur duldete, sondern begrüßte. Anfang der 80er wäre in einigen Bereichen noch ein Diplom in Physik ohne jegliche Computerkenntnisse möglich gewesen.
Hervorzuheben ist auch, dass Disziplingrenzen für ihn im Grunde keine Rolle spielten. Dies zeigte sich insbesondere in seiner Bereitschaft zur Übernahme von Lehrverantwortung. In den Natur- und Ingenieurwissenschaften sowie der Mathematik ist es allgemein üblich, dass für die thematisch benachbarten Fakultäten und Fachbereiche Services in Form von Spezialvorlesungen angeboten werden, so z.B. „Mathematik für Physiker“, „Einführung in die Physik für Biologen“, usw. Letztere war bei Physikprofessoren nicht sehr beliebt, „Physik als Hilfswissenschaft? Für fachfremde Studierende, die womöglich nur am Pflichtschein interessiert sind? Oh, bitte nicht!“
Nicht so Eberhard von Goldammer. Als der damalige Dekan der Fakultät für Physik, Detlef Kamke, ihn bat, diese Vorlesung zu halten, sagte er nach kurzer Überlegung zu und übernahm den an spektakulären Live-Experimenten so reichen Einführungskurs, den sogenannten „Zirkus“. Und sein Engagement hatte Strahlkraft. Selbst die physikalisch-technischen Assistenten, die die Experimente in der Vorlesung betreuten, erlebten einen mitreißenden Dozenten, sie haben sich für ihn buchstäblich krumm gemacht, wie mir einer der Techniker – „so macht mein Job richtig Spaß!“ – glaubhaft versicherte, als ich einmal einen Botengang für die Vorlesung erledigte.
Es ist erst wenige Jahre her, da erzählte er mir, und der Stolz in seiner Stimme war nicht zu überhören, dass er bei einem Spaziergang eine ehemalige Biologie-Studentin getroffen habe, die sich bei ihm überschwänglich bedankt habe. Dank seiner Vorlesung habe sie „die Physik kapiert“ und ihr Biologie-Studium erfolgreich abgeschlossen. Das liegt ohne Zweifel daran, dass für ihn nicht Paukerei und tumbes Abfragen von Wissen, sondern echtes Verständnis im Vordergrund stand.
Was meine Person betrifft kann ich das nur bestätigen, er hat phasenweise mehr an mich geglaubt, als ich selbst dazu in der Lage war. Ganz offensichtlich besaß er die Gabe, Potenziale in Personen zu sehen, die der Selbstwahrnehmung der Person – zumindest zeitweise – nicht zugänglich waren. Und es mag sein, dass genau das die Kernkompetenz eines guten Lehrers ausmacht.
In seiner Publikationsliste findet sich eine Arbeit aus dem Jahr 1980, in der ein gewisser Christos Bassaris als Co-Autor genannt ist. Bassaris war Chemie-Laborant am Institut für Biophysik. Er hat Herrn Bassaris, einen Nicht-Akademiker, mit auf die Publikation genommen, weil die Arbeit durch sein laborchemisches Können erheblich erleichtert wurde! Ein für Dozenten und Professoren völlig untypisches Verhalten, zumal Ende der 70er-Jahre.
Über den Tellerrand
Die für Eberhard von Goldammer nicht vorhandenen Disziplingrenzen hatten noch eine andere Seite. Es gab eine wohl nicht stillbare Neugier und eine Unzufriedenheit darüber, wie Wissenschaft derzeit in Deutschland betrieben wurde. Er las viel. Das führte auch dazu, dass er seine Diplomanden kontinuierlich mit detaillierten Informationen zu den aktuellen Neuzugängen seiner Leseliste beglückte. Es sei zugegeben, dass uns das – in erster Linie beschäftigt mit den Anforderungen unserer jeweiligen Diplomprojekte – so manches Mal überforderte.
Zu den Autoren gehörten u.v.a. der Ökonom Jeremy Rifkin und der Chemiker und Wissenschaftskritiker Erwin Chargaff, bekannt für seinen Beitrag zur Entschlüsselung der DNA-Struktur. Es folgte Nicholas Georgescu-Roegen, Verfasser des Nachworts zu Rifkins Buch „Entropie“ und Begründer der ökologischen Ökonomie. Der Klimawandel und die Rohstoffkrise waren schon damals Diskussionsthemen in unserer Gruppe.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es sein Geigenlehrer und der theoretische Physiker Gottfried Falk, den er im Studium in Karlsruhe gehört hatte, gewesen sein müssen, deren Keime des ganzheitlichen Weltinteresses und deren transdisziplinäre Arten zu Denken bei Eberhard von Goldammer auf fruchtbaren Boden fielen. Er machte damals bisweilen eine heiter-abfällige Bemerkung über Physiker-Kollegen, die beim Aufstellen der thermodynamischen Zustandsgleichung eines Systems meist die chemischen Potentiale der Systemkomponenten vergaßen. (Tatsächlich ging es hierbei auch um eine von Gottfried Falk eingeführte Verallgemeinerung des Begriffs des thermodynamischen Potenzials, der sog. Massieu-Gibbs-Funktionen.)
„Wir müssen aufhören, so zu tun, als sei die Natur in Disziplinen gegliedert, so wie es die Universitäten sind.“
Das lässt sich unmittelbar vereinfachen zu: „Unser Forschungsgegenstand, das ist das ganze Universum!“
Es gab aber auch eine verblüffend praktische Komponente. Auf die Frage, warum er sich von der Chemie hin zur Physik orientiert habe, erklärte er mehrfach: „Weil ich mir mathematische und physikalische Gleichungen besser merken kann als chemische Formeln!“
Und weiter ging es – nicht ganz chronologisch – mit den Büchern und Aufsätzen des russisch-belgischen Physikochemikers und Nobelpreisträgers Ilya Prigogine zu dissipativen Strukturen, zu Selbstorganisation und Irreversibilität. Dahinter stand eine im Prinzip einfache Frage, die er sehr viel später in einem Vortrag einmal offen aussprach: „Wie funktioniert eine biologische Zelle?“, oder allgemeiner, „Was ist Leben?“
Es folgten Erwin Schrödingers gleichnamiger Aufsatz, Robert Rosens „Essays on Life Itself“, sowie Walter Elsassers „A Form of Logic Suited for Biology“. Als besonders dicke Meilensteine auf der Leseliste erinnere ich Gregory Batesons Werke „Ökologie des Geistes“ und „Geist und Natur – Eine notwendige Einheit“, aus denen er wochenlang Gedanken vortrug:
„Wissenschaft beweist nie irgend etwas, Wissenschaft sondiert, sie beweist nicht.“[1]
Damit stand er mit einem Bein bereits auf dem Boden der Kybernetik, oder genauer, einer kybernetischen Erkenntnistheorie.
Aber als der „Game Changer“, wie wir heute sagen, sollte sich jemand Anderes erweisen.
Gotthard Günther
Auf dem Rückweg von gemeinsamen Mittagessen unserer Arbeitsgruppe stöberten wir manches Mal im Antiquariatsstand eines Bochumer Buchhändlers in der Mensa der Ruhruniversität. 1982 bei einer solchen Gelegenheit hielt unsere Diplomandin plötzlich ein Buch in der Hand – wir hatten wohl vorher über Logik und Axiome diskutiert –, die 2. Auflage von „Idee und Grundriss einer nicht-Aristotelischen Logik“ (Hamburg 1978) von Gotthard Günther. Eberhard warf einen Blick hinein und brauchte keine drei Minuten. „Nur 10 Mark? Das nehme ich mit!“ „Was deinem Professor recht ist, kann dir nur billig sein“, dachte ich und erwarb ebenfalls ein Exemplar.
Es muss seine über die Zeit und die verschiedenen Lektüren gewachsene Erkenntnis gewesen sein, dass unser aus den Naturwissenschaften sowie Mathematik und Logik bereitstehender formaler Apparat bei weitem nicht hinreichend ist, um die sich selbst organisierenden komplexen Prozesse des Lebens mit ihren Selbstrückbezüglichkeiten adäquat formal beschreiben zu können, die ihn sofort auf den Titel dieses Werkes haben anspringen lassen.
Wie heftig dieser „Trigger“ für ihn gewesen sein muss, erfuhren wir Diplomanden in den nächsten Wochen. Wir konnten – teilweise beunruhigt – förmlich zusehen, wie sein fachliches Interesse an den gemeinsamen Projekten nachließ, allerdings nicht seine Sorge, dass alle Diplomanden ihre Wege bis zum Diplom auch sauber zu Ende gehen. Noch Jahre später sagte er:
„Wer sich auf das Lesen von Gotthard Günther ernsthaft einlässt, der bekommt erstmal eine Schreibblockade.“
Von Giovannino Guareschi, bekannt für seine Erzählungen um Don Camillo und Peppone, ist folgender Ausspruch überliefert: „Ein Diplomat ist ein Mensch, der offen ausspricht, was er nicht denkt.“ Wenn das richtig ist, dann war Eberhard von Goldammer das genaue Gegenteil. Er sprach so gut wie immer offen aus, was er gerade dachte, sofern es etwas mit rationalem Inhalt war.
Ich erinnere den Beginn eines seiner Vorträge, hier bei einer Jahrestagung der Sektion Biophysik der Deutschen Physikalischen Gesellschaft im Kloster Maria Laach: „Meine Damen und Herren, so kann man das nicht messen.“ Das so etwas nicht immer Freude hervorruft, sondern auch Gefahr läuft, als Affront verstanden zu werden, leuchtet unmittelbar ein. Aber wer ihn näher kannte, der wusste, es ging ihm immer nur um die Sache, den Inhalt, das Argument. Und da konnten nur so die Fetzen fliegen, er wurde nie – das muss groß geschrieben werden, NIE – persönlich. Wirklich verärgert reagierte er nur dann, wenn die Gegenseite den Boden der Sachlichkeit verlies.
So stellte er, als das Thema „Nicht-Aristotelische Logik“ noch neu für ihn und uns war, im Anschluß an einen gemeinsam mit seinen Diplomanden besuchten öffentlichen Vortrag über Logik an der philosophischen Fakultät der Ruhruniversität Bochum eine Frage zu seiner aktuellen Günther-Lektüre und gab – eher als Warum, denn als Vorwurf – seiner Verwunderung Ausdruck, dass es an der philosophischen Fakultät keinerlei Vorlesungen oder Seminare zu diesem Philosophen gab. Im Verlauf des folgenden, kurzen Dialogs griff der sich in der Kritik sehende Referent zu einem Argumentum ad hominem und bezeichnete Eberhard von Goldammer despektierlich als Bücherwissenschaftler. Nachdem der erste Ärger verraucht war, lachten wir in der Arbeitsgruppe darüber. Es hat geradezu komödiantische Qualität, wenn ein Geisteswissenschaftler jemand als Bücherwissenschaftler bezeichnet, der den größen Teil seines akademischen Lebens seine Finger buchstäblich in biologische oder biologisch relevante Materie gesteckt hatte.
Dann begriffen wir, dass der Referent ein Vertreter der sogenannten analytischen Philosophie gewesen sein muss. Bis weit in die 90er hinein war dort alles verpönt, was nur irgendwie nach Hegel und Dialektik roch, und dazu gehören Gotthard Günther und sein Werk in ganz besonderem Maße. (Diese ablehnende Haltung der analytischen Philosophie gegenüber Hegel ist über die Jahre aufgeweicht und gipfelte jüngst 2019 im Erscheinen des Werkes „A Spirit of Trust: A Reading of Hegel’s Phenomenology“ des Richard Rorty-Schülers und einflussreichen Vertreters der analytischen Philosophie, Robert Brandom, der schon in den Nullerjahren zu einer erneuten Hegel-Lektüre aufgerufen hatte.[2])
Die Erstausgabe von Günthers Idee und Grundriss erfolgte bereits 1958, die von uns zudem antiquarisch erworbene 2. Auflage ist auf 1978 datiert. Waren wir also „spät dran“ mit unserer Lektüre? Nein. Dem entgegen steht die von Brandom geforderte Hegel-Lektüre in den Nullerjahren und eine Bemerkung, die Gert König, seinerzeit Inhaber des Lehrstuhls für Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte an der RUB, auf die entsprechende Frage eines Studenten hin machte:
„Gotthard Günther? Das ist noch zu früh.“
Mit Fug und Recht lässt sich also sagen, dass Eberhard von Goldammer mit seiner Günther-Lektüre „seiner Zeit voraus“ war. Insofern war die Beschäftigung damit für ihn auch eine unfreiwillige Übung im „sich zwischen die Stühle Setzen“. Aber allmählich wuchs eine Art wütender Gelassenheit. Als ich mich Jahre später einmal bei ihm beklagte, dass Naturwissenschaftler mir in Diskussionen häufiger entgegneten, ich würde wie ein typischer Geisteswissenschaftler argumentieren, eben diese mir jedoch den typischen Naturwissenschaftler sogar vorwarfen, meinte er nur trocken: „Nehmen Sie’s doch als Kompliment!“
Er hatte sich inzwischen die Haltung einiger Vertreter der Kybernetik (zweiter Ordnung) zu eigen gemacht, die den dem klassischen Wissenschaftsgefüge impliziten Methodendualismus zwischen Geistes- und Naturwissenschaften strikt ablehnen und stattdessen dafür plädieren, dort, wo es sinnvoll ist, das erkennende und handelnde Subjekt ausdrücklich in den Bereich der Wissenschaft mit einzubeziehen.
Das Forschungsfeld hatte W. Ross Ashby bereits 1957 folgendermaßen umfassend benannt:
„Kybernetik untersucht alle Phänomene in Unabhängigkeit ihres Materials, so sie regelgeleitet und reproduzierbar sind.“[3]
Und Heinz von Foerster nimmt eine wesentliche Präzisierung vor, er teilt durch seine Definition die Kybernetik in zwei Ordnungen:
„Die Kybernetik erster Ordnung beschäftigt sich mit beobachtbaren Systemen, die Kybernetik zweiter Ordnung mit beobachtenden Systemen.“[4]
Es ist eben diese sog. „2nd order cybernetics“, die die eigentliche transdisziplinäre Erweiterung darstellt und zum „Ausgangsort jener zweiten kybernetischen Welle“ wurde, „die großen Einfluss auf zentrale amerikanische und europäische Diskurse des späten 20. Jahrhunderts nehmen sollte“[5]. „Beobachtende Systeme“, das bedeutet Subjekte, die erkennen, Lebewesen, die Kognitionen haben. Darüber forschen zu können, das stellt ein besonderes Faszinosum dar.
Universität Witten/ Herdecke
Diese Haltung zur Wissenschaft, die man auch als holistisch, bzw. ganzheitlich bezeichnen kann, wollte nicht so recht in das Prokrustesbett staatlicher Hochschulen passen. Insofern war Eberhard von Goldammer kein Einzelfall. Neue Ideen haben an staatlichen Einrichtungen nicht selten einen schweren Stand. (Das bestätigte mir unlängst der Philosoph und Psychoanalytiker Rudolf Heinz, Begründer der Pathognostik, der etwa zur selben Zeit eine Professur ohne Lehrstuhl an der Philosophischen Fakultät der Heinrich Heine-Universität Düsseldorf innehatte.)
Eberhard von Goldammer kam in Kontakt mit Dr. Gerhard Kienle, dem Chefarzt und Gründer des Gemeinschaftskrankenhauses Herdecke, der zusammen mit Anderen an der Gründung einer privaten Universität arbeitete, an der auch Mediziner ausgebildet werden sollten, und das in direkter Nähe zur Praxis in der Herdecker Klinik. Motivation hierfür war neben einer basalen Kritik der Medizinerausbildung an staatlichen Hochschulen auch eine grundlegende Kritik an der Praxis des deutschen Gesundheitswesens.
Gerhard Kienle und der Marburger Physiologe Herbert Hensel, der 1965/66 Rektor der Phillips-Universität Marburg war, waren beide Anthroposophen und können als die eigentlichen Gründer der Universität Witten/ Herdecke (UWH) angesehen werden. Ihre Kritiken zielten allerdings nicht nur auf die Praxis der Medizinerausbildung an staatlichen Hochschulen sondern auch nach innen. Insbesondere Hensel forderte von anthroposophischen Wissenschaftlern strenge Wissenschaftlichkeit ein und kritisierte deren „weitverbreitete Methode, gewisse Aussagen der Anthroposophie a priori als absolute Wahrheit zu setzen und diese dann durch Zusammensuchen bekannter Tatsachen aus der wissenschaftlichen Literatur zu stützen“.[2]
Bereits ab 1980 – noch vor meinem Start in seiner Bochumer Arbeitsgruppe – engagierte sich Eberhard von Goldammer am Projekt Universität Witten/ Herdecke, zu dessen Unterstützern u.v.a. auch der Bochumer Physiker Haro von Buttlar gehörte. Neben dem Schreiben von erfolgreichen Anträgen für Fördermittel (Stiftung Volkswagenwerk) und der Beschaffung eines MRT-Gerätes war dies auch der Aufbau und die Organisation eines Physikpraktikums für die Studenten der Medizin. Als die UWH 1983 ihren Betrieb aufnahm, waren es einige seiner Diplomanden von der RUB, die die Betreuung des Physik-Praktikums für die ersten beiden Jahrgänge übernahmen.
Es ist nur konsequent, die Frage stellen, wie das zusammengehen sollte. Auf der einen Seite Anthroposophen, auf der anderen ein von Kybernetik, Philosophie und mehrwertiger Logik infizierter Biophysiker. Eberhard von Goldammer hat immer betont, dass es in seiner Wahrnehmung Gerhard Kienle, Herbert Hensel und der spätere faktische Gründungsrektor der UWH, der ebenfalls in Marburg lehrende Physiologe Gunther Hildebrandt – „open minded people“ fern von Ideologien oder Dogmatiken – seien, mit denen er „gut konnte“. Das ist aber nicht unbedingt eine Frage der persönlichen „Chemie“. Hier kann ein Aphorismus des amerikanischen Rockmusikers und Komponisten Frank Zappa herangezogen werden:
„Ein Geist ist wie ein Fallschirm. Er funktioniert nicht, wenn er nicht offen ist.“
Allein deswegen, weil sie offen – open minded – waren, „konnten“ sie miteinander, auch im Team. Gegenseitige Sympathie stellt sich dann ganz von selbst ein.
Unglücklicherweise verstarben Gerhard Kienle und Herbert Hensel 1983 kurz vor der offiziellen Eröffnung der Universität Witten/ Herdecke. Die Leitung der Universität übernahm der Neurologe Konrad Schily.
Und die Vorstellungen und Hoffnungen, die Eberhard von Goldammer für die Universität, für sein Institut für Biophysik und Medizintechnik an der UWH sowie für das Institut für theoretische Biowissenschaften, dessen Leitung 1985 Rudolf Kaehr übernahm, und letztlich für sich selbst und seinen weiteren wissenschaftlichen Weg gehabt haben mag, wurden bitter enttäuscht.
Hier soll dies nicht weiter ausgeführt werden. Stattdessen können wir ihn selbst sprechen lassen. Er verfasste dazu einen Text „Historischer Rückblick und Anmerkungen zu einem Projekt, das an einer Privat-Universität unerwünscht war …„. Die Datei enthält darüber hinaus auch ein Interview „Wissenschaftszensur oder Universität nach Gutsherrenart – Eine Elite in Deutschen Landen -„, dass er im Sommer 2007 Peter Rath gab. Beides gibt neben zahlreichen Projektergebnissen auch Zeugnis von eher Unerfreulichem, von dem Intrigenspiele und unberechtigte Vorwürfe noch das Geringste sind.
Gründungsinitiative Nordische Universität Flensburg/ Neumünster
Seinen inter- und transdisziplinären Anspruch an Wissenschaft gab Eberhard von Goldammer nicht auf. Schon während der sich zunehmend ins Ungünstige entwickelnden universitätspolitischen Wetterlage an der UWH startete er neue Initiativen oder nahm daran Anteil. Seine zeitliche Auslastung – und damit auch die Belastung für seine Familie – waren immens.
Das, was ihm als Institut vorgeschwebt haben mag, war mit Sicherheit beeinflusst und inspiriert von zwei großen Vorbildern, beides US-amerikanische Einrichtungen. Zum einen war dies das BCL, das „Biological Computer Laboratory“ (1958 – 1974) an der University of Illinois in Urbana, Illinois, das aus den Macy-Konferenzen hervorgegangen war und von dem aus Wien stammenden Physiker Heinz von Foerster geleitet wurde. Führende Kybernetiker haben sich dort die Klinke in die Hand gegeben, es war ein Kommen und Gehen mit regem Austausch. Gotthard Günther hat am BCL wesentliche Teile seines über „Idee und Grundriss …“ weit hinausgehenden Werks verfasst. Die zweite Einrichtung existiert heute noch, es ist das SFI, das Santa Fe Institute in Santa Fe, New Mexico, gegründet 1984, das sich der Erforschung von komplexen Systemen verschrieben hat.
Vielversprechende Anklänge an diese Kultur des offenen Austauschs gab es schon an der UWH. Er hatte den Philosophen und Logiker Rudolf Kaehr, der bei Gotthard Günther promoviert hatte, an die UWH geholt. Joseph Ditterich, ebenfalls ehemaliges Mitglied von Günthers Berliner Arbeitsgruppe, kam vorbei und verfasste mit Kaehr zusammen mehrere Beiträge. Humberto Maturana war zweimal zu Gast und hielt Vorträge, ebenso der Physiker und Neurobiologe Christoph von der Malsburg.
Die DoIT, die Deutsche Occam-Interessengemeinschaft der Transputeranwender gastierte mit einer großen Tagung in der Wittener Stadthalle. Damals war der Transputer (Transfer-Computer) der britischen Firma Inmos Ltd. eine geradezu revolutionäre Entwicklung auf dem Gebiet der Computer-Hardware, die den Aufbau paralleler Prozessornetzwerke erlaubt. Auf Initiative von Martin Busch beschäftigten wir uns an der UWH mit Parallelnetzwerken aus Transputern und deren Anwendungsmöglichkeiten, insbesondere mit Simulationen von neuronalen Netzen in der Programmiersprache Occam.
Nach Abschluss meines Physikdiploms an der RUB war ich wie zuvor Martin Busch Eberhard von Goldammer als Assistent in sein Institut für Biophysik und Medizintechnik an der UWH gefolgt. Dabei mutet es reichlich paradox an, dass ich meine Bezüge über den „Projektschwerpunkt Neurokybernetik des Wirtschaftsministeriums des Landes Schleswig-Holstein“ erhielt, der zu der Zeit zum Kern einer Gründungsinitiative für eine privatwirtschaftliche Universität, die Nordische Universität Flensburg/ Neumünster gehörte. Das Bundesland ist im Bereich Medizintechnik traditionell gut aufgestellt. Es gab daher – neben den Wirtschaftswissenschaften – ein starkes Interesse an einer Universitätsgründung mit entsprechendem Schwerpunkt, das bis in Regierungskreise reichte. Das Projekt wurde hierbei über eine medizintechnische Beratungsfirma koordiniert, die ein ehemaliger Doktorand von Goldammers gegründet hatte.
Im Rahmen dieser Aktivitäten sollte zunächst der aktuelle internationale Sachstand von Forschung und Technik im Bereich aktiver, sensorgesteuerter Prothesen erhoben werden. Eberhard von Goldammer und ich besuchten daher 1988 eine Tagung und zwei Kongresse zu Robotik und Prothetik in Kanada. Für ihn war dies eine willkommene Auszeit vom politischen Hickhack an der UWH, eine Mischung aus neuen Anregungen und einer Reise in seine Vergangenheit, denn wir besuchten in Ottawa Prof. Conway.
Auf der Jahrestagung der ASC, der American Society for Cybernetics an der University of Victoria (BC), trafen wir Humberto Maturana wieder und lernten u.v.a. Gordon Pask kennen, der noch selbst an den Macy-Konferenzen teilgenommen hatte und der uns beide durch seinen selbst für einen Briten außergewöhnlich hintergründigen Humor begeisterte:
„I prefer choice number five!“ – „But it isn’t there! You have only four choices.“ – „Yes, because it isn’t there!“
Wissenschaft ist Kommunikation. Wir hielten gemeinsam einen Workshop zu Gotthard Günthers Polykontexturalitätstheorie ab. Im Anschluss kam ein Psychologe aufgeregt auf uns zu und wedelte mit einem Buch: „Das hier müssen Sie unbedingt lesen!“ Es handelte sich um die englische Ausgabe der Evolutionstheorie des Bewussteins des amerikanischen Psychologen Julian Jaynes: „Der Ursprung des Bewusstseins …“. Und in der Tat erweisen sich zum einen Jaynes’ Vorstellungen zur Sprachentwicklung anschlussfähig zu Grundelementen der Polykontexturalitätstheorie Günthers, zum anderen gibt es interessante Berührungspunkte zwischen den Vorstellungen beider zur kulturellen Evolution.
Die Bemühungen um eine Konsolidierung der Nordischen Universität zogen sich über mehrere Jahre hin und waren 1989 entgültig zum Scheitern verurteilt, da sich keine vollständig private Finanzierung finden ließ. Björn Engholm (SPD) hatte schon als Oppositionsführer davor gewarnt, dass die Universität staatliche Förderung benötigen werde, diese jedoch kategorisch ausgeschlossen. Und auch der Versuch, Teile der Initiative zu retten, musste aufgegeben werden, als Engholm 1993 über die Barschel-Affäre stolperte.
ICS, Institut für Kybernetik und Systemtheorie e.V. // FH Dortmund
Eberhard von Goldammer wurde schließlich Professor an der FH Dortmund und unterrichtete dort Biophysik und Informatik bis zu seiner Emeritierung, blieb aber formal Mitglied der Medizinischen Universität zu Lübeck, ein Nebeneffekt der nicht glücklich verlaufenen Nordischen Initiative, die es ihm weiterhin erlaubte, Promotionen abzunehmen.
Um Projekten einen größeren offiziellen Rahmen zu geben, gründete Eberhard von Goldammer mit einigen Freunden und Kollegen das ICS, das Institut für Kybernetik und Systemtheorie als gemeinnützigen Verein. Das ICS war ein virtuelles Institut, deren Mitglieder via Internet miteinander vernetzt waren und das als An-Institut der Technischen Universität Dresden firmierte. Mit von der Partie war Siegfried Fuchs, Ingenieur und Professor für Informatik an der Technischen Universität Dresden, der zu Computervision und künstlicher Intelligenz forschte.
Im ICS schlug sich gewissermaßen die deutsche Wiedervereinigung mit einem besonders interessanten Aspekt nieder. Im Ostblock hatte man die Kybernetik nach anfänglichen Widerständen – man sah sie zunächst als ein ideologisches Machwerk des Klassenfeindes – als den Marxismus bestätigend begrüßt und begonnen, intensive Forschung auf dem Gebiet zu betreiben. „Open minded people“ aus beiden Teilen hatten sich also viel zu erzählen.
Eine inhaltliche Aufarbeitung und Zusammenführung der unterschiedlichen Forschungsansätze in Ost und West fand allerdings de facto nicht statt. So wurde das Zentralinstitut für Kybernetik und Informationsprozesse der Akademie der Wissenschaften der DDR mit der Begründung „brauchen wir nicht“ aufgelöst. Einzelne Abteilungen wurden entweder geschlossen oder in andere Institutionen integriert. Wir hatten gemeinsam ein Institut gegründet! Als Gründungsmitglied konnte u.v.a. Prof. em. Alfred Locker gewonnen werden, der einen Lehrstuhl für theoretische Biophysik an der TU Wien innehatte. Die erneute Aufbruchstimmung war auf dem Dresdner Symposium „Kybernetik und Systemtheorie – Wissenschaftsgebiete der Zukunft?“ im November 1991 deutlich spürbar.
Mit dem ICS als Institution und der damaligen Berliner Firma Brainware GmbH konnte Eberhard von Goldammer mehrere Verträge für von der Europäischen Union geförderte Projekte gegenzeichnen. Es handelte sich dabei um StatLog (ESPRIT II project 5170: Comparative testing and evaluation of statistical and logical learning algorithms on large-scale applications to classification, prediction and control) und PAPAGENA (ESPRIT III project 6857: Programming Environment for Applications of Parallel Genetic Algorithms), in deren Rahmen ich – nunmehr voll finanziert – meine Dissertation verfassen konnte. Ohne ihn wäre das nicht möglich gewesen.
Denken und Schreiben …
Nach meiner Promotion ging ich eigene, zunächst freiberufliche Wege, bevor ich dann 1998 eine Position als wissenschaftlicher Referent am Medienzentrum Rheinland annahm, heute LVR-Zentrum für Medien und Bildung, eine Dienststelle des Landschaftsverbandes Rheinland.
Wir hielten Kontakt und besuchten gelegentlich Tagungen miteinander. Und aus dem „Sie“ wurde ein „Du“. Auf einem vom Wissenschaftszentrum NRW in Düsseldorf veranstalteten Kongress zur Hirnforschung trafen wir Humberto Maturana wieder und lernten Heinz von Foerster persönlich kennen. Und bei einem Kybernetik-Treffen in Amsterdam kam es zu einem intensiven Vierer-Gespräch mit Gordon Pask und seinem ehemaligen Doktoranden Ranulph Glanville, das erst nachts um Drei in einer Amsterdamer Bar endete.
Eberhard von Goldammer konnte sich – nunmehr unbelastet von irgendwelchem universitätspolitischen Hickhack und anderen ideologischen Stressfaktoren – neben seiner Lehrtätigkeit an der FH Dortmund frei und natürlich transdisziplinär der Wissenschaft und dem wissenschaftlichen Schreiben widmen.
Gemeinsam, zu zweit und mit anderen veröffentlichten wir eine ganze Reihe von Aufsätzen, die die Probleme der formalen Beschreibung von Lebensprozessen und lebenden Systemen stellen und sichtbar machen. Hervorgehoben werden kann ein Aufsatz zu „Autonomie in Biologie und Technik„, der in einem Jahrbuch zu Komplexität in Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften publiziert wurde. Wir nahmen dabei Bezug auf grundlegende Arbeiten von Humberto Maturana, Francisco Varela, Gregory Bateson und Heinz von Foerster.
Die derzeit noch recht unerprobten kulturtechnischen Möglichkeiten des Internet nutzend gründete ich mit dem Düsseldorfer Philosophen Larry Steindler das eJournal www.vordenker.de, ein „Webforum für Innovatives in Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur“, das im September 1996 an den Start ging. Selbstverständlich lud ich auch Eberhard dazu ein, diese Plattform fürs Publizieren und sich mit Anderen Austauschen zu nutzen und er machte regen Gebrauch davon, wurde zu einem festen Autor.
Sein Schreiben wendet sich nun immer mehr der erneuten Reflexion – heute stehen dafür die Begriffe „re-reading“ oder „close reading“ – der Werke von Gotthard Günther zu. 2002 hatten wir das große Vergnügen, zusammen das „Das Bewusstsein der Maschinen“ anlässlich des 50. Jahrestags der Erstauflage 1952 in einer erweiterten dritten Auflage mit einer umfangreichen Einführung erneut im AGIS-Verlag herausgeben zu können. Zudem erhielten wir die Genehmigung, einen Schlüsselaufsatz Günthers, „Erkennen und Wollen“ dem Anhang hinzuzufügen. Bei einem gemeinsamen Besuch in Berlin in der Staatsbibliothek sichteten wir einige bislang unpublizierte Texte aus dem Nachlass des Philosophen.
Seine nach dieser Herausgeberschaft verfassten Aufsätze, die oft bescheiden mit „Anmerkungen zu“ oder „Annotationen zu“ beginnende Titel tragen, sprechen eine eigene Sprache. Vor dem Hintergrund des im wissenschaftlichen Mainstream sich ganz allmählich aufweichenden aber immer noch vorherrschenden Methodendualismus und der tiefen Überzeugung, dass „Ganzheit nur durch eine Vielheit von einander vermittelnden Positionen […] beschrieben werden kann“, diese Formulierung stammt aus dem bereits genannten und zusammen mit Rudolf Kaehr verfassten Aufsatz „Transdisziplinarität in der Technologieforschung und Ausbildung“, ringt er um erweiterte Zugänge zum Güntherschen Werk. Das macht er nicht für sich, denn seine Zugänge hat er längst, sondern für Studierende und bildungsaffine BürgerInnen aller Fakultäten, um ihnen die Polykontexturalitätstheorie näherzubringen.
Die besondere Herausforderung besteht hierbei darin, einerseits Geisteswissenschaftlern die formalen Aspekte des Güntherschen Werks verständlich darzustellen und andererseits den oft positivistisch vorgeprägten Naturwissenschaftlern dialektisches Denken schmackhaft zu machen. Gelegentlich bricht sich auch seine „wütende Gelassenheit“ Bahn. „Lest verflixt nochmal diesen Günther. Ihr wisst ja nicht, was Euch entgeht!“
Mit Rudolf Kaehr können wir dazu fragen, warum soll ein rationaler Gedanke nicht von der „vorsprachlichen Wucht eines Gefühls“ begleitet sein, warum ein Gefühl nicht von einem „ebenso mächtigen Gedanken“ begleitet werden können? „Warum soll das Denken dem Fühlen nicht standhalten können – und umgekehrt?“[6] In gewissem Sinne wäre damit ja einer Ganzheit Genüge getan. Die Lehrtätigkeit und die Kommunikation mit Studierenden dürfte ein Übriges zu der zunehmenden Griffigkeit seiner Texte beigetragen haben.
Auf der Hintergrundfolie des Güntherschen Werkes erschloss Eberhard von Goldammer sich eine ganze Reihe von Autoren neu und schrieb darüber für das eJournal und einige Druckveröffentlichungen. Hier ist vor allem der Kommunikationswissenschaftler und Medienphilosoph Vilém Flusser zu nennen, auf den er u.a. in seinem Aufsatz „Zeit – Mehrzeitigkeit – Polyrhythmie oder das polylogische Orchestrion“ Bezug nimmt. In diesem Titel verrät sich zudem der Musiker.
Und ich darf an dieser Stelle meinem Bedauern Ausdruck geben, dass er nicht mehr dazu kam, das Werk des britischen Physiologen und Begründers der Systembiologie, Denis Noble (The Music of Life – Biology Beyond Genes, Dance to the Tune of Life) zur Kenntnis zu nehmen, der ebenfalls Musiker ist und der mit brillanter Rhetorik und ausgesucht argumentativer Schärfe den genetischen Determinismus und Reduktionismus kritisiert. Das hätte ihm tiefe Freude bereitet.
Gemeinsam besuchten wir Veranstaltungen im Rahmen des Bochumer Kolloquiums Medienwissenschaft an der RUB, aus der Taufe gehoben von Erich Hörl. Dort konnten wir dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy beim Denken förmlich zusehen. Nicht weniger beeindruckend war ein technikphilosophischer Vortrag des Komparatisten und Literaturtheoretikers Werner Hamacher.
So um 2010 „entdeckt“ er den schwedischen Theologen und Religionswissenschaftler John Cullberg und dessen Kritik an der zu armen abendländischen Ontologie, in der das „Du“ fehlt und setzt den Autor gleich in Beziehung zu Günthers Begriff der über mehrere Ich-Zentren verteilten Subjektivität.
Das Werk des britisch-amerikanischen Philosophen Stephen Toulmin „Kosmopolis – Die unerkannten Aufgaben der Moderne“ nimmt er zum Anlass zu einem Exkurs über Leibniz’ Projekt einer Universalschriftsprache und interpretiert ein solches oder solche Vorhaben als notwendig zu berücksichtigende Bedingung auf dem Weg zu einer planetaren Zivilisation.
Seine Texte werden zunehmend politischer. Zudem ist er fasziniert vom Aufstieg Chinas. Er beschäftigte sich – schon seit den 90ern – intensiv mit dem Werk des britischen Biochemikers und Sinologen Joseph Needham. Als ich 2012 für fünf Jahre als Abgeordneter (Piratenpartei) in den Landtag von NRW einzog, nahm er daran aktiv Anteil und besuchte mich mehrfach dort. Zu einem kleinen öffentlichen Kongress „Zukunft der Ökonomie – Ökonomie der Zukunft“ (Mai 2015) lud ich ihn als Vortragsredner ein. Er sagte sofort zu. Sein Beitrag trug als Titel eine Frage, „Welches Wissen? Welche Gesellschaft?„. Ausgehend von Überlegungen des Sozialphilosophen André Gorz sprach Eberhard von Goldammer über gesellschaftlichen Wandel durch Technologie und Wissenschaft, gefolgt von einem regen konstruktiven Dialog mit Personen aus dem Publikum.
Das letzte größere gemeinsame Projekt war das Aufbereiten des digitalen Archivs der Arbeiten von Rudolf Kaehr, der 2016 verstarb. 2019 veröffentlichte Eberhard von Goldammer noch zwei äußerst verdichtete Darstellungen der Polykontexturalitästheorie in einer kurzen und einer längeren Version.
„Komplexität (lateinisch complexum, Partizip Perfekt Passiv von complecti „umschlingen“, „umfassen“ oder „zusammenfassen“) bezeichnet eine große Anzahl und Unterschiedlichkeit von Elementen, die untereinander in vielfältigen Wechselbeziehungen, Strukturen und Prozessen in einem Gesamtzusammenhang stehen.“
Im allgemeinen Sprachgebrauch wird der Begriff Komplexität eher lax verwendet. Da meint „komplex“ in der Regel „sehr oder besonders kompliziert“. Das ist wenig hilfreich und hat keine Trennschärfe.
Die kürzeste Definition, die ich kenne, ist bislang nicht schriftlich veröffentlicht. Sie stammt aus einem Telefonat mit Eberhard von Goldammer am 14.04.2011 (sagt mein Zettelkasten):
„Ein komplexes System ist ein System, dessen formale Beschreibungskriterien sich nicht auf eine Kontextur reduzieren lassen.“
Und „Kontextur“ kann man nachschlagen.
Forschen, das heißt, regelmäßig Ausflüge an die Grenzen des eigenen Verstehens zu machen, alles andere ist Verwalten.
Eberhard von Goldammer hat mich eingeladen, dies mit ihm gemeinsam zu tun. Das hat auch mein Leben und Denken reicher gemacht.
Seine schriftlichen Arbeiten – sofern möglich – weiterhin für eine interessierte Öffentlichkeit zur Verfügung zu halten, ist das Mindeste, was ich tun kann. [Link zur Bibliographie]
Eberhard von Goldammer verstarb am 27. Mai 2024 in Herne. Er hinterlässt seine Frau, zwei Söhne und zwei Enkel.
Joachim Paul, Neuss, Ende Juli 2024
Quellen
[1] Gregory Bateson, „Geist und Natur – Eine notwendige Einheit„, Frankfurt a.M. 1982, S. 37 [2] Herbert Hensel, „Zum Verhältnis von Anthroposophie und Hochschule.“ In: Uwe Stave i.A. der Freien Europäischen Akademie der Wissenschaften (Hrsg.): „Wissenschaft und Anthroposophie. Impulse für neue Wege der Forschung.“ Urachhaus Verlag, Stuttgart 1989, S. 70–77 (Manuskript vom 1.12.1982). [3] W.Ross Ashby, Einführung in die Kybernetik, S. 7 An Introduction to Cybernetics, London 1957, p. 1 http://pespmc1.vub.ac.be/books/IntroCyb.pdf [4] Heinz von Foerster et al (1974): Cybernetics of Cybernetics, The Control of Control and the Communication of Communication, Univ. of Illinois, Urbana, Ill., S. 1 [5] Jan Müggenburg, Lebhafte Artefakte – Heinz von Foerster und die Maschinen des Biological Computer Laboratory, Konstanz 2018, S.37 [6] Rudolf Kaehr, Welt-Entwurf durch Sprache – Diamondstrategies; Glasgow 1997, S. 28; online: https://www.vordenker.de/rk/rk_Diamond-Strategies_Weltentwurf-durch-Sprache_1997.pdf
Des Weiteren wurden aus demselben Anlass und unter dem Titel „Die haben Kant nicht ordentlich gelesen …. eine ganze Reihe Zitate – nicht von besagtem Geburtstagskind sondern über es – zusammengestellt vom Herausgeber. Mit dabei sind Paul Alsberg, Dirk Baecker, Claus Baldus, Stafford Beer, Markus Gabriel, Gotthard Günther, Oskar Negt, Kitaro Nishida, Rainer Paslack, Corine Pelluchon und Stephen Toulmin.
Claus Baldus beehrt uns mit einer tief und nahe gehenden sowie nicht notwendigerweise seriell zu lesenden
Text-Bild-Komposition leben – lieben – lachen – zwei sterne unterwegs. Wenn man so will, ein road movie mit Bewegtbildern nur im Kopf – eine der Assoziationen des Herausgebers – oder, wie der Verfasser sagt, ein „rhapsodischer Text“, der „jedenfalls nicht komplett durch Platon-Hegel-Freud-Maschine „Erinnerung / Rationalisierung“ durchgearbeitet“ ist. „Philosophie live – oder – um einen Begriff aus der Chemie zu borgen, Philosophie „in statu nascendi“ – im Zustand des Geborenwerdens.
Willy Bierter übersandte einen neuen Text, „Die „zweite Maschine“ – Im Spiegelkabinett von Mensch, Digitalisierung und Künstlicher Intelligenz“. „Zweite Maschine“ ist bewusst in Anführungszeichen gesetzt und eine Anlehnung an Gotthard Günthers Edition und Nachwort zu Isaac Asimovs deutscher Erstausgabe von „I Robot“, Ich, der Robot“, Düsseldorf und Bad Salzig 1952. Bierters Aufsatz führt die Lesenden durch die technische Menschheitsgeschichte, sofern sie durch einen Maschinengebrauch geprägt ist. Der Autor referenziert dabei stark auf den umfassenden Maschinenbegriff, den der Kulturwissenschaftler Martin Burckhardt in seiner „Philosophie der Maschine“ entwickelt hat. Gleichermaßen durch Gotthard Günthers Gedankengut geprägt wird Bierters Essay geradezu ein Rundumschlag zur Maschinengeschichte. Von den Anfängen der Schrift, vom syrischen Stier im Aleph über chinesische Schrift, über Beschreibung und Kritik des Computers sowie gesellschaftskritische Überlegungen bis hin zu den Einlassungen Rudolf Kaehrs beleuchtet Bierter die große Herausforderung des Menschen durch seine eigenen technischen Artefakte. Können wir unseren digitalen Golems entgehen?
Den Abschluss bildet ein bereits vor einigen Tagen als Blogbeitrag erschienender Aufsatz von Joachim Paul, „Künstliche Dummheit – Nicht-triviale Maschinen und der Fluch der Rekursion“. In ihm geht Paul der Frage nach, was es mit den Meldungen und Studien zu dümmer werdenen KI-Systemen, sowohl Bildgeneratoren als auch große Sprachmodelle, auf sich hat.
Viel Spaß beim Lesen, bleiben Sie gelassen, herzlich, Ihr Nick H. aka Joachim Paul
Das Wiegenfest des designierten Vaters der Aufklärung jährt sich am Montag den 22. April 2024 zum 300sten Mal, ein stolzes Alter für einen gerade jetzt in Zeiten der umsichgreifenden Antiaufklärung aktuellen Philosophen, mag manch philosophieaffiner Mitmensch denken.
Aus diesem Anlass gibt es hier einen kleinen Blumenstrauß aus weniger bekannten Zitaten und Textschnipseln, nicht von sondern über Kant.
Versammelt sind hier Paul Alsberg, Dirk Baecker, Claus Baldus, Stafford Beer, Markus Gabriel, Gotthard Günther, Oskar Negt, Kitaro Nishida, Rainer Paslack, Corine Pelluchon und Stephen Toulmin.
Der Titel dieser Mini-Sammlung, „Die haben Kant nicht ordentlich gelesen“, entstand
aus einem Satz eines Gotthard Günther-Zitates und kann hier auch als Platzhalter für die üblichen Streitereien innerhalb der kontinentalen Philosophie verstanden werden. So warf beispielsweise der Komparatist Werner Hamacher Hans Blumenberg vor, dass er Aristoteles’ Nikomachische Ethik nicht ordentlich gelesen habe.[1] Hermann Schmitz wiederum warf Günther vor, Hegel nicht ordentlich gelesen zu haben [2], etc., kurz, es scheint ein akademisches Naturgesetz zu sein, dass es immer einen Philosophen X gibt, der einem Philosophen Y vorwirft, einen Philosophen Z „nicht ordentlich gelesen“ zu haben.
Dabei ist allgemein bekannt, dass auch in Philosophiekreisen Werke anderer – nicht zugegeben – häufig nur „diagonal“ gelesen, „überflogen“ oder nach gerade zu eigenen Absichten passenden Textstellen durchsucht werden, etc., sodass die Formulierung „nicht ordentlich gelesen“ vordergründig betrachtet gerade noch als höflich interpretiert werden kann. Nicht selten wird aber hinter „nicht ordentlich gelesen“ eher ein „überhaupt nicht verstanden“ oder gar ein „in Grundzügen missverstanden“ versteckt.
Dem „Shooting Star“ der deutschen akademischen Philosophie, Markus Gabriel, möchte ich so etwas allerdings nicht unterstellen, obwohl er sich unlängst in einem Zeit-Interview zu der Bemerkung herabließ, Kant sei selbst kein aufgeklärter Mensch, sich aber gleichwohl der Notwendigkeit zur Aufklärung bewusst gewesen [3]. Aus dieser Aussage kann geschlossen werden, dass sich dahinter möglicherweise eine Art des Verständnisses verbirgt, die Aufklärung eher als Zustand und weniger als stetigen Prozess begreift.
Aber vielleicht ist das zu hoch gegriffen und Gabriels Bemerkung ist lediglich dem geschuldet, was das Feuilleton der Zeitschrift Jungle World schon 2013 den „Bengel-Faktor“ nannte.[4] Man mag hinzufügen, dass heutzutage im Zeitalter der im Dienste der kapitalistischen Ordnung stehenden Aufmerksamkeitsökonomie auch philosophische Einlassungen nicht selten zwischen kalkulierten Frechheiten und gleichermaßen geradezu provokant Offensichlichem changieren können.
Die diesem Beitrag seinen Titel gebende Formulierung taucht in einem Interview auf, dass Gotthard Günther kurz vor seinem Tod 1984 seinem ehemaligen Mitarbeiter und Promovenden Claus Baldus gab, „Phaidros und das Segelflugzeug: Von der Architektonik der Vernunft zur technischen Utopie“[5]:
Claus Baldus, CB: Sie sind von der indischen Philosophie zunächst zu Kant übergegangen, dann von Kant weiter zu Hegel. Warum sind Sie weiter zu Hegel gegangen? Viele andere moderne Denker sind ausdrücklich bei Kant stehen geblieben.
Gotthard Günther, GG: Die haben Kant nicht ordentlich gelesen. Wenn sie die Passage, die in seiner „Kritik der reinen Vernunft“ von der „Amphibolie der Reflexionsbegriffe“ und vom „transzendentalen Schein“ handelt, gelesen hätten, dann hätten sie gesehen, daß man ohne Dialektik nicht durchkommt. Was ist der Mechanismus, der den Schein produziert, der unser Denken immer wieder irritiert? und zwar in einer Art des Betrugs, der „unhintertreiblich“ ist, wie Kant wörtlich sagt. Der Schein entsteht, wenn ich über das Subjekt rede, denn ich kann nicht anders über das Subjekt reden, als daß ich es als Gegenstand nehme, daß heißt indem es Objekt für mich wird, und damit nicht mehr das ist, was es ist. Das Reden, Urteilen über ein Subjekt verkehrt es in sein Gegenteil. Selbst wenn ich diesen Schein für mich aufgedeckt habe, unterliege ich ihm weiter, kann nicht heraus aus ihm.
CB: Sie haben eben gesagt, Kant habe festgestellt, daß dem Subjekt, wenn es über sich selbst nachdenken will, nichts anderes übrig bleibt, als sich selbst zum Objekt zu machen und sich damit scheinhaft zu verkleiden. Was war der Fortschritt, den Fichte, Hegel und Schelling gegenüber Kant in dieser Situation erreichten?
GG: Kant war der kritische Wegbereiter, der das Problem aufgewiesen hat, Fichte und Hegel haben eine systematische Theorie darauf aufgebaut. Sie haben die Dialektik der Ding- und Selbsterfahrungen des Bewußtseins, des Verhältnisses von Subjekt und Objekt, Sein und Nichts, Wesen und Schein, Einheit und Vielheit usw. systematisch entwickelt. Ich muß Ihnen allerdings sagen, daß ich Fichte im Grunde genommen erst nachträglich durch Gehlens „Theorie der Willensfreiheit“ entdeckt habe. Ich fing von vornherein mit Hegel an. Ich fand damals gleich, obwohl mich einige Sachen von Fichte wie die „Anweisung zum seligen Leben“ stark fesselten: wenn man – und das lag in mir irgendwie drin – exakt sein wollte, wenn man eine exakte Theorie der zwischen Subjekt und Objekt wirksamen Dialektik entwickeln wollte, dann mußte man versuchen, diese Exaktheit bei Hegel rauszukriegen. Hegel ist weiter gegangen als Fichte. Ich glaube, ich hab’s jetzt raus, das Bindeglied zwischen Sein und Nichts, aber das hat mich sechzig Jahre gekostet. Was Schelling betrifft, immer wieder, wenn ich ihn lese, ärgere ich mich über ihn: „Man sieht’s doch, nun sag’s doch mal deutlich, verdammt noch mal!“ Aber nichts zu machen. Nein, so kann man nicht denken. Er war der Romantiker unter den Idealisten, und wie bei allen Romantikern blieb sein Denken fragmentarisch. Sein Hauptwerk, die „Weltalter-Philosophie“, ist unvollendet geblieben, ist Fragment. Allerdings halte ich daran fest, daß es bei Schelling eine relevante Problematik gibt, sehr sogar. Das sind tastende Versuche gewesen auf der einen Seite von Fichte, auf der anderen von Schelling. Aber die sind genauso im Nebel herumgetappt wie ich, bei Hegel gibt es doch wenigstens Anhalte.
Kant ist also ein Wegbereiter, auf dessen Basis dann die Idealisten, wie Günther sagt „im Nebel“ weiter herumtappten.
Das Kants Werk auch weit in die Naturwissenschaften hinein ausstrahlte, dürfte hinreichend bekannt sein, weniger aber, dass dies auch für neuere Begrifflichkeiten gelten mag, die erst ab Mitte des 20 Jh. in den Fokus wissenschaftlicher Aufmerksamkeit gerieten. Der Humanbiologe und Philosoph Rainer Paslack ist in seiner „Urgeschichte der Selbstorganisation“ diesem Begriff auf der Spur, für den er einen ersten neuzeitlichen Anker bei Kant sieht:
„Der Gebrauch des Ausdrucks „Selbstorganisation“ im modernen Sinne ist (mindestens) bis I. Kant (1724-1804) zurückzuverfolgen, der sich in der „Kritik der Urteilskraft“ von 1790 mit der internen Zweckmäßigkeit in der Natur, also ihren systemischen Eigenschaften auseinandersetzte. Das besondere Denkproblem bestand fur Kant darin, fur die Erklärung der Zweckmäßigkeit die Zwecke selbst nicht heranzuziehen, da diese nicht weniger »blind« wirken und bewirkt werden wie alle anderen kausalen Wechselwirkungen. Die begriffliche Lösung, die Kant anbot, steht in einer gewissen Nähe zu den heutigen Theorien der Autopoiesis (Maturana/Varela) und Selbstorganisation:
„In einern solchen Produkte der Natur wird ein jeder Teil, so, wie er nur durch alle übrige da ist, auch als um der andern und des Ganzen willen – existierend, d. i. als Werkzeug (Organ) gedacht: welches aber nicht genug ist (denn er könnte auch Werkzeug der Kunst sein, und so nur als Zweck überhaupt moglich vorgestellt werden); sondern als ein die andern Teile (folglich jeder den andern wechselseitig) hervorbringendes Organ, dergleichen kein Werkzeug der Kunst, sondern nur der allen Stoff zu Werkzeugen (selbst denen der Kunst) liefernden Natur sein kann: und nur dann und darum wird ein solches Produkt, als organisiertes und sich selbst organisierendes Wesen [Hervorhebung: R.P.], ein Naturzweck genannt werden können“.[K1]
Der Ausdruck »Selbstorganisation« wird hier auf das Vermögen der Natur angewandt, scheinbar zweckgerichtet Ordnung (wie etwa Planetensysteme [K2] oder Organismen) hervorzubringen. Kant vereinigt hier bestimmte Ideen Descartes‘ und Newtons in seiner Vorstellung, daß die Materie in sich ein Bestreben trägt „sich zu bilden“.“[6]
Der Kybernetiker Stafford Beer geht noch einen Schritt weiter, er bezieht sich in seinem Vorwort zu „Autopoiesis – The Organization of the Living“ (dt.: Autopoietische Systeme: eine Bestimmung der lebendigen Organisation) – von Humberto Maturana und Francisco Varela auf Kant und nutzt ihn gleich, um – ganz im Sinne der gerade in den 50er Jahren des 20. Jh. neu aufgekommenen Kybernetik gegen Kategorien- und Schubladendenken in den wissenschaftlichen Disziplinen zu argumentieren:
„Die Revolte der Rationalisten ‑ Descartes, Spinoza, Leibniz ‑ entsprang einem Prinzip des „methodischen Zweifels“. Sie verlor sich jedoch in den Mechanismus, in Dualismus und immer weitere Kategorisierungen, und endete schließlich mit der Leugnung jeder Relation schlechthin. Relationen sind jedoch der Stoff, aus dem Systeme gemacht werden. Relationen sind auch das Wesen aller Synthese. Die Revolte der Empiristen ‑ Locke, Berkeley, Hume ‑ entsprang der Problematik des Verstehens der Umwelt. Analyse war jedoch immer noch die Methode und Kategorisierung immer noch das praktische Werkzeug des Fortschritts. In dem bizarren Ergebnis dieser Geschichte ‑ die Empiristen kamen so weit, die tatsächliche Existenz der empirischen Welt zu leugnen ‑ überlebte die Relation, ‑ aber nur im Begriff der geistigen Verknüpfung geistiger Ereignisse. Das System „draußen“, das wir Natur nennen, war in dem Prozeß vernichtet worden.
Als sich schließlich Kant mit seinem überragenden Geist an die Aufklärung dieser Probleme machte, war die Schlacht bereits verloren. Wenn nämlich ‑ und ich zitiere ihn ‑ unbewußtes Verstehen die Sinneserfahrung in Schemata, bewußtes Verstehen sie dagegen in Kategorien organisiert, dann bleibt der Begriff der Identität für immer transzendental. [….]
Wenn dies aufgrund meiner Bemerkungen über Kant zu bedeuten scheint, daß es die Disziplinen auslöscht, dann sind wir bereits einen Schritt weiter. Da nämlich liegt mein Glaube an die allgemeine Bedeutung dieser (Maturanas und Varelas, Anm. JP) Arbeit. Die Auflösung der von mir beschriebenen verfahrenen Situation des Disziplinensystems muß meta-systemisch erfolgen, nicht bloß interdisziplinär. Wir haben kein Interesse an der Bildung einer Liga disziplinärer Paranoiker, wir sind vielmehr (wie Hegel uns gesagt hätte) an einer höheren Synthese der Disziplinen interessiert.“[7]
Kant also liefert Beer zufolge auch den Anlass für eine wissenschaftlich-methodische Revolution, eine neue Kultur des Denkens, so wie sie in der aufkommenden Kybernetik gefordert wurde.
Führende Vertreter der neuen Denkkultur der Kybernetik vertreten die Auffassung, dass nicht ausschließlich der Mensch allein das eigentliche Subjekt der Geschichte sei, sondern das Universum selbst, weil es Leben und darauf basierend Reflexionsprozesse und Bewusstsein hervorbringen kann.
Diese Gedankengänge implizit stützend weist der britisch-amerikanische Philosoph Stephen Toulmin in seinem Grundlagenwerk „Kosmopolis – Die unerkannten Aufgaben der Moderne“, in dem es ihm ausdrücklich nicht um ein Wissenschaftsverständnis geht, wie es die „modernen Positivisten verstehen, sondern um eine Kosmopolis, die ein umfassendes Weltbild liefert und die Dinge ebensowohl ›politisch‑theologisch‹ wie wissenschaftlich oder erklärend zueinander in Beziehung setzt“, auf diese Weiterung unseres Geschichtsbegriffs als eine Notwendigkeit hin. Er leistet dies durch einen Hinweis auf ein kritisches Argument Kants:
Kant begann seine Kritik des damaligen Weltbildes in der Allgemeinen Naturgeschichte… (1755) mit dem Argument, die Natur habe so gut wie die Menschheit eine Geschichte.“[8]
Der lange in Vergessenheit geratene und durch Dieter Claessens und Peter Sloterdijk wiederentdeckte jüdische Anthropologe und Arzt Paul Alsberg prägte in seinem Werk „Das Menschheitsrätsel“ den Begriff der Körperausschaltung als notwendigen zweiten Begriff neben dem der (Körper-)Anpassung. Mit dessen Hilfe konnte nun – im Unterschied zum körperlich ideal an die Umgebung angepassten Tier – an eine Weichenstellung innerhalb der menschlichen Evolution gedacht werden. Alsberg sieht bei Kant eine Vorahnung einer Einheit von Kultur und Natur, wenn er schreibt:
„Der große deutsche Philosoph Kant, der auch schon eine „Naturgeschichte“ der Himmelskörper schrieb; drang sogar zu der weittragenden Gedankenkonzeption vor, daß der Ausgang des Menschentums im Übergang „aus dem Gängelwagen des Instinkts zur Leitung der Vernunft, aus der Vormundschaft der Natur in den Stand der Freiheit“ zu erblicken sei. Hier wird schon die Einheit von Kultur und Natur vorgeahnt. Denn indem der Mensch sein „größtes“ Problem, das einer „allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft“, zur Lösung zu bringen versucht, handelt er im Sinn der Natur, führt er in Bewußtheit seine natürliche Entwicklung fort. Somit decken sich die idealen Ziele der Menschheit, als der philosophische Ausdruck eines tiefen „biologischen“ Bedürfnisses, mit den natürlichen Zielen der Menschheitsentwicklung.“[9]
Unter der Frage „Was ist Kultur?“ richtet der Soziologe Dirk Baecker den Fokus auf den inneren Gegensatz der den Menschen gleichermaßen glücklich und unglücklich machenden Kultur, ersteres im Unterschied zur Not der Tiere, zweiteres durch Unterwerfung der spielerischen Natur des Menschen unter künstliche Regeln, und verweist auf die Kantische Konsequenz aus eben jenem Gegensatz:
„Viertens: Kultur ist die Hervorbringung der Tauglichkeit eines vernünftigen Wesens zu beliebigen Zwecken überhaupt. So der Philosoph Immanuel Kant, der diese Tauglichkeit als eine Kombination von Geschicklichkeit, Willen und Freiheit vom Despotismus der Begierden des näheren beschrieben hat.[K3] Kant zieht so bereits die Konsequenz aus der Gegensätzlichkeit der ersten beiden Bestimmungen und aus der Einsicht in das Historische der Kultur in der dritten Bestimmung. Der Kultur verdanken wir die Fähigkeit, etwas aus uns zu machen, zu unserem Glück und zu unserem Unglück, abhängig von der Zeit und den Umständen, in denen wir leben, und auf die Spur gebracht von der Einsicht in die historische Kontingenz unserer Umstände.“[10]
Eine Erneuerung der Aufklärung, oder wenn man so will eine Aufklärung 2.0, gehört zum Programm der französischen Philosophin Corine Pelluchon. Im Absatz „Vernunft und Wertschätzung“ des Kapitels 6 „Europa als Erbe und Verheißung“ ihres Werks „Das Zeitalter des Lebendigen – Eine neue Philosophie der Aufklärung“ warnt sie mit Kant eindringlich vor der Verachtung unserer Rationalität und vor Propheten:
„Der Intuitionismus stützt sich dagegen auf eine intellektuelle Intuition, die uns in unmittelbaren Kontakt mit der absoluten Wahrheit bringen soll. Heutzutage handelt es sich häufig um eine Reaktion auf das kalte Universum der Technowissenschaft, aber seine Verachtung für die Rationalität, sprich: sein Irrationalismus, rechtfertigt, dass man ihn in die Nähe des Illuminismus oder der Schwärmerei rückt, wie Kant es nennt und damit den Anspruch, das Übersinnliche zu verstehen, anprangert. Der Illuminismus ist gefährlich, weil er die Subjekte häufig dazu treibt, auf eine Persönlichkeit zu vertrauen, die sie für eine Art Propheten halten.“[11]
Oskar Negt, der im Februar diesen Jahres verstorbene Soziologe und Sozialphilosoph, macht das ganz große Fass des Immanuel Kant als Zeiten wendenden Denkers auf, wenn er zur Würde des Menschen schreibt:
„Erst im Denken Kants wird Würde zu dem, was Grundlage aller übrigen Persönlichkeitsrechte ist. Moralität und Legalität, diese zwei im Streit liegenden, aber untrennbaren Bewegungsrichtungen menschlicher Daseinsweise, beziehen ihre Geltungskraft aus einer gemeinsamen Ursprungsquelle: der mit Selbstbestimmung verknüpften Freiheitsfähigkeit, die Autonomie zum prägenden Sinngehalt hat. Würde hat keinen Preis, sagt Kant. Sie ist Ziel und Inhalt jeden menschlichen Verhaltens, weil sie aufrechten Gang in der Haltung und aufrichtiges Denken im Geiste bezeichnet.“[12]
Da fehlt nichts. Aufrechter Gang, aufrichtiges Denken, Haltung. Würde hat keinen Preis. Auch nicht in einer kapitalistischen Ordnung. (Die haben Kant nicht ordentlich gelesen.)
Es begann im Metaphysischen mit der Amphibolie der Reflexionsbegriffe. Den Abschluss dieser höchst unvollständigen Sammlung über Kant macht Kitarō Nishida, der Vater der Kyoto-Schule und Begründer der modernen japanischen Philosophie. Mit ihm und seiner Frage nach dem Ort des Bewusstseinsaktes kehren wir zurück in metaphysische Denkzusammenhänge.
„Das Bewußtsein, das bei Kant durch die Sinnlichkeit den Inhalt des Wissens in sich aufnimmt, muß der Ort des gegensätzlichen Nichts sein, der ein bloß reflektierender Spiegel ist, so daß sich in diesem Ort die Welt der Sinnlichkeit zeigt. Das Bewußtsein überhaupt ist aber nicht ein Bewußtsein in diesem Sinne, sondern muß der Ort sein, in dem sich auch der Bewußtseinsakt befindet. Es ist ein Nichts, das auch das gegensätzliche Nichts umfaßt und somit ein Spiegel, der nicht ein von außen [Gegebenes ab]spiegelt, sondern ein Innen [aus]spiegelt. Alles in diesem Ort Befindliche wird damit zu etwas Geltendem. Im Ort des wahren Nichts muß das Geltende zugleich auch das Existierende sein.“[13]
Und der, an dessen Gedanken sich diese Gedanken entzündeten, ist heute 300 Jahre alt.
[2] Hermann Schmitz, Rezension Gotthard Günther: Idee und Grundriß einer nicht-Aristotelischen Logik Erster Band: Die Idee und ihre philosophischen Voraussetzungen. Hamburg 1959. Felix Meiner, 417 S., Phil. Rundschau 9 (1961) 283-304, https://www.vordenker.de/ggphilosophy/schmitz_rezens-idee-grundr.pdf
[5] Claus Baldus, Phaidros und das Segelflugzeug: Von der Architektonik der Vernunft zur technischen Utopie – Aus Gesprächen mit Gotthard Günther, aus: DAS ABENTEUER DER IDEEN, Architektur und Philosophie seit der industriellen Revolution, Internationale Bauaustellung 1987, S. 69-83, online: https://www.vordenker.de/ggphilosophy/phaidros.pdf
[6] Rainer Paslack, Urgeschichte der Selbstorganisation: zur Archäologie eines wissenschaftlichen Paradigmas, Braunschweig, Wiesbaden, 1991, S. 20-21
Kant-Quellen bei Paslack: [K1] I. Kant, Kritik der Urteilskraft, 65, B 291 f. [K2] So versuchte Kant in seiner 1755 erschienenen Schrift »Allgemeine Natur-geschichte und Theorie des Himmels, oder Versuch von der Verfassung und dem mechanischen Ursprunge des ganzen Weltgebaudes nach Newtonischen Grundsatzen abgehandelt« die Entstehung des Planetensystems durch einen Vorgang der Akkretion aus einem rotierenden chaotischen Urnebel abzuleiten (»Nebularhypothese«): Stöße zwischen den sich ungeordnet bewegenden Gas- und Staubteilchen im Verein mit der zwischen ihnen wirkenden Gravitationskraft fiihren zu lokalen Zusammenballungen unterschiedlicher Massengröß, woraus ein dynamisch ausbalanciertes Vielkörpersystem (eben das Planeten- oder Sonnensystem) mit der Sonne als Zentralkörper hervorgeht. Dieser Vorgang der Selbstordnung zahlloser Materiepartikel zu einem wohlgeordneten Gefiige weniger wechselwirkender Massen dient Kant als Paradigma für die unaufhorliche materielle Selbstorganisation des Universums nach mechanischen Prinzipien am Rande eines unendlichen Chaos.|→ff.
[7] Stafford Beer, Vorwort zu Autopoietische Systeme: eine Bestimmung der lebendigen Organisation, in Humberto Maturana, Francisco Varela, „Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit“, Wiesbaden 1985, S. 171-173
[8] Stephen Toulmin Kosmopolis – Die unerkannten Aufgaben der Moderne, Frankfurt a.M. 1991, S. 152ff
[9] Paul Alsberg, Der Ausbruch aus dem Gefängnis – zu den Entstehungsbedingungen des Menschen, Bearbeitete Neuauflage (1979) von ‚“Das Menschheitsrätsel“, Orig. Sybillen-Verlag, Dresden 1922, kommentiert von Hartmut und Ingrid Rötting, Hrsg.: Dieter Claessens, S. 191-192, online: https://www.vordenker.de/alsberg/p-alsberg_menschheitsraetsel.pdf
Seit Mai 2023 mehren sich nun die Indizien, dass neben dem Marketing Buzzword „Künstliche Intelligenz“ in Zukunft wohl auch der künstlichen Dummheit ein Platz in den Berichterstattungen eingeräumt werden muss. Auf Heise online war gar von Demenz die Rede. Das ist zwar ebenso wie „künstliche Dummheit“ und „künstliche Intelligenz“ ein ausgeprägter und kritikwürdiger Anthropomorphismus, möglicherweise treffend daran ist aber die Tatsache, dass Demenz etwas mit Alterungsprozessen zu tun hat. Diese bilden sich bei IT-Systemen auch in der Versionierung ab.
Das erste Auftauchen des o.g. Begriffs „Künstliche Intelligenz, KI, oder AI, und die damit verbundene Motivation lässt sich präzise angeben. John McCarthy garnierte 1956 sein Dartmouth Summer Research Project on Artificial Intelligence, kurz Dartmouth Conference, mit dem neuen Begriff AI, um Forschungs- und Spesengelder einzuwerben. Man interessierte sich auf dieser Konferenz vorzugsweise für symbolische Verfahren und grenzte sich dadurch von Norbert Wiener und seinen Kybernetik-Kollegen der Macy-Konferenzen ab, die zumeist konnektionistische, auf Verbindungen von Knoten basierende Modelle wie Perzeptronen und neuronale Netzwerke in den Blick genommen hatten.
In den 90ern nahm das Thema KI erneut Fahrt auf, nach dem sogenannten KI-Winter hatten dieses Mal die heuristischen Modelle, die ANNs (artificial neural networks) die Nase vorn. Deep Learning Networks, d.h. ANN mit mehreren internen Layern zwischen Eingabe- und Ausgabeschicht, erwiesen entgültig ihre Überlegenheit gegenüber den symolischen Ansätzen, nachdem der riesige verschlagwortete Bilddatensatz ImageNet durch die Informatikerin Fei-Fei Li und ihr Team 2009 bereitgestellt wurde. Der unbestreitbar größte Durchbruch in den Augen der Weltöffentlichkeit erfolgte dann am 30.11.2022, als OpenAI sein Large Language Model (LLM) Generative Pretrained Transformer, GPT Version 3 als Dialogsystem ChatGPT zur öffentlichen Nutzung freischaltete.
Denn im Mai 2023 veröffentlichte eine internationale Gruppe aus sechs Wissenschaftlern von fünf Universitäten, darunter Oxford, Cambridge und Toronto, eine Studie mit dem Titel „The Curse of Recursion: Training on Generated Data Makes Models Forget“, in dem für den Fall des Trainings mit von durch KIs produzierten „künstlichen“ Datensätzen die Existenz degenerativer Prozesse während der Trainingsphase in einer ganzen Reihe von Modelltypen nachgewiesen und demonstriert wird. Neben den LLMs sind dies GMMs (Gaussian Mixture Models zum Sortieren, bzw. Clustern von Daten) und VAEs (Variational Autoencoders zur Erkennung von handgeschriebenen Ziffern). Die Autoren sprechen vom Modellkollaps und liefern auch gleich ein Rezept zur Vermeidung des Zusammenbruchs. Es müsse sichergestellt werden, das von Version zu Version einer KI ausschließlich von Menschen produziertes Trainingsmaterial verwendet wird.
Ende Oktober 2023 erscheint eine Arbeit von drei Forschern der Universitäten Stanford und Berkeley, die sich ausschließlich auf den Textgenerator ChatGPT und seine Versionen 3.5 und 4 bezieht, „How Is ChatGPT’s Behavior Changing over Time?“ Beiden Versionen des populären Systems wurden insgesamt sieben verschiedene Arten von Aufgaben zu zwei verschiedenen Zeitpunkten, März und Juni 2023, gestellt.
Die Performances fielen dabei abhängig von den Zeitpunkten signifikant unterschiedlich aus. So identifizierte GPT4 im März Primzahlen und zusammengesetzte Zahlen zu 84% richtig, im Juni waren dies nur noch 51%. GPT3.5 hingegen war in dieser Aufgabe im Juni deutlich besser als im März.
Ein unvoreingenommener Beobachter mag sich zwar die Frage stellen, ob die Identifizierung von Primzahlen ein geeigneter Job für Textgeneratoren ist, gleichwohl ist das nur ein Beispiel. Denn auch für die anderen Aufgaben-stellungen bestätigen die Untersuchungen die Existenz von Unklarheiten bezüglich der Auswirkungen von Updates und von außen durchgeführten Variationen einiger Netzparameter.
Die Autoren weisen explizit darauf hin, dass das Wie und Wann der Updates und Aktualisierungen von LLMs wie ChatGPT nicht transparent ist und kündigen ein Langzeitprojekt an. Sie kommen zunächst zu dem Ergebnis, dass die Verbesserung der Leistung des Modells bei einigen Aufgaben, z.B. durch auf bestimmte zusätzlich zur Feinabstimmung herangezogene Daten unerwartete Nebeneffekte auf das Modellverhalten bei anderen Aufgabenstellungen haben kann.
An dieser Stelle sei eine spekulative Frage erlaubt. Sind die sich nach einer Feinabstimmung für bestimmte Aufgaben sich ergebenden Verschlechterungen der Performance anderer Aufgabenstellungen möglicherweise ein Indiz dafür, dass das neuronale Netz zu klein ist, bzw. rein quantitativ zu wenig Parameter enthält, um beide Aufgabenfelder erfolgreich bearbeiten zu können? Denn wenn das so ist, dann sind diese Feinabstimmungen wenig mehr als bloßes Tricksen, bzw. Herumprobieren.
Entsprechend dem Hype-Thema KI folgt beiden Veröffentlichungen ein Rauschen im Blätterwald der Feuilletons, der Fachpresse und der einschlägigen Blogs. Es sei sehr wahrscheinlich, heißt es, dass KIs in Zukunft immer häufiger auch mit Daten trainiert werden, die selbst Outputs von KI-Systemen sind.
Bald macht das Wort von der KI, die ihren eigenen Schwanz frisst, die Runde. Im Popular Mechanics Magazine fordert der Autor Darren Orf seine Leser erstmal auf, zu Popcorn zu greifen und bemüht den Ouroboros, die sich selbst in den Schwanz beißende Schlange der Ewigkeit, als sprachliches Bild.
Schon zuvor im August spricht Gary Marcus, ein populärer Kritiker des KI-Hype, gar von der durch LLMs getriebenen „enshittification“ des Internet.
„Garbage in, garbage out. Data pollution is ruining generative AI’s future“, kommentiert Ben Lutkevich auf TechTarget.
Datenverschmutzung? Müll rein, Müll raus? Aber der Output ist zu Beginn in der Regel kein Müll, bzw. wird nicht als solcher aufgefasst. Daher ist diese Erklärung allein möglicherweise zu einfach. Das Training von neuronalen Netzen mit Outputdaten von neuronalen Netzen hat erstens eine Abnahme der Varianz der im Netz gespeicherten Wichtungen zur Folge und stellt im Prinzip eine Analogie dar zur Qualitätsabnahme bei Fotokopien von Fotokopien. Darüber hinaus schlägt hier ein theoretisch ausformuliertes Prinzip zu, dass schon seit 1962 bekannt ist und für alle Arten von Maschinen mit endlich vielen internen Zuständen gilt.
Eine sogenannte „finite state machine“ ist ein abstraktes mathematisches Konzept, das durch eine Black Box mit einem Input und einem Output , z.b. für alphanumerische Zeichen, beschreibbar ist und deren Prinzip an folgenden beiden Beispielen erläutert werden kann.
Der aktuelle Output einer solchen Maschine ist eine einer feststehenden Regel folgende Funktion des Inputs. Jedes Zeichen als Input hat ein entsprechendes Zeichen als Output zur Folge und es lässt sich eine Liste der Input-Output-Zeichenpaare aufstellen. Diese Art der Maschine wird trivial genannt. Ein Beispiel ist z.B. die Lenkung eines PKW. Input: Lenkrad nach links, Output: Fahrzeug fährt nach links, geradeaus/ geradeaus, rechts/ rechts, etc.
Eine andere Art einer „finite state machine“ ergibt sich, wenn sie einen zusätzlichen internen Zustand besitzt, der ebenfalls einer Regel folgend abhängig vom Input ist. Der Output ist nun eine dem Beobachter unbekannte aber einer festen Regel folgende Funktion des aktuellen Inputs und des aktuellen internen Zustands. Jeder Input ändert aber ebenfalls einer festen Regel folgend den internen Zustand der Maschine. Wird nun in einem nächsten Schritt ein weiterer Input angelegt, ist der Output ein Ergebnis des jetzt aktuellen Inputs und des internen Zustands, der ja im vorangegangenen Schritt verändert wurde. Das nun vorliegende Konstrukt nennt man nicht-triviale Maschine, kurz NTM. Der Output einer sochen NTM ist für einen gegebenen Input nicht mehr vorhersagbar, d.h., die NTM kann analytisch nicht bestimmt werden, sie ist nicht determinierbar. In Bezug auf ihre Konstruktion ist sie ist lediglich synthetisch determiniert. Da der interne Zustand einer NTM sich mit jedem neuen Input ändert und dies wiederum Einfluss auf den Output des nächsten Schrittes hat, wird die NTM geschichtsabhängig genannt. Kompliziertere Algorithmen sind grundsätzlich nicht-triviale Maschinen.
Es leuchtet unmittelbar ein, dass auch deep learning neural networks in diese Kategorie von Maschinen gehören. Zwar handelt es sich hier um extrem viele mögliche interne Zustände, GPT3 hat 175 Mrd. veränderliche Parameter und bei GPT4 sind dies über eine Billion. Gleichwohl sind das immer noch endlich viele Zustände, denn auch die rechnerische Darstellung von Fließkomma-zahlen, hier die synaptischen Wichtungen im ANN, ist ganz prinzipiell auf eine endliche Anzahl von Binärstellen beschränkt.
Wenn man nun mehrere solche NTM via Netzwerk zusammenschaltet – entsprechend kann man sich auch KI-Systeme und ihre Inputs, Outputs und Trainingsdatenpools als via Internet zusammengeschaltet denken -, dann kommt dabei ein neues System heraus, das nun wiederum als eine einzige NTM betrachtet werden kann, deren Verhalten ebensowenig vorhergesagt werden kann.
Urheber der Theorie der „finite state machines“ ist der amerikanische Elektroingenieur Arthur Gill (1930-2020) aus Berkeley, der 1962 seine Einführung dazu veröffentlichte.[1] Der Kybernetiker Heinz von Foerster (1911-2002) stellte Gills Unbestimmbarkeitsprinzip für nicht-triviale Maschinen an eine Seite mit Gödels Unvollständigkeitssatz und Heisenbergs Unschärferelation. Er unterstellt – das ist gleichwohl kontrovers diskutierbar – Gills Konzept eine größere Allgemeingültigkeit als dem Konzept der Turing-Maschine.[2]
Gills NTM zeigen bei Rückkopplung ihres Outputs auf ihren Input, also bei einer Situation vergleichbar der des Trainings einer KI mit KI-produzierten Daten, ein grundsätzliches sowie seltsames Verhalten. Von Foerster demonstrierte dies um 1970 am Beispiel einer ganz simplen nicht-trivialen Maschine mit nur zwei möglichen internen Zuständen. Koppelt man hier den Output rekursiv auf den Input zurück, dann produziert eine solche NTM bereits nach wenigen Schritten eine sich ewig wiederholende Output-Folge, die heute „seltsamer Attraktor“ genannt wird.[3] Die Output-Werte der Folge sind die Eigenwerte dieser speziellen nicht-trivialen Maschine.
Und aufgrund der vorliegenden Studien besteht die berechtigte grundsätzliche Annahme, dass seltsame Attraktoren zum natürlichen Verhalten künstlicher Intelligenzen gehören.
Aber womöglich kann KI mit Hilfe von KI gerettet werden. Der Student Tom Tlok von der Hochschule Wedel entwickelte im Rahmen seiner Masterarbeit ein Werkzeug, dass Texte zu erkennen vermag, die mit Hilfe von künstlicher Intelligenz geschrieben wurden, Trefferquote ca. 98 Prozent.
Ein Backpropagation-Algorithmus bewertet Outputs von Backpropagation-Algorithmen. Auch eine Form von Rekursion.
Joachim Paul, Neuss im April 2024
Quellen:
[1] Arthur Gill, Introduction to the Theory of Finite State Machines, New York: McGraw-Hill 1962
[2] Heinz von Foerster, Principles of Self-Organization – In a Socio-Managerial Context, in: Self-Organization and Management of Social Systems, eds. H. Ulrich, G.J. B. Probst, Berlin Heidelberg 1984, p. 2-24
[3] Heinz von Foerster, Molecular Ethology. An Immodest Proposal for Semantic Clarification, in: Molecular Mechanisms in Memory and Learning, ed. G. Ungar, New York 1970, p. 213-248. dt.: Molekular-Ethologie: ein unbescheidener Versuch semantischer Klärung, in: Heinz von Foerster, Sicht und Einsicht, Versuche zu einer operativen Erkenntnistheorie, Wiesbaden 1985, S. 173-204
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