Der Parlamentarismus in seiner jetzigen Form ist krank. Er hat deutliche Symptome von Meinungs-Votums-Dissonanz und Polit-Theater-Inszenierung. Es faulen seit geraumer Zeit Probleme vor sich hin, und niemand will sie sehen. Wir müssen uns damit beschäftigten. Parlamentarismus wurde als wichtiges Demokratiewerkzeug eingeführt, um den Willen möglichst vieler Menschen zu repräsentieren. Sie delegieren die Wahrnehmung ihres Willens durch Wahlen an Parteien, die diesen dann in parlamentarischen Prozessen vertreten sollen. So weit, so gut. Demokratie-Delegations-Simulation: Die Wahl der Qual “Kaufen” muss eine Wählerin, ein Wähler eine Partei im Komplettpaket. Er bekommt abgeschlossene Weltbilder geliefert, die ihm die demokratischen Parteien anbieten, er kann sich in einem dieser Bilder wiederfinden – oder auch nicht, dann bleibt ihm die Auswahl derjenigen Partei, der gegenüber er die geringsten Ablehnung empfindet. Eine unglückliche Lösung, mir ist das jedenfalls zu wenig. Ich denke, heutzutage sind Weltbilder längst nicht mehr so trivial, so eindimensional, dass sie in einen Katalog aus einem halben Dutzend Lebensentwürfen passen. Man wird “seine” Wahlentscheidung also auf einige Kriterien reduzieren müssen, die besonders wichtig erscheinen – oder gleich auf ein Bauchgefühl. Außerhalb dieser Wahl hat man keinerlei Einflussmöglichkeiten auf Politik. Diese Situation finde ich bereits unzufriedenstellend genug. Was vielen Menschen aber verborgen bleibt: Selbst in diesen wenigen Kriterien wird die gewählte Partei im Parlament oft genug von ihrem Weltbild, ihren Wahlversprechen abweichen. Es kommt im derzeitigen parlamentarischen System oft genug zu parlamentarischen Entscheidungen, wo die Abgeordneten nicht nur gegen ihre eigene Überzeugung und die der anderen Parteimitglieder stimmen, sondern sogar gegen die ihrer Wähler. Sie verraten den Auftrag, den sie von ihren Wählern bekommen haben. Sie verraten die Versprechungen, die sie vor der Wahl gemacht haben, und oft sogar noch nach dem Bruch des Versprechens wiederholen. Und alle etablierten Parteien machen mit. Es sind diese “parlamentarischen Zwänge”, denen sich Abgeordnete unterwerfen, welche sie dazu bringen, entgegen der persönlichen Meinung, selbst der allgemeinen Parteimeinung zu stimmen. Es sind solche Zwänge, die sie zum Aufführen einer Politik-Theaterinszenierung zwingen, anstatt sich mit politischen Fragestellungen und deren Lösungen zu befassen. Für mich sind diese Zwänge eine Krankheit des Systems. Parlamentarische Zwänge: Koalition statt Integrität Regierungstragende Koalitionen binden sich selbst in Koalitionsverträgen. Hier wird das Abstimmverhalten der Fraktionsmitglieder festgelegt. Und alle halten sich daran. Das Programm der einen Partei wird überlagert von dem der anderen Partei in der Koalition – und Gegenstand von Verhandlungen innerhalb dieser Koalition, meist auf oberster Ebene, von der der Wähler nichts mitbekommt, und die natürlich nicht in seinem Interesse sein müssen. Beispiel gefällig? In NRW stimmten die Grünen als Teil der Regierungskoalition gegen unseren Antrag, die Vorratsdatenspeicherung zu stoppen. Der Antragstext selbst war kurz und knackig, er lautete wie folgt: I. Der Landtag stellt fest: Die Vorratsdatenspeicherung ist ein hochproblematischer Eingriff in die Grundrechte der Bürger unseres Landes. II. Der Landtag fordert die Landesregierung auf: • sich auf allen politischen Ebenen, auf EU-Ebene, im Bundesrat und der Innenministerkonferenz gegen jede Form der anlasslosen Vorratsdatenspeicherung einzusetzen. Dieser Antrag wurde mit den Stimmen von SPD, CDU und Grünen abgelehnt. Wer das Wahlprogramm der Grünen kennt, weiß, dass sie … Weiterlesen →