TOP 7 – 07.04.2017 – LT NRW – Akkreditierung von Studiengängen – oder: Bologna ist Mist!

Meine Rede zu TOP 7 am 7. April 2017 System zur Akkreditierung von Studiengängen auf sichere Rechtsgrundlage stellen und weiterentwickeln – Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/14660

Aus dem Plenarprotokoll: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Angela Freimuth. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Dr. Paul.

Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank. – Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer! Was wäre ein gutes Musikstück ohne Kontrapunkt? Der Kontrapunkt macht die Sache erst richtig rund.

Aber bevor ich dazu komme, möchte ich mich bei den Ausschusskollegen für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, für die harte – teilweise sehr harte – Auseinandersetzung in den Sachen und bei Frau Ministerin und den Mitarbeitern für ihr stetes Ringen um die Transparenz der Darstellung, gerade auch was diesen Prozess angeht, ganz herzlich bedanken.

Gleichwohl sind wir Piraten der Ansicht, dass wir uns heute nur deshalb über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterhalten müssen, weil sich der Bologna-Prozess als eine der Grundursachen für die Verschulung von Studiengängen herausgestellt hat.

(Beifall von den PIRATEN)

Die im Antrag von Rot-Grün hervorgehobene Kritik der Unstudierbarkeit und der fehlenden Mobilität teilen wir ausdrücklich. Die Umstellung auf das Bachelor-/Mastersystem ist in keinem anderen europäischen Land so angegangen worden wie in Deutschland. Man kann jetzt sagen, das mag ein Stück weit an der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit liegen; jedoch wurde eine komplette Generation als Versuchsobjekt für feuchte neoliberale Ranking- und Messbarkeitsträume verschlissen.

(Beifall von den PIRATEN)
Die Überfrachtung von Studiengängen war über Jahre hinweg ein Teil der Kritik von Studierenden. Auch wenn diese Kritik leiser geworden ist, da sich die Studierenden mit dem System arrangieren mussten, ist die grundsätzliche Kritik immer noch allgegenwärtig; denn ein Studium ist immer auch ein weiterer Persönlichkeitsfindungsprozess – jetzt eben in der Adoleszenzphase eines Menschen –, und das nicht nur berufsbezogen.

Wir alle wissen das nur zu genau. Die meisten von uns Älteren haben die nötige Zeit gehabt, um ihren Horizont im Studium zu erweitern. Ob alle von uns davon Gebrauch gemacht haben, fragen Sie mich bitte nicht. Das vermag ich nicht zu beurteilen.

Wir verknappen heute diese Zeit auf Regelstudienzeiten und messen die Qualität anhand von Kriterien wie Credit Points und Employability. Das ist ein massiver innovationsfeindlicher An-schlag auf die Bildungs- und Wissenschaftsfreiheit. Wir verlangen jungen Menschen ab, dass sie sich nach drei Jahren Studium im Alter von 20 bis 21 Jahren auf so viele Erfahrungen berufen können wie Menschen, die bereits seit zehn Jahren im Beruf sind.

Wie soll das, bitte schön, funktionieren? Das ist absurd und grenzt an verordnete Bulimie, an den alten Trichter aus Nürnberg. So kommentierte Jürgen Kaube bereits 2015 in der „FAZ“ – ich zitiere:

„Heute aber verlässt nach Zahlen des Deutschen Hochschulverbandes jeder dritte Student vor dem ersten Abschluss die Universität. Zwei von fünf, die für Mathematik oder Naturwissenschaften eingeschrieben sind, bleiben ebenfalls ohne Bachelorabschluss. In den Sozialwissenschaften sowie in Jura und Ökonomie schließt jeder Vierte nicht ab. Politik bedeutet ja auch, sich auf keinen Fall mit den eigenen Entscheidungen blamieren zu wollen. Folglich mussten die Hochschulen für das Scheitern von Bologna verantwortlich gemacht werden. Man habe, heißt es seit einiger Zeit, wenn die Mängel nicht mehr weggeredet werden können, vielerorts Bologna schlecht umgesetzt. Dass die völlig überflüssigen und noch dazu teuren Akkreditierungsagenturen überall all die Studiengänge offiziell für gut und ‚studierbar‘ befunden haben, die jetzt von so vielen Studenten abgebrochen werden, passt dazu allerdings nicht.“

Und das vor dem Hintergrund, dass uns Intelligenzforscher bescheinigen, dass der durchschnittliche IQ in den letzten Jahren weiter gestiegen ist. Hier liegt für uns der Knackpunkt. Diese Agenturen sind unserer Meinung nach überflüssig. Die Qualitätssicherung kann die Wissenschaft selbst übernehmen, und zwar unter maßvoller Aufsicht des Landes.

Dass dieser Webfehler trotz – ich sag es mal so – Klatsche durch das Bundesverfassungsgericht nach unserer Auffassung jetzt nicht wirklich korrigiert worden ist, zeigt dieser Antrag. Er gehört ein bisschen in die Kategorie wie die Ihrer Haltung zu G8 und G9. Fehler können nur dann wirklich korrigiert werden, wenn man auch den Mut dazu hat.

Wir lehnen diesen Antrag ab. Befreien Sie sich doch mal und sprechen mir einfach mal nach, was viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Parlamentarier aller Fraktion seit Jahren hinter vorgehaltener Hand immer wieder sagen. Sprechen Sie mit mir mit: „Bologna ist Mist!“ – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Paul – Für die Landesregierung spricht Frau Ministerin Schulze.

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

TOP 7 – 07.04.2017 – LT NRW – Akkreditierung von Studiengängen – oder: Bologna ist Mist!

Meine Rede zu TOP 7 am 7. April 2017 System zur Akkreditierung von Studiengängen auf sichere Rechtsgrundlage stellen und weiterentwickeln – Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/14660

Aus dem Plenarprotokoll: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Angela Freimuth. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Dr. Paul.

Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank. – Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauer! Was wäre ein gutes Musikstück ohne Kontrapunkt? Der Kontrapunkt macht die Sache erst richtig rund.

Aber bevor ich dazu komme, möchte ich mich bei den Ausschusskollegen für die vertrauensvolle Zusammenarbeit, für die harte – teilweise sehr harte – Auseinandersetzung in den Sachen und bei Frau Ministerin und den Mitarbeitern für ihr stetes Ringen um die Transparenz der Darstellung, gerade auch was diesen Prozess angeht, ganz herzlich bedanken.

Gleichwohl sind wir Piraten der Ansicht, dass wir uns heute nur deshalb über die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts unterhalten müssen, weil sich der Bologna-Prozess als eine der Grundursachen für die Verschulung von Studiengängen herausgestellt hat.

(Beifall von den PIRATEN)

Die im Antrag von Rot-Grün hervorgehobene Kritik der Unstudierbarkeit und der fehlenden Mobilität teilen wir ausdrücklich. Die Umstellung auf das Bachelor-/Mastersystem ist in keinem anderen europäischen Land so angegangen worden wie in Deutschland. Man kann jetzt sagen, das mag ein Stück weit an der sprichwörtlichen deutschen Gründlichkeit liegen; jedoch wurde eine komplette Generation als Versuchsobjekt für feuchte neoliberale Ranking- und Messbarkeitsträume verschlissen.

(Beifall von den PIRATEN)
Die Überfrachtung von Studiengängen war über Jahre hinweg ein Teil der Kritik von Studierenden. Auch wenn diese Kritik leiser geworden ist, da sich die Studierenden mit dem System arrangieren mussten, ist die grundsätzliche Kritik immer noch allgegenwärtig; denn ein Studium ist immer auch ein weiterer Persönlichkeitsfindungsprozess – jetzt eben in der Adoleszenzphase eines Menschen –, und das nicht nur berufsbezogen.

Wir alle wissen das nur zu genau. Die meisten von uns Älteren haben die nötige Zeit gehabt, um ihren Horizont im Studium zu erweitern. Ob alle von uns davon Gebrauch gemacht haben, fragen Sie mich bitte nicht. Das vermag ich nicht zu beurteilen.

Wir verknappen heute diese Zeit auf Regelstudienzeiten und messen die Qualität anhand von Kriterien wie Credit Points und Employability. Das ist ein massiver innovationsfeindlicher An-schlag auf die Bildungs- und Wissenschaftsfreiheit. Wir verlangen jungen Menschen ab, dass sie sich nach drei Jahren Studium im Alter von 20 bis 21 Jahren auf so viele Erfahrungen berufen können wie Menschen, die bereits seit zehn Jahren im Beruf sind.

Wie soll das, bitte schön, funktionieren? Das ist absurd und grenzt an verordnete Bulimie, an den alten Trichter aus Nürnberg. So kommentierte Jürgen Kaube bereits 2015 in der „FAZ“ – ich zitiere:

„Heute aber verlässt nach Zahlen des Deutschen Hochschulverbandes jeder dritte Student vor dem ersten Abschluss die Universität. Zwei von fünf, die für Mathematik oder Naturwissenschaften eingeschrieben sind, bleiben ebenfalls ohne Bachelorabschluss. In den Sozialwissenschaften sowie in Jura und Ökonomie schließt jeder Vierte nicht ab. Politik bedeutet ja auch, sich auf keinen Fall mit den eigenen Entscheidungen blamieren zu wollen. Folglich mussten die Hochschulen für das Scheitern von Bologna verantwortlich gemacht werden. Man habe, heißt es seit einiger Zeit, wenn die Mängel nicht mehr weggeredet werden können, vielerorts Bologna schlecht umgesetzt. Dass die völlig überflüssigen und noch dazu teuren Akkreditierungsagenturen überall all die Studiengänge offiziell für gut und ‚studierbar‘ befunden haben, die jetzt von so vielen Studenten abgebrochen werden, passt dazu allerdings nicht.“

Und das vor dem Hintergrund, dass uns Intelligenzforscher bescheinigen, dass der durchschnittliche IQ in den letzten Jahren weiter gestiegen ist. Hier liegt für uns der Knackpunkt. Diese Agenturen sind unserer Meinung nach überflüssig. Die Qualitätssicherung kann die Wissenschaft selbst übernehmen, und zwar unter maßvoller Aufsicht des Landes.

Dass dieser Webfehler trotz – ich sag es mal so – Klatsche durch das Bundesverfassungsgericht nach unserer Auffassung jetzt nicht wirklich korrigiert worden ist, zeigt dieser Antrag. Er gehört ein bisschen in die Kategorie wie die Ihrer Haltung zu G8 und G9. Fehler können nur dann wirklich korrigiert werden, wenn man auch den Mut dazu hat.

Wir lehnen diesen Antrag ab. Befreien Sie sich doch mal und sprechen mir einfach mal nach, was viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler und Parlamentarier aller Fraktion seit Jahren hinter vorgehaltener Hand immer wieder sagen. Sprechen Sie mit mir mit: „Bologna ist Mist!“ – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)
Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Dr. Paul – Für die Landesregierung spricht Frau Ministerin Schulze.

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

Überwachung und Datenzugriff im Bereich der Telekommunikation, Fortsetzung: Werden Funkzellenabfragen, Stille SMS und IMSI – Catcher zum Standard bei Ermittlungen nordrhein – westfälischer Sicherheitsbehörden?

Große Anfrage

Drucksache 16/13803

 

Antwort der Landesregierung

Drucksache 16/14528

 

Getagged mit: ,
Veröffentlicht unter Anträge

Ich fordere das Ende der Utopielosigkeit in der Politik!

Erst wenn der letzte Braunkohlebagger das Rheinische Revier verlassen hat; erst wenn die Folgekosten des Braunkohletagebaus mal ausgerechnet sind; werdet Ihr merken, dass es nicht Glücklich macht, 40 Jahre lang Wasser in ein Loch laufen zu lassen. Wenn sich Politiker und Wirtschaftsvertreter darüber Gedanken machen, wie die Welt von Morgen aussehen könnte, dann sind selbst […]
Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

TOP 13 – 06.04.2017 – LT NRW – „Selbstentmachtung ist Landesverrat!“ – Pirat Nico Kern zur Schuldenbremse

Ein weiterer Beitrag aus der Reihe „Sternstunden des Parlamentarismus“, Nico Kerns wunderbare Rede zu TOP 13 am 06. April 2017 – Viertes Gesetz zur Änderung der Landeshaushaltsordnung – Umsetzung der grundgesetzlichen Schuldenregel in das nordrhein-westfälische Landesrecht

Gesetzentwurf der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/13315
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- und Finanzausschusses Drucksache 16/14686
Entschließungsantrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/14760 – Neudruck
Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 16/14792
zweite Lesung

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Witzel. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Kollege Kern.

Nicolaus Kern (PIRATEN): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie werden jetzt Zeuge eines äußerst seltenen Vorgangs werden. Ich werde als Pirat die Worte eines CDU-Politikers loben. Das Zitat bezieht sich auf die Einführung der Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3 Grundgesetz und lautet:

„Die CDU-Fraktion ist mit allen anderen Fraktionen … darin einig, dass ein derartiges Verbot nicht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland für die Länder … normiert werden kann. Landtagspräsident … hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Föderalismuskommission verabsäumt wurde, den Ländern eigene steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen.“

Weiter:

„Können die Landtage jedoch bei den Einnahmen nichts bewirken, dann kann der Bund uns auf der Ausgabeseite auch keine restriktiven Vorgaben machen. Alles andere liefe … auf eine Kastration der Landtage hinaus.“

Erst hier endet das Zitat. Dies ist ein Zitat des schleswig-holsteinischen Fraktionsvorsitzenden der CDU aus einer Landtagsdebatte von 2009. Dem stimmte damals auch der Fraktionsvorsitzende der SPD, ein gewisser Ralf Stegner, zu. In derselben Debatte sagte der FDP-Fraktionsvorsitzende Kubicki – Zitat –:

„Erstens darf die Ausgestaltung des Schuldenverbots nicht zu starr sein. Das heißt, eine Verschuldung für Investitionen muss aus der Sicht der FDP-Fraktion möglich sein.“
In der Debatte über den Antrag stimmten übrigens alle Fraktionen, auch die Grünen, darin überein, dass eine im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse unzulässig in die Souveränität des Landes eingreift und daher verfassungswidrig ist.

(Beifall von den PIRATEN)

Alle Argumente gelten auch in der hier und heute stattfindenden Diskussion über die Schuldenbremse in NRW. Doch davon wollen Sie alle nichts wissen. Sie, liebe Fraktionen von SPD, CDU, Grünen und FDP überlassen ab dem Jahr 2020 wichtige Investitionsentscheidungen lieber den Finanzinvestoren und Renditejägern; denn die durch die Schuldenbremse entstehende Investitionslücke kann doch nur durch renditegetriebene Privatinvestoren gefüllt werden. Die Einführung der Schuldenbremse im Bund und Ländern wirkt somit wie ein Gaspedal für Privatisierungen und ÖPP-Projekte. Dabei machen wir Piraten nicht mit.

(Beifall von den PIRATEN – Stefan Zimkeit [SPD]: Wenn es in der Verfassung steht!)

Was dabei herauskommt, hat der Bundesrechnungshof bereits ausführlich dokumentiert: Der Bürger zahlt immer drauf – immer.

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Wir haben einen großen Fehler im Grundgesetz!)

Mit ÖPP wird es immer teurer – teurer, als wenn die öffentliche Hand direkt investiert. Ich sage Ihnen voraus, dass die ÖPP-Projekte das Missmanagement beim Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW noch in den Schatten stellen werden. Wie beim BLB wird dem Landtag nur noch übrig bleiben, mittels Untersuchungsausschüssen dem Missmanagement hinterherzuräumen. Vom Primat der Politik wird dann nicht mehr viel übrig bleiben.

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Das gehört dazu!)

Die Schuldenbremse ist daher nichts anderes als parlamentarische Untreue am Staatsvermögen.

(Zuruf von der CDU: So ein Blödsinn!)

Nichtstun ist Machtmissbrauch, sagt die FDP. Ich sage: Selbstentmachtung ist Landesverrat.

(Beifall von den PIRATEN – Stefan Zimkeit [SPD]: Da will einer unbedingt zum Schluss noch in die Zeitung kommen!)

Es wird gerne behauptet, man müsse aufgrund der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse diese auch auf der Landesebene regeln, um noch einen haushaltspolitischen Spielraum in Notsituationen zu haben. Tatsache ist, Art. 109 Abs. 3 Grundgesetz ist einer der größten verfassungsrechtlichen Fehlgriffe des Bundesgesetzgebers. Die Eigenständigkeit der Länder ist vor Zugriffen des Bundes durch das Prinzip der Bundesstaatlichkeit geschützt. Es kann auch nicht mit einer Zweidrittelmehrheit ausgehebelt werden.

Somit hat die Schuldenbremse im Grundgesetz für NRW auch keine Geltung. Darum ist es den Befürwortern der Schuldenbremse ja auch so immens wichtig, sie in der Landesverfassung zu verankern. Aber keine Sorge: So, wie die politischen Mehrheiten hier sind, wird auch eine einfachgesetzliche Verankerung über Jahre in NRW Bestand haben. Wenn es der SPD tatsächlich um soziale Gerechtigkeit ginge, dann würde sie gegen die Schuldenbremse in Karlsruhe klagen. Aber so landet die soziale Gerechtigkeit mit der SPD und dem Schulz-Zug mal wieder auf dem Abstellgleis.

(Zuruf von Christian Möbius [CDU])

Ich komme zum Schluss. Mit dem heutigen Beschluss unterschreiben Sie Ihr eigenes Entlassungsschreiben und stellen sich ein politisches Armutszeugnis aus. Wir Piraten lehnen als einzige Fraktion die Schuldenbremse grundsätzlich ab.

(Christian Möbius [CDU]: Die ist aber da!)

Die Begründung können Interessierte gern noch einmal ausführlich in unserem Entschließungsantrag Drucksache 16/14760 nachlesen. Wir werden Ihr Gesetz ablehnen. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Kern. – Nun hat sich der fraktionslose Abgeordnete Herr Schulz gemeldet.

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

TOP 13 – 06.04.2017 – LT NRW – „Selbstentmachtung ist Landesverrat!“ – Pirat Nico Kern zur Schuldenbremse

Ein weiterer Beitrag aus der Reihe „Sternstunden des Parlamentarismus“, Nico Kerns wunderbare Rede zu TOP 13 am 06. April 2017 – Viertes Gesetz zur Änderung der Landeshaushaltsordnung – Umsetzung der grundgesetzlichen Schuldenregel in das nordrhein-westfälische Landesrecht

Gesetzentwurf der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN Drucksache 16/13315
Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts- und Finanzausschusses Drucksache 16/14686
Entschließungsantrag der Fraktion der PIRATEN Drucksache 16/14760 – Neudruck
Entschließungsantrag der Fraktionen von CDU und FDP Drucksache 16/14792
zweite Lesung

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Witzel. – Für die Fraktion der Piraten spricht Herr Kollege Kern.

Nicolaus Kern (PIRATEN): Meine sehr geehrten Damen und Herren! Sie werden jetzt Zeuge eines äußerst seltenen Vorgangs werden. Ich werde als Pirat die Worte eines CDU-Politikers loben. Das Zitat bezieht sich auf die Einführung der Schuldenbremse in Art. 109 Abs. 3 Grundgesetz und lautet:

„Die CDU-Fraktion ist mit allen anderen Fraktionen … darin einig, dass ein derartiges Verbot nicht im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland für die Länder … normiert werden kann. Landtagspräsident … hat zu Recht darauf hingewiesen, dass in der Föderalismuskommission verabsäumt wurde, den Ländern eigene steuerrechtliche Gestaltungsmöglichkeiten einzuräumen.“

Weiter:

„Können die Landtage jedoch bei den Einnahmen nichts bewirken, dann kann der Bund uns auf der Ausgabeseite auch keine restriktiven Vorgaben machen. Alles andere liefe … auf eine Kastration der Landtage hinaus.“

Erst hier endet das Zitat. Dies ist ein Zitat des schleswig-holsteinischen Fraktionsvorsitzenden der CDU aus einer Landtagsdebatte von 2009. Dem stimmte damals auch der Fraktionsvorsitzende der SPD, ein gewisser Ralf Stegner, zu. In derselben Debatte sagte der FDP-Fraktionsvorsitzende Kubicki – Zitat –:

„Erstens darf die Ausgestaltung des Schuldenverbots nicht zu starr sein. Das heißt, eine Verschuldung für Investitionen muss aus der Sicht der FDP-Fraktion möglich sein.“
In der Debatte über den Antrag stimmten übrigens alle Fraktionen, auch die Grünen, darin überein, dass eine im Grundgesetz verankerte Schuldenbremse unzulässig in die Souveränität des Landes eingreift und daher verfassungswidrig ist.

(Beifall von den PIRATEN)

Alle Argumente gelten auch in der hier und heute stattfindenden Diskussion über die Schuldenbremse in NRW. Doch davon wollen Sie alle nichts wissen. Sie, liebe Fraktionen von SPD, CDU, Grünen und FDP überlassen ab dem Jahr 2020 wichtige Investitionsentscheidungen lieber den Finanzinvestoren und Renditejägern; denn die durch die Schuldenbremse entstehende Investitionslücke kann doch nur durch renditegetriebene Privatinvestoren gefüllt werden. Die Einführung der Schuldenbremse im Bund und Ländern wirkt somit wie ein Gaspedal für Privatisierungen und ÖPP-Projekte. Dabei machen wir Piraten nicht mit.

(Beifall von den PIRATEN – Stefan Zimkeit [SPD]: Wenn es in der Verfassung steht!)

Was dabei herauskommt, hat der Bundesrechnungshof bereits ausführlich dokumentiert: Der Bürger zahlt immer drauf – immer.

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Wir haben einen großen Fehler im Grundgesetz!)

Mit ÖPP wird es immer teurer – teurer, als wenn die öffentliche Hand direkt investiert. Ich sage Ihnen voraus, dass die ÖPP-Projekte das Missmanagement beim Bau- und Liegenschaftsbetrieb NRW noch in den Schatten stellen werden. Wie beim BLB wird dem Landtag nur noch übrig bleiben, mittels Untersuchungsausschüssen dem Missmanagement hinterherzuräumen. Vom Primat der Politik wird dann nicht mehr viel übrig bleiben.

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Das gehört dazu!)

Die Schuldenbremse ist daher nichts anderes als parlamentarische Untreue am Staatsvermögen.

(Zuruf von der CDU: So ein Blödsinn!)

Nichtstun ist Machtmissbrauch, sagt die FDP. Ich sage: Selbstentmachtung ist Landesverrat.

(Beifall von den PIRATEN – Stefan Zimkeit [SPD]: Da will einer unbedingt zum Schluss noch in die Zeitung kommen!)

Es wird gerne behauptet, man müsse aufgrund der im Grundgesetz verankerten Schuldenbremse diese auch auf der Landesebene regeln, um noch einen haushaltspolitischen Spielraum in Notsituationen zu haben. Tatsache ist, Art. 109 Abs. 3 Grundgesetz ist einer der größten verfassungsrechtlichen Fehlgriffe des Bundesgesetzgebers. Die Eigenständigkeit der Länder ist vor Zugriffen des Bundes durch das Prinzip der Bundesstaatlichkeit geschützt. Es kann auch nicht mit einer Zweidrittelmehrheit ausgehebelt werden.

Somit hat die Schuldenbremse im Grundgesetz für NRW auch keine Geltung. Darum ist es den Befürwortern der Schuldenbremse ja auch so immens wichtig, sie in der Landesverfassung zu verankern. Aber keine Sorge: So, wie die politischen Mehrheiten hier sind, wird auch eine einfachgesetzliche Verankerung über Jahre in NRW Bestand haben. Wenn es der SPD tatsächlich um soziale Gerechtigkeit ginge, dann würde sie gegen die Schuldenbremse in Karlsruhe klagen. Aber so landet die soziale Gerechtigkeit mit der SPD und dem Schulz-Zug mal wieder auf dem Abstellgleis.

(Zuruf von Christian Möbius [CDU])

Ich komme zum Schluss. Mit dem heutigen Beschluss unterschreiben Sie Ihr eigenes Entlassungsschreiben und stellen sich ein politisches Armutszeugnis aus. Wir Piraten lehnen als einzige Fraktion die Schuldenbremse grundsätzlich ab.

(Christian Möbius [CDU]: Die ist aber da!)

Die Begründung können Interessierte gern noch einmal ausführlich in unserem Entschließungsantrag Drucksache 16/14760 nachlesen. Wir werden Ihr Gesetz ablehnen. – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Vielen Dank, Herr Kollege Kern. – Nun hat sich der fraktionslose Abgeordnete Herr Schulz gemeldet.

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

TOP 1 – 06.04.2017 – LT NRW Voraussschauende Wirtschaftspolitik …

Meine Rede zu TOP 1 am 6. April 2017 – Vorausschauende Wirtschaftspolitik fortsetzen. Starker Standort NRW! – Unterrichtung durch die Landesregierung

Aus dem Plenarprotokoll: Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Lieber Herr Präsident! Danke für die netten einleitenden Worte. Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! Ich hoffe, ich werde gegen Ende meiner Rede noch ein paar versöhnliche Worte finden. Ich möchte mich auch ganz persönlich bei Reiner Priggen bedanken. Damals als frischgebackener Fraktionsvorsitzender im Ältestenrat hat er es mir ein Stück weit leicht gemacht.

Die Landesregierung hat heute Auskunft darüber gegeben, wie sich Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren wirtschaftlich entwickelt hat. Der Wirtschaftsminister hat Zahlen genannt, auf Indikatoren hingewiesen, die Initiativen der Landesregierung in der Vergangenheit aufgezählt und darauf abgestellt, was man in Zukunft tun sollte.

Richtig ist, dass sich Nordrhein-Westfalen in einem Wandlungsprozess befindet – „wieder einmal“ kann man sagen, oder besser: immer noch. Denn NRW ist fast schon ein Synonym für Wandel. Es gab die Kohle- und Stahlkrise in den 60ern und 70ern, und auch die Textilindustrie hat sich aus dem Bergischen Land und anderen Regionen zurückgezogen. Auch der Fahrzeugbau, die Elektrotechnik und die Chemieindustrie haben heftige Einbrüche erlebt.

Das ist alles nicht neu. Die betroffenen Regionen leiden aber noch immer unter den verloren gegangenen Arbeitsplätzen. Und nun kommt auch noch die Digitale Revolution, die alte Qualifikationen entwertet, neue Kompetenzen einfordert und manchmal disruptiv die Strukturen im Land auf den Kopf stellt.

Richtig ist außerdem, dass die Industrieproduktion entgegen dem Bundestrend in NRW seit dem Jahr 2011 gesunken ist. Auch der Auftragseingang der Industrie ist rückläufig. Das zeigen die offiziellen Zahlen des Jahreswirtschaftsberichts 2017. Der Anteil des verarbeitenden Gewerbes in Nordrhein-Westfalen liegt inzwischen unter dem Bundesdurchschnitt, und damit hat unser Land zu kämpfen.

Das ist die Realität, der wir uns stellen müssen. Da hilft auch keine Schönrednerei. Das sind schmerzhafte Einsichten, aber umso wichtiger ist es, dafür Verantwortung zu übernehmen. Aber das wollen Sie anscheinend nicht. Ich sage stattdessen: Wir müssen endlich die Ärmel hochkrempeln; denn gerade in Zeiten der Digitalisierung brauchen wir dringend eine Runderneuerung der Wirtschaft. Dabei helfen ganz sicher keine megaherzigen Regierungserklärungen.

Kein anderer Wirtschaftsbereich steht besser für den Wandel als die Start-ups. Was ist da die Bilanz von Rot-Grün nach fünf Jahren? – Ich zitiere den Jahreswirtschaftsbericht 2017:

„Mehr als 400 junge Unternehmen im Bereich der Internetwirtschaft sind ein Beleg für das positive Gründerklima.“

An diesem Beispiel zeigt sich wieder einmal, wie unterschiedlich die Zahlen bewertet werden. Sie sagen: 400 Start-ups sind gut. – Wir sagen: Wenn fast 18 Millionen Bürger gerade einmal 400 Start-ups gründen – also rechnerisch nur ein Start-up auf 40.000 Bürger kommt –, dann läuft etwas so nicht ganz richtig in unserem Land. Ich bin jedoch überzeugt davon, dass die tollen Menschen in Nordrhein-Westfalen noch viel mehr gute Ideen haben und das brachliegende Potential noch größer ist – aber auch, dass die Hürden größer sind als gedacht. Hier muss die zukünftige Landesregierung noch stärkere Akzente setzen als bisher.

Wenn wir schon über Wirtschaft reden, müssen wir auch über die Kreativen reden. Die Kultur- und Kreativwirtschaft erwirtschaftet eine Bruttowertschöpfung von 18,5 Milliarden € – so viel, wie der Kraftfahrzeugbau und die chemische Industrie zusammen in Nordrhein-Westfalen. Dabei sind in der Kultur- und Kreativbranche mehr Erwerbstätige beschäftigt als im Kraftfahrzeugbau, in der chemischen Industrie und der Energiewirtschaft zusammengerechnet. Da ist noch sehr viel mehr möglich.

Der wichtigste Teilmarkt der Kultur- und Kreativwirtschaft ist die Softwareindustrie inklusive der Games-Industrie. Obwohl Nordrhein-Westfalen mit der Gamescom jedes Jahr Magnet für das internationale Fachpublikum ist, liegt das Umsatzvolumen der Branche weit unter dem Bundestrend. Das kann nicht sein, das muss sich ändern! Wir Piraten haben deshalb in der Vergangenheit Haushaltsänderungsanträge gestellt, um hier das Potenzial besser auszuschöpfen.

Meine Damen und Herren, wie gehen wir die wirtschaftspolitischen Probleme in unserem Land an? – Brauchen wir etwa möglicherweise – ich habe da so etwas läuten hören – mehr nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik? Muss der Umweltschutz zurückgeschraubt, müssen Standards gesenkt, Unternehmen entlastet werden, damit es Nordrhein-Westfalen wieder gutgeht, wie es die CDU und die FDP immer wieder suggerieren? – Die Antwort ist ein klares „Nein“. Die Lösung im Klein-Klein zwischen Landeswassergesetz und Tariftreuevergabegesetz zu suchen, geht völlig an der Realität vorbei.

Da gibt es weltweit die Rahmenbedingungen des 21. Jahrhunderts. Die müssen von der Politik gesehen und konstruktiv umgesetzt werden – auch in Nordrhein-Westfalen.

Die politische Bildsprache auf Wahlplakaten ist ja manchmal unfreiwillig verräterisch. Ich bin vor Kurzem an einem FDP-Plakat vorbeigefahren, auf dem der Kollege Lindner frisch beflaumt und gefotoshopt so angestrengt-engagiert schräg nach links unten blickt. Ein Küchentisch-Psychologe hat einmal versucht, mir zu erklären, dass zwanghafte Ordnungsfanatiker beim Nachdenken so dreinblicken würden. Bei „Raumschiff Enterprise“ war es immer Scotty, der so geguckt hat, wenn der Warp-Antrieb kaputt war. Aber da macht Herr Lindner ein Gesicht, als hätte man ihm gerade die wirtschaftspolitische Glaskugel geklaut.

(Zuruf von Dietmar Brockes [FDP])
– Es geht wirtschaftspolitisch aber nicht um Glaskugeln und Marktesoterik, lieber Kollege Brockes, sondern darum, den aktuellen Rahmenbedingungen unserer Welt auch in Nord-rhein-Westfalen konstruktiv zu begegnen. Die aktuellen Rahmenbedingungen sind aktuell gut: Die Zinsen sind niedrig, der Ölpreis auch – noch. Woran es mangelt, sind Investitionen – nicht zuletzt öffentliche. Zu diesem Ergebnis kommt auch das Bundeswirtschaftsministerium.

Es war ein Fehler der letzten zwei Jahrzehnte, von der Substanz zu leben und nicht mehr ausreichend in die Infrastruktur zu investieren. Die Brücken bröckeln, die Schulen sind marode, Datenpakete werden durch Kupferleitungen aus den Achtzigern gepresst. Das müssen wir ändern. All diese Versäumnisse der letzten Jahre gilt es aufzuholen. Gleichzeitig muss das Land fit gemacht werden für die Digitalisierung. Das gibt es aber nicht zum Nulltarif. So ehrlich müssen wir den Menschen gegenüber schon sein.

Es gibt viele Beispiele für volkswirtschaftlich lohnende Investitionen, zum Beispiel in die Bildung, nicht zuletzt um Schulen – auch berufsbildende Schulen sowie Hochschulen – für die Digitalisierung fitzumachen. Aber auch eine wirkliche Investitionsoffensive in Glasfasernetze bringt das Land voran. Da die geförderten Netze in kommunaler Hand verbleiben, werden sie verpachtet und refinanzieren sich selbst.

So geht doch eine vorausschauende Wirtschaftspolitik. Denn wie sich früher Wohlstand und Arbeitsteilung entlang der Flüsse und Handelsstraßen ausgebreitet haben, sind es heute die Datenströme, die zählen. Bislang aber durchziehen nur kleine, extrem zähfließende Datenadern das Land: Bits und Bytes auf dem Feldweg. Das muss sich ändern.

Wir Piraten haben dazu ausgiebige Vorschläge vorgelegt. Die digitale Spaltung in Stadt und Land muss überwunden werden, und es müssen ultraschnelle Glasfaserleitungen verlegt werden. Insbesondere weil NRW im Strukturwandel steht, müssen wir hier der Impulsgeber sein. Während Wirtschaftsminister Duin noch oft von marktgetriebenem Ausbau redet, ist Jochen Homann, Präsident der Bundesnetzagentur, schon weiter und drängt zur Eile. – Zitat aus der „FAZ“ vom 14. März 2017:

„Wir können den Breitbandausbau nicht vertagen, bis Nachfrage und Zahlungsbereitschaft für die Investitionen ausreichen. Dann würden wir das Kostbarste aufs Spiel setzen, was in der digitalen Welt gibt, nämlich Zeit.“

Sie sehen: Da ist ein Paradigmenwechsel notwendig. Machen Sie den Breitbandausbau zur Aufgabe einer öffentlichen Daseinsvorsorge.

Im Übrigen wurden die Kosten für ein flächendeckendes Glasfasernetz in NRW in einer Studie der NRW.Bank auf rund 8,6 Milliarden € beziffert. Das hört sich, wenn man in kurzen Zeiträumen denkt, so an, als sei das recht viel. In einem Abschreibungszeitraum von 20 Jahren sind das 2 € pro Bürger und Monat. Das ist also machbar.

Aber überall, wo wir mehr Geld fordern, muss es auch sauber zugehen. Auch der Wirtschaftsminister muss das im eigenen Haus tun und gut wirtschaften. Wir Piraten haben eine parlamentarische Initiative angestoßen, damit mit all den politischen Leuchtturmprojekten, mit unter Verschluss gehaltenen Gutachten, mit den Auftragsevaluierungen, die komischerweise immer positiv ausfallen, und mit den Rügen des Landesrechnungshofes endlich Schluss ist.

Wir wollen eine transparente Wirkungsanalyse, damit die Menschen in unserem Land sehen können, ob ihre Steuergelder sinnvoll eingesetzt wurden. Das haben Sie verhindert. Warum Ihnen die Transparenz da unangenehm ist, werden Sie wohl selbst am besten wissen. Wir verstehen das nicht.

Wir müssen also investieren – im Gegensatz zur Politik dieser Landesregierung, die nur 2,2 % der Gesamtausgaben in investive Projekte leitet und damit den vorletzten Platz im Bundesländervergleich belegt. Politik soll gestalten und Probleme lösen. Das ist unser Grundverständnis.

Wer aber den Gestaltungsspielraum der Politik im Namen einer Austeritätspolitik gefährlich einschränkt und die Schuldenbremse beschließt – das will die politische Mehrheit hier im Parlament ja heute Nachmittag machen –, der stärkt die Politikverdrossenheit und damit den Rechtspopulismus in unserem Land. Das ist unverantwortlich.

Wir sollten uns einmal ganz ehrlich anschauen, was für Töne da inzwischen auch von intelligenteren Mitbürgern angeschlagen werden. Ich zitiere einmal aus Heribert Prantls Aufsatz „Gebrauchsanweisung für Populisten“, und zwar aus einem Absatz, der mit „Die schwarze Null und die braune Kloake“ betitelt ist:

„In der Empörung über Trumps großmäuliges Versprechen, er werde der größte Job-Producer sein, den Gott je erschaffen habe, kommen viele gar nicht dazu, sich darüber zu empören, dass die Spardiktate der Europäischen Kommission, der EZB und des Internationalen Währungsfonds (IWF) der größte europäische Jobvernichter waren. Sie sind nicht von Gott, sondern vom deutschen Finanzminister Schäuble als treibende Kraft erschaffen worden, und sie werden noch immer aufrechterhalten, mittlerweile selbst gegen den Widerstand des IWF. Und die Sozialdemokratie hat sich nicht mit Protest hervorgetan, sondern mit braver Assistenz bei der Malträtierung Südeuropas, speziell Griechenlands. Deutschland stört sich weiterhin nicht an der internationalen Kritik an seiner Exportfixierung, die die europäischen Nachbarn aus dem Gleichgewicht bringt. Deutschland lässt sich nicht beirren darin, die schwarze Null als wichtigstes finanzpolitisches Ziel hochzuhalten.“

Also sagen Sie den Menschen hier einmal im Klartext, was es heißt, wenn das Land keine Schulden machen darf.

Da Bundesländer kaum Möglichkeiten haben, Steuern zu erhöhen, werden die öffentlichen Investitionen von dem heute schon niedrigen Niveau noch weiter absinken. Damit wird die Landespolitik ihrem Auftrag gegenüber den Bürgern, nämlich Vorsorge zu betreiben, zu investieren und Probleme zu lösen, nicht mehr nachkommen können. Das halten Sie vielleicht für einen Fortschritt. Ich aber sage: Wirtschafts- und gesellschaftspolitisch ist das ein Rückschritt, der uns sehr, sehr teuer zu stehen kommen wird; denn das führt 2020 direkt in die Unregierbarkeit.

Bereits heute haben wir in Nordrhein-Westfalen mit einer extremen Missbalance zu kämpfen. Übrigens weist im Jahreswirtschaftsbericht 2017 auf dieses Problem auch eine Person hin, die nicht im Verdacht steht, mein wirtschaftspolitischer Freund zu sein, nämlich der Präsident der Industrie- und Handelskammern NRW, Ralf Kersting. Ich zitiere:

„In kaum einem anderen Bundesland liegen prosperierende und schrumpfende Regionen so nahe beieinander. So liegt die Landeshauptstadt Düsseldorf als Ort mit dem höchsten BIP pro Einwohner in Nordrhein-Westfalen – mit 215 % des Bundesdurchschnitts – keine 50 km entfernt von der Stadt Bottrop, die mit 63 % den niedrigsten Wert in Nordrhein-Westfalen aufweist.“

Ich muss Herrn Kersting kritisieren. Das Zitat hinkt etwas. Düsseldorf hat einen Flughafen: Ziehen wir also von den 215 % 75 % ab; trotzdem ist das immer noch wesentlich mehr als in Bottrop.

Wollen wir und können wir uns diese gesellschaftliche Disruption – diese Verwerfung – in der Zukunft weiterhin leisten? Ich sage Nein. Lassen Sie uns gemeinsam in die Zukunft – hier: in die digitale technologische Revolution – investieren.

Lassen Sie mich zum Abschluss ein paar persönliche Worte finden. Als ich 2015 nicht mehr für den Vorsitz meiner Fraktion angetreten bin und der Kollege Schwerd zu den ewig gestrigen Klassenkämpfern nach links gewechselt ist, wie die Jungfrau zum Kinde als Sprecher in den wirtschaftspolitischen Ausschuss gekommen. Ich möchte mich bei Ihnen allen, stellvertretend besonders bei Herrn Fortmeier, der den Vorsitz innehat, für die sehr freundliche und kollegiale Aufnahme in diesen Ausschuss bedanken.

Ich glaube, wir haben einiges voneinander gelernt. Ich hatte viel Spaß mit Ihnen; ich hoffe, Sie hatten manchmal keinen mit mir.

(Michael Hübner [SPD]: Keinen?)

Es gab auch einige unvergessene Momente. Wir haben über sehr viele spannende Themen, wie Industrie 4.0, diskutiert – auch sehr kontrovers. Wir haben auch über die Wirtschaftspolitik diskutiert, die eher angebotsorientiert sein soll.

Ein Moment wird mir in Erinnerung bleiben. Das war, als die von uns bestellte Sachverständige Frau Prof. Mechthild Schrooten aus Bremen über nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik und die Forderung danach gesprochen hat: Das Gesicht des Kollegen Brockes wurde während der Anhörung länger und länger. Das ist für mich ein unvergessener Moment. Trotzdem, lieber Dietmar, sind wir kollegial miteinander umgegangen, und wir hatten auch Spaß miteinander. Ich sage Ihnen allen noch einmal vielen Dank.

(Beifall von Dietmar Brockes [FDP])

Ich werde weiterhin wirtschaftspolitische Rede halten; ich hoffe, es wird hier sein, und wenn es nicht hier ist, wird sich vielleicht Herr Duin freuen; ich weiß es nicht. Aber ich werde sie weiterhin halten, egal wo. – Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN und von Dietmar Brockes [FDP])

Vizepräsident Eckhard Uhlenberg: Herr Dr. Paul, vielen Dank für Ihre Rede und vielen Dank für Ihre Arbeit. Aber wer weiß, was die Wahl mit sich bringt; Sie treten ja noch einmal an. Von daher können Sie hier oder an anderer Stelle weiter wirtschaftspolitische Reden halten, was für Sie offensichtlich zu einem Lieblingsthema und zu einer besonderen Berufung geworden ist.

(Dr. Joachim Paul [PIRATEN]: Ja, ich habe es lieben gelernt!)

Vielen Dank also, auch für diese Rede. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Minister Duin.

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

TOP 2 – 05.04.2017 – LT NRW – Römische Verträge, Europa reloaded

Meine Rede zu TOP 2 am 5. April 2017 – 60 Jahre Römische Verträge – Nordrhein-Westfalen würdigt und feiert die Grundsteinlegung für die Europäische Union
Antrag der Fraktion der CDU – Drucksache 16/14652
in Verbindung damit – Die europäische Wertegemeinschaft erhalten, um sie zu verbessern!
Antrag der Fraktion der SPD und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Drucksache 16/14663
Entschließungsantrag der Fraktion der PIRATEN – Drucksache 16/14758
Entschließungsantrag der Fraktion der FDP – Drucksache 16/14762

Aus dem Plenarprotokoll: Vizepräsident Oliver Keymis: Als nächster Redner spricht für die Fraktion der Piraten Herr Dr. Paul.

Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank, lieber Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauerinnen und Zuschauer! – 2017 markiert das Jubiläumsjahr der Römischen Verträge, das Fundament der heute so viel gescholtenen Europäischen Union. Schon damals, 1957 – übrigens mein Geburtsjahr –, wurde der Grundstein für das Europäische Parlament, einer weltweit einmaligen Institution der Demokratie, gelegt. Das sollte man nicht vergessen.

Auch nicht vergessen darf man – bei aller angebrachten Kritik an den europäischen Institutionen –, dass die EU weltweit als eines der erfolgreichsten Demokratie- und Freiheitsprojekte der jüngeren Geschichte angesehen wird. Doch trotz ihrer Verdienste haben die Verantwortlichen in der Kommission, im EU-Parlament und vor allem die Staats- und Regierungschefs das Einlösen zahlreicher zentraler Versprechen sträflich vernachlässigt, und das viel zu häufig einzig und allein aufgrund mangelnden politischen Willens, dem undemokratischsten aller möglichen Gründe.

Der wohl gravierendste Konstruktionsfehler der EU ist ihr Defizit an demokratischer Legitimation. Das besteht seit ihrer Gründung. Der Einigungsprozess konzentrierte sich vornehmlich auf wirtschaftliche Integration mit guten, aber teils auch verheerenden Resultaten, wie die Finanzkrise 2007/2008 zeigte. Politischen Entscheidungen auf europäischer Ebene müssen europaweite öffentliche Debatten vorausgehen, an denen sich alle Menschen angemessen beteiligen können. Ohne eine gleichberechtigte und diskriminierungsfreie Kommunikation ist das unmöglich.

Mit dem Internet steht uns heute ein Werkzeug zur Verfügung, das den Menschen in der EU politische Entfaltungschancen eröffnen kann. Wir Piraten wissen das: Zur Überwindung des Demokratiedefizits brauchen wir eine echte europäische Öffentlichkeit auf der Basis eines freien Internets. Daran arbeiten wir jeden Tag.

(Beifall von den PIRATEN)

Auch die EU muss hier einen eigenen Beitrag leisten. Im Zuge der digitalen Revolution muss beispielsweise ein Recht auf digitale Teilhabe an der Gesellschaft in der europäischen Grundrechtecharta verankert werden.

Ich möchte aber auch auf die tagesaktuellen und dringenden Herausforderungen Europas zu sprechen kommen – weg von den wichtigen und teilweise sehr abstrakten Langzeitproblemen.

Der Brexit ist die Mutter aller Lose-lose-Situationen. Die verantwortlichen politischen Entscheider müssen nun Antworten auf diesen bedauernswerten Zustand finden – das wurde hier schon mehrfach erwähnt –, unter anderem Antworten in den Bereichen Bildung, Wissenschaft und Forschung, Handel und Arbeitnehmermobilität, Wahlrecht und Medien. Das sind nicht nur Landesinteressen, sondern das betrifft auch Kompetenzen. Deshalb war es richtig, dass sich der Bundesrat im März in einer Entschließung für eine enge Einbeziehung der Länder in die Brexit-verhandlungen ausgesprochen hat. Warum Nordrhein-Westfalen nicht auch Mitantragsteller der Entschließung war, wird uns sicherlich Herr Minister Lersch-Mense erklären können.

Auch ein ganz eigenes Anliegen Nordrhein-Westfalens ist vom Brexit betroffen: Die heute in London ansässige Europäische Arzneimittel-Agentur EMA braucht demnächst einen neuen Standort innerhalb der EU. Hier muss die Bundesstadt Bonn positioniert werden, um die EU-Agentur nach Nordrhein-Westfalen zu holen – ein idealer Standort sowohl für NRW als auch für die EU.

Ein weiteres Thema, das endlich konsequent angegangen werden muss, ist die Situation der Geflüchteten in der EU. Die europäische Flüchtlingspolitik muss endlich auf ein nachhaltiges, humanes und dezentrales System umgestellt werden. Was für den landespolitischen Integrationsplan gilt, gilt auch für die europäische Flüchtlingspolitik: Wir müssen weg von der Abwehrhaltung und dem Aussitzen der Flüchtlingssituation.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)

Ich möchte zusammenfassend einen Blick auf die Zukunft der EU werfen, denn die Frage lautet ja – das wurde von meinen Vorrednerinnen und Vorrednern bestätigt –: Wo wollen wir als Europäische Union eigentlich hin? Die Antwort der Piraten ist eindeutig: Wir brauchen ein Update des politischen Systems der EU und eine grundlegende Reform der Beziehungen zu den Mitgliedstaaten und Regionen – kurzum: eine demokratischere Basis.

Der Dialog mit den Menschen muss unmittelbar in den Regionen, Gemeinden und Kommunen passieren, in den Town-hall-Meetings und Bürgermeistersprechstunden, in den Landesforen und Landtagsausschüssen. Hier kommt Nordrhein-Westfalen als einem aktiven europapolitischen Player eine ganz besondere Verantwortung zu. Dies drückt sich auch in der Fortführung der wichtigen Arbeit des Europaausschusses des Landtags von Nordrhein-Westfalen aus.

Meine Damen und Herren, ich hatte es bereits in einer der letzten Europadebatten gesagt: Wir brauchen eine positive Vision für unseren Kontinent. – Diese Vision beleuchten wir in unserem Entschließungsantrag. Denn oftmals bedeutet die EU für die junge Generation nur noch einen leblosen Binnenmarkt oder ein chancenvernichtendes Spardiktat. Was wir brau-chen, ist ein Europa des sozialen Ausgleichs, der politischen Transparenz, der Bildung in der digitalen Welt und der fairen Unternehmensbesteuerung. Ein Systemupdate für Europa ist verfügbar. Lassen Sie uns das bitte gemeinsam installieren.

Herr Wolf, Sie haben gerade die Globalisierung und den Wettbewerb in Europa angesprochen. Ich glaube, man darf an der Stelle nicht vernachlässigen, dass Europa eigentlich als Mannschaft auftreten sollte, und dann muss man gucken, dass die Mannschaft insgesamt und nicht nur einige wenige gut aufgestellt sind. Das ist meiner Meinung nach wesentlich.

Die vier Anträge der Fraktionen legen eigentlich so etwas wie einen gemeinsamen Antrag nahe. Ich möchte allerdings auch zum Ausdruck bringen, dass die vier Anträge zeigen, dass man sich dem Thema „Europa“ auf unterschiedlichste Weise nähern kann, aber trotzdem ist das grundsätzliche Bekenntnis zu Europa dabei nicht infrage gestellt. Das ist eben auch Element einer klaren Haltung aus dem Landtag Nordrhein-Westfalen und dem Europaausschuss.

Lassen Sie mich abschließend den scheidenden Kolleginnen und Kollegen auch noch persönlich danken. Liebe Ilka, lieber Markus, lieber Ingo, bei allem Streit, den wir im Ausschuss – manchmal auch recht heftig – geführt haben, denke ich, dass ich als Jungparlamentarier (Vereinzelt Heiterkeit)

ein bisschen von euch gelernt habe. Das war gut. Ich sage jetzt noch nicht „Auf Wiedersehen!“; denn ich kandidiere noch einmal, und da halte ich es mit Katja Ebstein: Wunder gibt es immer wieder. – Vielen Dank.

(Heiterkeit – Beifall von den PIRATEN, der SPD und den GRÜNEN)
Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Paul für die Piratenfraktion. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Lersch-Mense, der zuständige Europaminister.

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

Rechtsformen, Steuern und Sozialversicherung – Das Verhältnis zum Staat

Auch erschienen in der Gai Dao – Sonderausgabe Solidarische Ökonomie

Kollektivbetriebe (und hier lag der Schwerpunkt der geführten Interviews) haben im allgemeinen den Anspruch, Arbeit hierarchiefrei (ohne Chef*in) zu ermöglichen. Da wir aber vom Ideal einer herrschaftsfreien Gesellschaft sehr weit entfernt sind, bleiben viele Konstrukte daher in dem Widerspruch begrenzt, nach außen rechtliche Vorgaben erfüllen zu müssen, die nicht notwendigerweise zu den eigentlichen Vereinbarungen, Werten und Zielen im Innenverhältnis passen.

Grundsätzlich ist davon auszugehen, dass in einem auf Kapitalismus (und Wachstum) basierenden Rechts- und Steuersystem Formen des solidarischen Lebens kaum Unterstützung erfahren.

Die Diskrepanz zeigt sich unter anderem im Begriff der „Gewinnerzielungsabsicht“, der sowohl bei der Definition von Gewerbebetrieben und der Kaufmannseigenschaft als auch im Steuerrecht Anwendung findet. Wenn beispielsweise davon ausgegangen wird, dass die Tätigkeiten eines Unternehmens etwa auf den Neigungen des Steuerpflichtigen beruhen und nicht dazu geeignet ist, entsprechend Gewinne zu erwirtschaften, hat dies Folgen vor allem bezogen auf die Möglichkeit, Verluste aus dieser Tätigkeit auf andere Einkünfte anzurechnen (Einkommensteuer). Die Pflicht, Umsatzsteuer zu zahlen, bleibt davon unberücksichtigt. (Dem Staat entgehen in diesem Fall keine Einnahmen, die Möglichkeiten für die oder den Steuerpflichtige/n werden hingegen begrenzt.)

Problematisch ist dies für Kollektive/Kooperativen allerdings nur im Einzelfall (siehe unten), da auch Kollektivbetriebe ohnehin insoweit Gewinn erzielen müssen, dass sie in der Marktwirtschaft überleben können.

Die Frage der besten Rechtsform 

Die Gründung eines Unternehmens führt (nicht nur bei Kollektivbetrieben) unweigerlich auch immer zur Frage der besten Rechtsform für das Unternehmen. Die Möglichkeiten sind hierbei für Kollektivbetriebe nicht anders als für herkömmliche Unternehmen. In vielerlei Hinsicht sind auch die Vor- und Nachteile ähnlich. Unterschiedliche Ansprüche ergeben sich allerdings aus dem Streben nach Hierarchiefreiheit.

Die einfachste Varianten hierbei sind sicher Einzelunternehmungen und Personengesellschaften, zum Beispiel die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR, auch BGB-Gesellschaft genannt). Die Gründung ist simpel, kostet kaum und ist schnell vollzogen. Eine GbR kann bereits entstanden sein, ohne dass die Beteiligten dies wissen. Das Streben nach einem gemeinsamen Ziel (im übertragenen, aber durchaus auch im direkten Sinne, z.B. bei einer Fahrgemeinschaft), aber auch eine WG, kann bereits eine GbR darstellen (ohne dass man dies je direkt erklärt hätte).

Da bei der GbR alle Beteiligten gleiche Rechte (im Innen- und Außenverhältnis) haben, klingt dies auf den ersten Blick durchaus gut. Das große Problem dieses Konstrukts liegt jedoch in der gesamtschuldnerischen Haftung aller Gesellschafter*innen nämlich einzeln für alle Verbindlichkeiten der Gesellschaft und dies auch mit dem Privatvermögen der Beteiligten.

Eine zentrale Frage bei der Wahl der passenden Rechtsform ist dementsprechend die der Haftungsbeschränkung auf das Unternehmensvermögen. Im Falle einer „Pleite“ (rechtlich: Insolvenz) eines Unternehmens ist es sinnvoll, den Schaden insofern zu begrenzen, dass beteiligte Menschen nicht mit ihrem privaten Geld für Schulden des Unternehmens einstehen müssen, sondern dass diese Haftung auf das Vermögen des Unternehmens begrenzt bleibt.

Hier drängt sich förmlich die Rechtsform der GmbH auf, bei der das Problem der Haftungsbeschränkung sinnvoll gelöst ist. Jedoch ergeben sich andere Nachteile. Die Gründung einer GmbH ist aufwändig (notariell beurkundeter Gesellschaftervertrag, Eintrag ins Handelsregister etc.), was für sich schon finanzielle Mittel erfordert. Erschwerend hinzu kommt die notwendige Stammeinlage von 25.000 €, die dem Umstand der Haftungsbeschränkung geschuldet ist, Gläubiger*innen schützen soll, aber von der bei Gründung mindestens die Hälfte eben auch erst einmal vorhanden sein muss.

Weiterhin unterliegt die GmbH diversen Vorschriften für Kapitalgesellschaften. Es muss ein/e Geschäftsführer*in vorhanden sein, was als Hierarchieebene verstanden, aber durch Rotation und Regelungen im Innenverhältnis in der Wirkung begrenzt werden kann. Weiterhin gilt es, Vorgaben zum Jahresabschluss (Bilanz und Gewinn- und Verlustrechnung) erfüllen zu müssen.

Eine seit 2008 noch recht neue Alternative kann die Unternehmergesellschaft (UG) darstellen, die an den Möglichkeiten der GmbH angelehnt ist und von der aus dem britischen Raum bekannten Limited inspiriert wurde. Der offensichtliche Vorteil gegenüber der klassischen GmbH: Die Stammeinlage bei Gründung ist nahezu beliebig klein. (Deshalb wird auch von Mini-GmbH oder 1-Euro-GmbH gesprochen.) Im Gegenzug müssen deshalb jeweils 25 Prozent des Jahresüberschusses als Rücklage angesammelt werden (bis 25.000 Euro Stammkapital erreicht wurden). Weitere Vorschriften der GmbH bleiben bestehen (z.B. Buchführungspflicht).

Eine GmbH bleibt im Geschäftsleben aber anerkannt, weil durch die Sicherheit der Stammeinlage die Kreditwürdigkeit (Bonität) höher eingeschätzt wird.

Eine interessante Alternative kann die Genossenschaft sein. Zur Gründung benötigt man zwei Mitstreiter*innen (drei Gründer*innen sind vorgeschrieben). Die Genossenschaft ist so ein Ding zwischen Kapitalgesellschaften (GmbH) und Verein. Die Ideale von Genossenschaften klingen auch generell ganz gut. Es wird im Zusammenhang von Genossenschaften oftmals von Solidarität, Gemeinschaft und Kooperation gesprochen. Man benötigt keinen notariell beurkundeten Gesellschaftervertrag wie bei der GmbH und auch das Stammkapital entfällt. Allerdings gibt es auch hier Nachteile. Man muss ins Genossenschaftsregister eingetragen werden und -schlimmer noch- sich der Zwangsmitgliedschaft in einem Genossenschaftsverband unterwerfen. Hinzu kommt eine Zwangsprüfung zur Gründung und dann alle zwei Jahre, die entsprechend dem jeweiligen Aufwand vierstellige Kosten aufwirft. Weiterhin müssen vom Kern hierarchische Organe gebildet werden (Vorstand, Aufsichtsrat), wobei ein Verzicht auf einen Aufsichtsrat bei unter 20 Mitgliedern möglich ist.

Eine weitere Alternative kann die Gründung eines Vereins sein. Hierfür benötigt man sieben Gründer*innen, wiederum eine Satzung und einen Vorstand. Das Problem des Vereins findet sich in der Abgrenzung zur wirtschaftlichen Tätigkeit. Zwar kann auch ein eingetragener Verein einen wirtschaftlichen Geschäftsbetrieb aufweisen, aber vom Grundsatz dienen Vereine nicht dem Einkommenserwerb der Mitglieder, sondern kulturellen, politischen etc. Interessen und dem Gemeinwohl. Bei nicht eingetragenen Vereinen entspricht die Haftung der Mitglieder wieder der der BGB-Gesellschaft.

Was die Wahl der Rechtsform angeht, kann also keine allgemein gültige Empfehlung ausgesprochen werden. Die Entscheidung bleibt gerade für Kollektivbetriebe eine individuelle unter Berücksichtigung der jeweiligen Ziele in Abgrenzung oder Übereinstimmung zu den Vor- und Nachteilen der jeweiligen Rechtsform. Nachteile von Rechtsformen, speziell die der Haftung, aber auch Vertretung und Geschäftsführung lassen sich im Betrieb selber durch Binnenverträge intern abfedern, die solidarisches Eintreten füreinander im Haftungsfall regeln, aber eben auch durch die Rechtsform angelegte Hierarchieebenen nach innen einschränken können.

Die Verteilung ist entsprechend bei den interviewten Kollektivbetrieben ebenfalls nicht eindeutig. Ein Einzelunternehmen (aus später zu erläuternden Gründen), zwei BGB-Gesellschaften (tw. weil Geld zur Gründung einer GmbH fehlte), zwei GmbHs, zwei Genossenschaften, mehrere Vereine (bei der Kommune Niederkaufungen mehrere Vereine zu verschiedenen Zwecken der Vermögensverwaltung).

Über die Wahl der Rechtsform hinaus gibt es diverse Probleme, die Ziele solidarökonomischer Betriebe in Einklang mit dem herrschenden Rechtssystem bringen zu wollen. Mögliche Fallen können hier nur exemplarisch aufgrund der geführten Interviews angerissen werden.

Sozialversicherung

Bei fast allen interviewten Kollektiven war dem Wunsch nach Sicherheit bezüglich Krankenversorgung etc. dadurch entsprochen worden, dass alle Personen des Kollektivs sozialversicherungspflichtig angestellt sind. Teilweise wurden sämtliche dabei entstehende Kosten durch die Kollektive bzw. den Betrieb übernommen.

Versorgung im Alter war hingegen über die gesetzlichen Grundlagen hinaus kaum Thema. Dies beschäftigt eher Kollektive mit älteren Kollektivist*innen bzw. Kommunen, die sich akut damit konfrontiert sehen. Bis zu dem Moment wird die Frage oftmals verdrängt angesichts aktuellerer Probleme.

Entlohnung

Einige Kollektive diskutieren oder testen Bedarfslöhne. Für die Entkoppelung von Leistung und Bedarf gibt es im Grunde keine rechtliche Entsprechung. Eine Entlohnung erfolgt dann über Hilfskonstrukte wie (fiktive) Stundenlöhne oder feste Gehälter (unabhängig von der Arbeitszeit).

Entlohnung bietet weitere Aspekte zur Diskussion. Dem Wunsch nach einem einheitlichen Lohn stehen rechtliche Vorgaben entgegen, dass z.B. Menschen mit (auf dem Papier) höherer Qualifikation oder Verantwortung (Bsp. Meister*innen) mehr verdienen müssen als Menschen mit niedrigerer Qualifikation. In solchen Fällen sind große Systeme, wie beispielsweise die Kommune Niederkaufungen im Vorteil. Die Höhe der jeweiligen Löhne/Gehälter ist dort nicht mehr relevant, weil alle Einnahmen/Einkünfte in einen gemeinsamen „Topf“ der gemeinsamen Ökonomie fließen. Individuelles Vermögen ist dann entsprechend nicht mehr vorhanden.

Erwerb von landwirtschaftlich genutzten Flächen 

Im Fall eines Interviewpartners wurde das Problem deutlich, dass der Kauf landwirtschaftlicher Flächen (je nach Bundesland) den Vorgaben unterliegt, dass diese nicht von einem Verein, sondern nur von Gärtner*innen/Landwirt*innen als natürliche Person (deshalb dann die Wahl der Rechtsform Einzelunternehmung, siehe oben) gekauft werden können und der Nachweis über einige Jahre erbracht werden muss, ob eine betriebswirtschaftlich sinnvolle (also Gewinn bringende) Bewirtschaftung erfolgt, bevor der Kauf endgültig wird.

Beratung sinnvoll

Bei Neugründung von Kollektiven gibt es Beratungskollektive, die helfend zur Seite stehen. Zudem ist es sinnvoll, sich mit schon bestehenden Kollektiven zu vernetzen und auf deren Erfahrungen aufzubauen.

Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass alternative Ansätze dem Problem unterliegen, sich geltenden Gesetzen unterwerfen zu müssen, die für sie nicht taugen und ihre Handlungsfähigkeit einschränken. Somit muss oftmals auf Umwegen und mit unnötigen Kompromissen gearbeitet werden. Wenn wir davon ausgehen, dass bei vielen solidarökonomischen Betrieben eine herrschaftsfreie Gesellschaft angestrebt wird und damit einhergehend auch die Überwindung des Kapitalismus Fernziel ist, sollte die Ausgestaltung der rechtlichen Zwänge im Außenverhältnis und formaljuristisch zumindest insoweit erfolgen, dass diese Ideale nicht verdrängt, sondern mindestens im Innenverhältnis gelebt werden können.

In der Mehrheitsgesellschaft übersteigen von der Norm abweichende Lebens-, Arbeits- und Selbstorganisierungskonzepte die Vorstellungskraft der meisten Menschen. Unsere Forderung muss dennoch gegen alle Widerstände sein, dass menschlich kooperatives Handeln Zwangsstrukturen nicht unterworfen werden darf. Konzepte von Kollektivbetrieben können der Mehrheitsgesellschaft als Vorbild dienen und in den von der Leistungsgesellschaft und Konkurrenz gehetzten Menschen den Traum wecken, anders leben und arbeiten zu wollen.

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

Unterschiede zwischen Kollektiven und herkömmlichen Betrieben 

Auch erschienen in der Gai Dao – Sonderausgabe Solidarische Ökonomie

Bei der Beschäftigung mit kollektiv organisierter Arbeit fällt auf, dass es Unterschiede vor allem im Erleben von Arbeit gibt. Es existiert eine höhere Identifikation mit der Tätigkeit und dem Arbeitsplatz. Das trägt aber auch die Gefahr der Bereitschaft in sich, gewerkschaftlich erkämpfte Errungenschaften zu unterlaufen (z.B. Bereitschaft zur Arbeit unter Mindestlohn oder zu unbezahlter Arbeit/Mehrarbeit). Dabei ist aber auch zu beachten, dass dies vorerst eine These ist und der Text keinen Anspruch auf Allgemeingültigkeit erheben kann. Bei der Zusammenfassung der Interviews und der daraus gewonnenen Erkenntnissen, handelt es sich schließlich um keinen repräsentativen Querschnitt. Trotzdem wiederholten sich diverse Aussagen zu unterschiedlichen Themen. Daraus lässt sich schließen, dass es zumindest ähnliche Ansichten in unterschiedlichen Betrieben gibt.

Warum gründet man einen Kollektivbetrieb oder steigt bei einem ein?

In den meisten Fällen entsteht ein Kollektivbetrieb aus dem Wunsch der Beteiligten, ohne Chef*in arbeiten zu wollen. Dies kann aus dem eigenen negativen Erleben von hierarchischen Strukturen in Betrieben erfolgen, aber auch aus dem Ideal einer insgesamt herrschaftsfreien Gesellschaft. Damit einhergehend sind oft weitere Ideale von flexibler Arbeitsgestaltung, Mitbestimmung, Arbeit im Team, Abkehr vom Leistungsprinzip und Konkurrenz bis hin zur Hoffnung auf Überwindung des Kapitalismus durch Schaffung paralleler Strukturen.

Das Hinterfragen, Identifizieren und Reflektieren von (möglichen) Hierarchien und das Streben nach Vermeidung dieser vollzieht sich in unterschiedlichen Formen. Offensichtlichere gesellschaftliche Hierarchien wie patriarchale Strukturen werden entsprechend genauso erfasst wie weniger deutliche, die u.a. durch Informationen oder Wissen/Fähigkeiten entstehen. Durch den auch Kollektiven auferlegten Zwang zum effizienten Wirtschaften lässt sich das Ideal der rotierenden Verteilung von Arbeit jedoch kaum durchhalten. Diesem Manko wird mit Transparenz und Kommunikation begegnet. Auch werden zumindest alle Aufgaben so besetzt, dass mindestens zwei Personen einen Bereich abdecken können. Eine solche Aufteilung ist nicht nur für Urlaubs- und Krankheitszeiten sinnvoll, sondern beugt auch einem möglichen Wissensvorsprung vor, beispielsweise bei Menschen, die die Bücher führen und die Finanzen verwalten. 

Bei reinen Frauenkollektiven stellt sich die Frage nach geschlechtertypischen Arbeiten oder diskriminierenden Einstellungsverfahren nicht. In den jeweiligen Kollektiven wird dies als Vorteil empfunden. Dies betrifft aber z.B. bei Betrieben der Gastronomie nur das Innenverhältnis. Den Umgang mit möglicherweise sexistischer oder anderweitig diskriminierender Sprache von Gästen muss man gesondert thematisieren. Das Aufbrechen von geschlechtertypischer Arbeit gelingt aber auch in gemischten Kollektiven in Abgrenzung zu normalen Betrieben. Herkömmliche Druckereien ermöglichen Frauen* z.B. seltener die Bedienung großer Maschinen. 

Letztendlich muss aber generell die Sensibilität für mögliche Hierarchien erlernt werden, da wir in unserer aktuellen Gesellschaft einschließlich dem Bildungssystem und der politischen Ordnung hierarchisch sozialisiert wurden. Kommunen, Kooperativen und Kollektivbetriebe bieten hierfür gute und realistische Lernorte eines anderen Umgangs, Arbeitens und Lebens an. 

Grundsätzlich wird in allen Interviews deutlich, dass die Arbeit im Kollektiv als befriedigender als vergleichbare Arbeit in herkömmlichen Unternehmen empfunden wird. Dies basiert unter anderem eben auf dem Gefühl, an allen Entscheidungen und Plänen beteiligt zu sein. Wohlfühlen, fairer, menschlicher, freundschaftlicher Umgang hat für alle Beteiligten einen höheren Wert als bei Jobs, die dem reinen Lohnerwerb dienen. Hierarchisch organisierte Arbeit wird nicht als derart befriedigend empfunden. 

Die vorangegangenen Erläuterungen verdeutlichen, dass Arbeit im Kollektivbetrieb (oder auch Zusammenleben in Kommunen) auf Vertrauen und Sympathie basiert. Es ist daher nachvollziehbar, dass nahezu alle Kommunen und Kollektivbetriebe längere Probezeiten vereinbaren. Diese können natürlich auch als Machtstruktur oder -instrument empfunden werden. Leider ist es für ein langfristig funktionierendes System aber derzeit schwer, dies zu umgehen.

Entscheidungsfindung in hierarchiearmen Strukturen 

Um dem Anspruch an Hierarchiefreiheit zu genügen oder zumindest nahe zu kommen, kommt Emtscheidungsprozessen eine besondere Bedeutung zu. Als zumeist präferiertes System ist die Entscheidung im Konsens zu nennen. Meist wird dies kombiniert mit wöchentlichen Plenumssitzungen, die als Arbeitszeit angesehen werden und mehrere Stunden dauern können. Unterschieden wird in mehreren Kollektiven zwischen Arbeitsplena und wahlweise sozialen oder auch Perspektivplena. Mit zunehmender Größe der Strukturen ist eine Ausdifferenzierung der Entscheidungsprozesse zu beobachten, was gelegentlich von Menschen als langsamer/träger bei Entscheidungen empfunden wird. Das in den geführten Interviews komplexeste System weist eine große Kommune auf (die hier trotz des Fokusses auf Kollektivbetriebe erwähnt wird, weil sie unterschiedlichste Kollektivbetriebe integriert). Hier wird im wöchentlichen Plenum zwar mit Meinungsbildern etc. abgestimmt, Diskussionen werden aber ausgelagert in Kleingruppen. Eine zu treffende Entscheidung muss mindestens zwei Wochen an der Pinnwand angekündigt werden, so dass allen Kommunard*innen genügend Zeit bleibt, sich mit dem Problem zu befassen. Es gibt dann unterschiedlichste Kategorien bei einer Abstimmung, z.B. die Möglichkeit, den Fachkundigen die Entscheidung zuzutrauen und quasi zu delegieren. Aber auch abgestufte Varianten von Zustimmung und Ablehnung. Zusätzlich wird abgefragt, ob eine mögliche Entscheidung existentiell ist. (Also ob man aussteigen müsste, wenn diese Entscheidung so getroffen würde oder umgekehrt, ob man aussteigen müsste, wenn diese Entscheidung so nicht getroffen würde.)

Auffällig war hier darüber hinaus die sehr tiefgehende Reflexion von diversen nicht so offensichtlichen Hierarchien, wie z.B. durch Beliebtheit einzelner Personen innerhalb der Gemeinschaft. Solche nicht so direkt sichtbaren sozialen Dynamiken bekommen gerade in Strukturen, in denen es über gemeinsames Arbeiten hin zum gemeinsamen Gestalten des ganzen Lebens geht, noch eine größere Bedeutung als in reinen Kollektivbetrieben. Aber auch im Kollektivbetrieb bieten Differenzen im zwischenmenschlichen Bereich das größte Konfliktpotential. Die Bewältigungsstrategien sind dabei sehr unterschiedlich. Es kommt deshalb immer wieder zu personeller Umbesetzung aufgrund solcher Konflikte, die ein Kollektiv auch nachhaltig verändern können ins Positive, aber auch zum Scheitern führen können. Meinungsverschiedenheit alleine muss dabei keinen Konflikt auslösen, solange es keine verhärteten Fronten gegeneinander gibt und die Entscheidungen entsprechend jedes Mal mit neuen Allianzen getroffen werden können. In wirklich ernsten Konfliktfällen greifen mehrere Kollektive auf Hilfe von außen zurück in Form von Supervision oder Mediation. Dies unterscheidet Kollektive nicht notwendigerweise von normalen Unternehmen, jedoch ist der Wunsch, eine gemeinsame Lösung zu finden, eventuell höher aufgrund der stärkeren Identifikation mit dem Kollektiv und der schon anfangs erwähnten wichtigen Vertrauensbasis, die bei neuen Kollektivist*innen auch erst einmal aufgebaut werden müsste. Anders als in herkömmlichen Unternehmen fehlen aber eben Führungspersonen, die regulierend eingreifen könnten im Konfliktfall, was die Verantwortung auf jedes einzelne Kollektivmitglied überträgt, an der Konfliktlösung mitzuarbeiten und diese Lösung dann aber vermutlich auch stärker zu akzeptieren als bei einer von oben aufdiktierten Variante. 

Arbeitsorganisation und Entlohnung 

Es liegt aufgrund der geführten Interviews die Vermutung nahe, dass die Arbeit in Kollektivbetrieben Menschen zufriedener macht. Zwar lässt sich damit der Zwang zur Erwerbsarbeit nicht auflösen, jedoch empfinden viele Menschen bei der Arbeit im Kollektivbetrieb mehr Sinnhaftigkeit für ihr Tun. Das ist sicherlich zunächst positiv zu sehen, birgt aber auch die Gefahr der Bereitschaft unter tariflichen Standards zu arbeiten oder gar auf Lohn ganz zu verzichten aufgrund anderer Einkünfte. In den von uns besuchten Kollektivbetrieben wird Arbeit mehrheitlich in wöchentlichen Plena geplant und verteilt. Dies beinhaltet dementsprechend auch die unangenehmen Aufgaben oder die Aufgaben, bei denen eine klare Verantwortlichkeit fehlt. Spannend gestalten sich diese Diskussionen z.B. bei Kollektiven wie dem Reichenberger Praxiskollektiv, weil es Aufgaben gibt, die nicht klar der Gruppe der Ärzt*innen oder Nicht-Ärtz*innen zugerechnet werden können. Hier bieten sich Möglichkeiten, Hierarchien aufzubrechen. 

Problematisch bleibt die Frage, ob Kollektive Aushilfen beschäftigen sollen, die außerhalb des Kollektivs stehen. Dies ist vor allem im Gastrobereich üblich. Teilweise wird versucht, die Aushilfen trotzdem an Entscheidungen zu beteiligen, obwohl sie nicht Mitglieder des Kollektivs sind. Hier verwischen die Grenzen von Kollektivbetrieb und normalem Unternehmen, weil die Kollektivist*innen somit doch als Arbeitgeber*innen auftreten. 

Ein großer Vorteil der meisten Kollektivbetriebe ist die Möglichkeit zur flexiblen Gestaltung von Arbeitszeit. Diese ist natürlich von Öffnungszeiten abhängig bei einigen Betrieben, lässt aber in Absprache mit den anderen Mitgliedern mehr Freiräume als in herkömmlichen Betrieben. Dies ist durchaus von Einsteiger*innen oder Gründer*innen als Punkt für ein Kollektiv genannt worden, weil damit Aktivismus, aber auch Kindererziehung gut vereinbar war oder ist. 

Die gängigste Form der Entlohnung in den von uns befragten Betrieben ist der Einheitsstundenlohn, der für alle Mitglieder eines Kollektiv gleich ist. Die Abrechnung der Stunden beruht weitgehend auf Vertrauen. Was als Arbeit definiert wird, ist von Kollektiv zu Kollektiv unterschiedlich. Dabei sind, wie bereits erwähnt, allerdings nur wenige Betriebe in der Lage, branchenübliche Tarife zu zahlen. Im Gegenzug wird bei einigen Kollektiven die Sozialversicherung komplett vom Kollektiv getragen. 
Langfristig spannender, aber auch rechtlich und in der Diskussion schwieriger sind Bedarfslöhne, bei denen versucht wird, den individuellen Bedarf an finanziellen Mitteln von der tatsächlich geleisteten Arbeitszeit zu entkoppeln. Dies wird trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten von mehreren Kollektiven erörtert oder sogar schon erfolgreich getestet. 

Kommunen mit gemeinsamer Ökonomie sind diesem Prinzip bereits näher, weil dort individuelle Löhne/Gehälter in einen gemeinsamen Topf fließen und dann individuelle Bedürfnisse wiederum daraus gedeckt werden. Hierbei ist die Entkoppelung von geleisteter Arbeit und dem davon unabhängigen jeweiligen Bedarf der einzelnen Kommunard*innen noch deutlicher vollzogen.

„Alles Kapitalismus, alles Nestlé“?

(Marc-Uwe Kling)

Problem: Macht man sich nicht etwas vor? Die Grundsatzfrage, ob es ein richtiges Leben im Falschen gibt, bleibt bestehen. 
Letztendlich muss auch ein Kollektivbetrieb sich rentieren. Es muss zumindest genug verdient werden, um angemessene Löhne/Gehälter zahlen zu können. Es müssen Rücklagen für Investitionen gebildet werden. Man steht als Betrieb im Kapitalismus in Konkurrenz zu „normalen“ Betrieben, die ähnliche Güter oder Dienstleistungen anbieten. Es geht also auch um die schwarzen Zahlen, die man am Ende des Monats erwirtschaftet haben muss. Selbst mit dem Anspruch, Kapitalismus überwinden zu wollen, unterwirft man sich mehr oder weniger der Forderung nach Wachstum. Um überlebensfähig zu bleiben, sucht man Nischen oder akzeptiert die Regeln des Kapitalismus und spielt mit. 

In vielen Kollektivbetrieben werden außerhalb des Kollektivs Menschen als Arbeitskräfte beschäftigt, oftmals als Aushilfen, zum Putzen zum Beispiel. Dies mag durchaus von den betroffenen Menschen so gewollt sein, führt aber dazu, dass es wiederum Herrschaft gibt und zumindest potentiell ausbeutende Strukturen, die dann noch als weniger schlimm empfunden werden, weil es ja ein „guter“ Betrieb ist und die Menschen eventuell sogar an Entscheidungen teilhaben können. Es ist also ketzerisch die Frage, ob man überhaupt etwas lernt, was außerhalb des Kapitalismus liegt.

Es reicht langfristig nicht, Hierarchien nur im Kleinen, im Kollektivbetrieb, der Kooperative, der Kommune zu verringern. In unserem aktuellen Wirtschaftssystem kann auch arbeiten ohne Hierarchien trotzdem zu Leistungsdruck führen. Nur wird dieser dann nicht von Führungspersonen ausgeübt, sondern könnte gegenseitig ausgelöst und durch moralischen Druck erhalten werden. 
Vielleicht können aber Konzepte von Kollektivbetrieben (noch stärker Kommunen mit gemeinsamer Ökonomie) trotz allem in der Mehrheitsgesellschaft auch als Vorbild dienen. Es ist in breiter Masse festzustellen, dass es Unzufriedenheit gibt. Allerdings wird diese nicht in Protest gegen herrschende Verhältnisse, Ausbeutung etc. gerichtet, sondern stattdessen wird nach unten getreten gegen die, die noch weniger haben, Asylsuchende, Obdachlose und andere Gruppen. Entsolidarisierung statt gemeinsamem Protest gegen die tatsächlichen Ursachen. Angesichts dessen, dass Menschen aber auch Alternativen fehlen zu ihrem jetzigen Leben, könnten Kollektivbetriebe, so sie politisch nach außen offen tätig sind (Zeitressourcen?), sich vernetzen, mehr werden, Bildung betreiben, eine solche Alternative anbieten und falls es möglich wäre, entsprechend relevant viele Kollektive zu bilden, auch eine Gegenmacht zu kapitalistischer Produktion aufbauen. 

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

Home Widget 1

Dies ist dein erstes Homewidget-Kästchen. Um diesen Text zu bearbeiten, gehe zu Designs > Widgets > Home Widget 1. Benutze ein Text-Widget. Titel ist auch Einstellbar.

Home Widget 2

Dies ist dein zweites Homewidget-Kästchen. Um diesen Text zu bearbeiten, gehe zu Designs > Widgets > Home Widget 2. Benutze ein Text-Widget. Titel ist auch Einstellbar.

Home Widget 3

Dies ist dein drittes Homewidget-Kästchen. Um diesen Text zu bearbeiten, gehe zu Designs > Widgets > Home Widget 3. Benutze ein Text-Widget. Titel ist auch Einstellbar.