Platzpatronen qualmen nicht – StopWatching.EU Aftermatch in Brüssel

Brüssel, 2. Oktober 2013. Sonne, 18 Grad. Ich ging die Treppe hinab über den sandsteinfarbenen Platz vor dem Berlaymont-Gebäude, wo sonst Kamerateams darauf warten, dass sich Armani-Anzüge aus dunklen Limousinen schälen. Überwachungskameras fingen jeden meiner Schritte ein. Die Schiebetür mit dem Sternenbanner schnellte auf. Ein lautes Piepen durchfuhr meinen Kopf. Waren es die fünf Gläser billigen Scotchs vom Vorabend? Der Wachmann an der Sicherheitsschleuse des EU-Kommissionsgebäudes schaute mich einen Augenblick lang verwundert an und deutete dann mit einem kurzen, freundlichen Kopfnicken auf die Fahrstuhltüren hinter ihm. Ich hatte einen klaren Auftrag: Mehr als 3.000 EU-Bürger hatten mir das Mandat übertragen, mich gegen die Totalüberwachung in der EU einzusetzen.

Ich kam im 12. Stock des Berlaymont an und gleichzeitig aus meiner Jerry Cotton-Phantasie heraus. Zwar ließ mich der Kabinettschef von Viviane Reding, Prof. Dr. Martin Selmayr, noch etwas warten, dafür nahm er sich mehr Zeit für mich als erwartet. Diese Variante war mir wesentlich lieber als umgekehrt. Und mein Gesprächspartner sollte dafür sorgen, dass am Ende des Gesprächs wieder meine kriminalistischen Fertigkeiten angesprochen werden.

Da ich wusste, dass Prof. Selmayr nur wenig Zeit für mich und unser Anliegen hatte, kamen wir direkt zur Sache. Wir hatten Bürger aus ganz Europa aufgefordert, eine Beschwerde an die EU-Kommission wegen der Verletzung von Unionsrecht zu zeichnen . Damit war die Forderung verknüpft, ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Großbritannien einzuleiten. Bekanntlich hatte der Geheimdienst Ihrer Majestät – GCHQ – nicht nur die Kommunikation der eigenen Bürger, sondern quasi aller Bürger Europas abgehört, indem er insbesondere den Internetknotenpunkt in Richtung USA mittels des Programms „Tempora“ anzapft. Auf die Details möchte ich hier jetzt nicht mehr eingehen, die gibt es hier und hier nachzulesen.

Zu meiner Verwunderung stimmte mir Prof Selmayr sofort zu, dass die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren gegen die Briten einleiten könnte, wenn die Anschuldigungen stimmten: Wegen des Verstoßes gegen gleich mehrere in der EU verankerten Grundrechte. Doch dann relativierte mein Gegenüber seine Aussage schnellstens und verwies darauf, zur Einleitung des Verfahrens eine „Smoking Gun“ – also der konkrete und nachweisbare Rechtsbruch durch die Briten, z.B. die abgefangene Mail eines britischen Staatsbürgers – zu benötigen. Weder die britische Rechtsgrundlage des Tempora-Programms, der RIPA 2000, noch die Enthüllungen von Edward Snowden gäben der Kommission genügend Anlass ein Verfahren zu starten. Ohne „Smoking Gun“ seien die Erfolgsaussichten vor dem EuGH dürftig – und aussichtslose Verfahren wolle man nicht führen. Hier macht es sich die Kommission natürlich einfach. Sich hier auf den neutralen Standpunkt einer unpolitischen Verwaltung zurückzuziehen, ist mir zu wenig. Frühere Fälle in Sachen Vertragsverletzung zeigen, dass die Kommission hier durchaus aktiv wird, wenn der politische Wille besteht.

Während des Gesprächs kam Prof. Selmayr immer wieder auf sein Lieblingsthema zu sprechen: Die Datenschutzgrundverordnung. Wie wichtig diese sei und die eventuell erheblich verzögert würde, wenn man jetzt zu viele Ressourcen auf den Streit um Tempora verwenden würde. Immerhin seien nur 14 Kommissionbeamte für diesen Bereich zuständig. Ich muss gestehen: Eine bemerkenswert geringe Zahl, wenn man bedenkt, wie wichtig dieses Thema für unsere Gesellschaft ist und welches Heer an Lobby-Vertretern dem gegenüber steht.

Ich wies auch darauf hin, dass bei den Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen mit den USA die eigene Position gestärkt wird, wenn man in dieser Sache auch konsequent gegen die eigenen Mitgliedsstaaten vorgeht. So gewinnt man Glaubwürdigkeit, um die Einhaltung der gleichen Regelungen auch von den USA einzufordern. Mein Eindruck war, dass sich Prof. Selmayr diesem Argument nicht verschließen konnte.

Auch bleibt für uns als Partei festzuhalten: Wir hätten hier eine größere Schlagkraft entwickeln können, wenn nicht die Angst einiger Bedenkenträger eine höhere Aufmerksamkeit für die „StopWatchingEU-Aktion (und somit Mobilisierung von Unterstützern) verhindert hätte. Eine Angst, die sich nach dem Gespräch mit Prof. Selmayr als unbegründet erwies. Fazit: Es braucht eine Bürgerbewegung mit engagierten Menschen, die sich auch weiterhin gegen den Überwachungs- und Kontrollstaat einsetzt. Selbst die Kommission gab zu, auf dieses Engagement angewiesen zu sein.

Als ich nach knapp einer Stunde wieder hinaus in das gleißende Tageslicht von Brüssel trat, kreisten meine Gedanken um die letzten Worte meines Gastgebers: „Bringen Sie mir die ‚Smoking Gun‘“. Wieder ein Auftrag für Jerry Cotton. Vielleicht werden die nächsten fünf Glas Scotch helfen, eine heiße Fährte nach dem rauchenden Colt aufzunehmen. Vielleicht wird es aber auch einfach ein EU-Bürger sein, der der Kommission eine abgefangene E-Mail liefert. Dann würde die Kommission ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten. Das war jedenfalls die klare Botschaft an diesem Tag.

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