Plenarrede: Joachim Paul zu Haushalt 2014

Mittwoch, 25. September 2013

TOP 2. Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans des Landes Nordrhein-Westfalen für das Haushaltsjahr 2014

Gesetzentwurf der Landesregierung
Überweisung des Haushaltsgesetzes 2014, Drucksache 16/3800
Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 16/3801
Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 16/4000
Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 16/3802
Antrag der Fraktion der FDP, Drucksache 16/4024
Gesetzentwurf der Landesregierung, Drucksache 16/3966
1. Lesung
Unsere 1. Redner: Joachim Paul
Unsere Abstimmungsempfehlung: Zustimmung zur Ausschussüberweisung

 

 

 

 

Audiomitschnitt der Rede von Joachim Paul

[Audio:https://cloud.piratenfraktion-nrw.de/public.php?service=files&t=8a0ed9be3075f3ac8f5a7e0c1165f0b1&download]

 

Wortprotokoll zur Rede von Joachim Paul:

Dr. Joachim Paul (PIRATEN): Vielen Dank, Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr verehrte Damen und Herren! Liebe Zuschauer! Ich möchte mich gleich Herrn Priggen anschließen und noch einmal sagen: Das Ergebnis der Bundestagswahl ist zu akzeptieren. Daher auch von meiner Fraktion herzliche Glückwünsche und in einigen anderen Fällen auch Beileid!

(Vereinzelt Heiterkeit)

Das Wichtigste, das man über diese Bundestagswahl sagen kann, ist: Die Piraten sind nicht drin. Wir wären sicherlich eine Bereicherung für den Bundestag gewesen, gerade was unsere Unkonventionalität oder – wie Herr Priggen gerade sagte – unsere „marxistische Schwarmintelligenz“ anbelangt.

Demokratie ist aber mehr als nur der Gang zur Wahlurne. Als außerparlamentarische Kraft im Bund werden wir weiter mithelfen, die auch im Wahlkampf unter den Teppich gekehrten zentralen Probleme zu thematisieren: der zunehmende Verlust von Privatheit und Diskretion durch staatliche Schnüffeleien – eigentlich ein Selbstverrat der westlichen Demokratien –, die fehlenden Konsequenzen aus der zur Staatsschuldenkrise umgewidmeten Finanzmarktkrise, die drohenden Elendsökonomien durch die Sparpolitik, das Auseinanderbrechen des EuroRaums, die drohende Altersarmut durch eine falsche Rentenpolitik und die weitere ökonomische Spaltung unserer Gesellschaft.

Zahlreiche unserer Politikkonzepte sind bislang öffentlich nicht ausreichend diskutiert worden. Wir Piraten sind nach wie vor die Einzigen, die das neue Handlungsfeld „Politik und Technologie“ überhaupt auf dem Schirm haben. Hier trifft uns leider vielleicht die Umkehr des Gorbatschow-Wortes: „Wer zu früh kommt, den bestrafen die Ahnungslosen“.

Wir sind angetreten als ein politisches Langfristprojekt und müssen jetzt die Erfahrung machen, dass wir uns auch einmal an die eigene Nase zu fassen haben. Das Wahlergebnis bestätigt zudem: Es gibt keine politische Wechselstimmung in Deutschland; es gibt keine glaubhafte Alternative durch Rot-Grün. Schwarz, Rot oder Grün – die Krise wird ausgesessen. Es offenbart sich ein erstaunliches Ausmaß politischer Reserven des Aussitzens in krisenhaften Zeiten.

Dürfen wir aktuell Hoffnungen auf die SPD setzen? Eines steht fest: Ihrer Glaubwürdigkeit ist die SPD etwas schuldig.

Es müssen endlich Einnahmeverbesserungen zur vernünftigen Durchfinanzierung der Länder- und Kommunalhaushalte umgesetzt werden. Für diesen Fall sind wir ganz auf Ihrer Seite, meine Damen und Herren von der SPD. In diesem Jahr stieg die Wahlbeteiligung zwar geringfügig, dies darf aber keineswegs als Ende der Legitimationskrise dieser parlamentarischen Demokratie betrachtet werden. Auch an diesem Sonntag ist eine große Zahl von wahlberechtigten Bürgerinnen und Bürgern nicht zur Wahl gegangen.

Über die Motive dafür brauchen wir gar nicht zu spekulieren. In einer ganzen Reihe von Studien wird sehr deutlich festgestellt: Die Menschen fühlen sich von den etablierten Parteien nicht mehr vertreten. Echte Unterschiede werden nicht mehr gesehen, weil es sie nicht mehr gibt. Es werden Marken verkauft, keine Inhalte. Wundern wir uns also nicht, wenn uns dieses System irgendwann um die Ohren fliegt.

Die CDU hat es wieder geschafft. Sie stellt die größte Fraktion und wird wahrscheinlich die Regierung bilden. Man darf gespannt sein, wer sich ihr diesmal zum Fraß vorwirft. Manche Kröten sind vielleicht auch zu groß. Herr Laschet hat es im „Handelsblatt“ ja schon gesagt: Steuererhöhungen werden prinzipiell nicht mehr ausgeschlossen.

Die CDU hat diesen Wahlerfolg mit einer Kampagne geschafft, die so tut, als ob es in diesem Land keine Probleme gibt und die Kanzlerin alles im Griff hat. Beides ist falsch und wird schon bald wieder die Tagesordnung bestimmen. Denn die sogenannte Eurokrise ist noch längst nicht überwunden. Die schon jetzt aufgelaufenen Kosten werden uns künftig für staatliches Handeln fehlen, und es wird noch einiges auf uns zukommen. Die Wahl bedeutet: Auch in Zukunft werden die Vermögenenden und die Krisenverursacher an den Kosten nicht beteiligt.

Immerhin aber wird die CDU jetzt nicht mehr von einer nur ihrer Klientel verpflichteten FDP gedrängt. In vier Jahren kann man sich also nicht mehr damit hinausreden.

Ich fürchte, wir müssen uns auf weitere vier Jahre wachsende Ungleichheit einstellen. Das Armutsrisiko ist gestiegen, die Privatvermögen auch. Ursula von der Leyen verteidigt sich damit, dass in der Zeit der rotgrünen Bundesregierung die Ungleichheit noch stärker angewachsen sei. Da kann man nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Frau von der Leyen! Nach aktuellen Zahlen der Bundesregierung ist das Armutsrisiko seit 2005 auf 15,2 % gestiegen. Das heißt, dass fast jeder sechste Mensch in dieser Republik davon bedroht ist. Das sind 12,5 Millionen Menschen, 12,5 Millionen Schicksale. Ich finde, wir sollten uns was schämen.

(Beifall von den PIRATEN)

Der Umstand, dass in der Zeit von 1998 bis 2004 das Armutsrisiko deutlich stärker gestiegen ist, entschuldigt das Versagen der letzten Bundesregierungen überhaupt nicht, ist aber vielleicht eine wichtige Erklärung für das individuelle Ergebnis der SPD.

Eurokrise und Armut sind nur zwei Themen von vielen, die uns weiterhin beschäftigen werden. Wir werden auch morgen sehen, dass die Kanzlerin diese Probleme nicht im Griff hat. Schon gar nicht hat die Bundeskanzlerin das Problem der Finanzierung der Bundesländer im Griff. Das sieht man schon, wenn man den Entwurf unseres NRW-Haushalts aufschlägt.

Den einzelnen Ressorts Finanzmittel für ihren Haushalt und dessen einzelne Titel zur Verfügung zu stellen, das ist die Hauptaufgabe eines Abgeordneten in unserem Land. Auf dieser Budgethoheit beruht die Würde des Hohen Hauses, dem wir angehören.

Umso mulmiger wird mir, wenn ich die neueren Veränderungen und die tatsächlichen Kompetenzen betrachte. Ich fühle mich da so ein bisschen wie auf einem zugefrorenen See, in dem nach allen Seiten Sprünge klaffen. Was können wir Abgeordneten eigentlich noch entscheiden, wenn in einem vorher nie dagewesenen Ausmaß staatliche Mittel als Bürgschaft und Rettungsschirm eingesetzt werden, die jede politische Entscheidung über einen kleinen Betrag ad absurdum führt?

Erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang auch eine kleine systemische Betrachtung. Die Betonung liegt auf „systemisch“, nicht auf „marxistisch“; das ist nämlich etwas völlig anderes.

Aktuell zeichnet sich ab, dass die Politik der sogenannten Rettung Griechenlands gescheitert ist. Sie hat der dortigen Bevölkerung großes Elend beschert und die Hoffnung, aus eigener Kraft die Forderungen der Banken zu bewältigen, zunichte gemacht. Der Schuldenschnitt wird kommen und damit die Einlösung der zugesagten 310 Milliarden € laut Bundesfinanzministerium bzw. der 770 Milliarden € laut ifo-Institut. Keiner weiß, wie der Bund das bezahlen soll. Glaubt hier jemand, dass die Bundesländer dabei ungeschoren davonkommen? – Ich nicht.

Dazu kommt, dass die Bundesbank im Verrechnungssystem TARGET2 bereits 550 Milliarden € für zahlreiche Banken finanziert hat, die auf dem Geldmarkt nichts mehr bekommen. Hier stehen wir wirklich nicht an einem ruhigen Punkt, sondern wir sitzen auf einem Pulverfass. Wir befinden uns in einem dynamischen Prozess: Die Banken haben ihre Gewinne gesichert, ihre Boni ausgezahlt, über die Politik gelästert, ihre Verluste der Bevölkerung aufgebrummt. Das generiert starke Anreize, es weiter so zu treiben und Staaten und Parlamente noch mehr in Schwierigkeiten zu bringen. Es gibt keine Lösung, bevor nicht endlich die Politik wieder das politische Primat erkämpft und einen deutlichen Schlussstrich unter die Machenschaften der Banken zieht. Ich sage bewusst „Machenschaften“, weil ich dieses Verhalten – obwohl weitgehend legal – für prinzipiell kriminell halte.

In einem solchen dramatischen Zeitgeschehen Business as usual zu machen und darüber zu sprechen, ob wir für Kopiergeräte im Innenministerium – Einzelplan 3, Seite 21 – 84.000 € ausgeben wollen, mag beruhigend für unsere Psyche sein, ist aber im Grunde völlig absurd.

Aber ich will meine Aufgabe als Abgeordneter ernst nehmen und mir den von der Landesregierung vorgelegten Haushaltsentwurf ansehen.

Die Unterfinanzierung wichtiger Staatsausgaben, zum Beispiel der Hochschulen, tut weh. Aber wie kann man im Land noch gute Politik machen, wenn im Bund die Einnahmenseite so weit hinuntergefahren wird? Aufgrund der Steuersenkungen der letzten zwölf Jahre fehlen Milliardenbeträge – allein in den letzten drei Jahren 150 Milliarden €; die Hälfte davon für die Länderhaushalte.

Steuersenkungen kamen im Wesentlichen den großen Unternehmen und Vermögen zugute. Das Geldvermögen privater Haushalte hat sich in den letzten zwanzig Jahren fast verdoppelt. Von den Steuersenkungen erwarteten die rot-grünen und schwarz-gelben Regierungen unter anderem Investitionen in Arbeitsplätze. Aber was ist passiert? Schlechte, unterbezahlte Arbeitsplätze wurden geschaffen. Ansonsten versteht man heute unter Investition den Kauf riskanter Wertpapiere.

Mit dem Geld, das dem Staat fehlt, hätte man viele ordentlich bezahlte Arbeitsplätze für Erzieherinnen, Pflegekräfte, Lehrerinnen und Sozialarbeiterinnen schaffen können – wenn es denn irgendjemandem tatsächlich um Arbeitsplätze gegangen wäre. Stattdessen werden dicke Keile in die Bevölkerung getrieben.

Die Schere geht immer weiter auseinander. Die reichsten 10 % besitzen inzwischen teuflische 66,6 % des gesamten Nettovermögens in Deutschland, die vermögendsten 0,1 % immerhin noch 22,5 % des Gesamtvermögens. Immer mehr Arbeitnehmer leben unter prekären Bedingungen, während Vermögende immer vermögender werden. Wohlstand wandert nach oben. Unten macht sich Frust breit, der sich auch gegen die parlamentarische Demokratie richtet, also im Grunde gegen uns alle hier.

Steuererleichterungen für die Vermögenden brächten weitaus mehr Schaden als Nutzen. Deshalb sollten wir gemeinsam darum kämpfen, dass auf Bundesebene eine Politik gemacht wird, die uns ermöglicht, unseren Pflichten gegenüber den Bürgern nachzukommen: Infrastruktur sanieren, allen Kindern Chancen geben, Zukunft sichern.

Uns mit den Einnahmen zu bescheiden, die man uns von der Bundesebene zugedenkt, das ist mir ein wenig zu passiv und vielleicht sogar zu masochistisch. Wir müssen Forderungen aufstellen und für das Land NRW kämpfen.

Ich musste mich gerade wirklich wundern, denn ich bin mit Herrn Lindner völlig einer Meinung: Die Mehrwertsteuer ist da der falsche Weg, absolut der falsche Weg, weil es genau diejenigen trifft, die es eigentlich nicht treffen sollte.

Die wirkungsvollste Maßnahme wäre die Wiedereinführung einer moderaten Vermögensteuer. Bei nur einem halben Prozent für Körperschaften und 1 % für Private sowie einem Freibetrag von 1 Million € Geldvermögen könnte man bundesweit 20 Milliarden € jährlich einnehmen. Für Nordrhein-Westfalen wären das etwa 4,3 Milliarden €. Das würde uns doch schon mal weiterhelfen für den Haushalt hier. Es würde im Grunde sogar die strukturelle Unterfinanzierung unseres schönen Bundeslandes beseitigen. Weniger als 1 % der Bevölkerung wäre betroffen. Wir müssten uns auch keine Sorgen mehr wegen der Schuldenbremse machen.

Nicht nur die Zahl der Armen oder von Armut bedrohten Menschen ist gestiegen, sondern auch die Zahl der sehr Vermögenden und Superreichen. Allein die Zahl der Millionäre wuchs in den letzten acht Jahren von 742.000 auf 892.000. Das ist eine Steigerung um ein Fünftel. Und: Nicht nur die Zahl der Millionäre ist dramatisch gestiegen. Auch deren Vermögen wächst nach der kleinen Krisendelle wieder ungebremst und sogar beschleunigt. Inzwischen beträgt es sagenhafte 2,4 mal 10 hoch 12. Das sind 12 Nullen, also 2.400 Milliarden oder 2,4 Billionen €.

Genau hinter dieser doppelten Entwicklung, dem gleichzeitigen starken Ansteigen von Armut und Reichtum über einen längeren Zeitraum, steckt der gesellschaftliche Skandal. Denn Deutschland ist beileibe kein armes Land. Deutschland ist ein reiches Land, in mehrfacher Hinsicht. Bloß ist der Reichtum immer ungleicher verteilt.

Um es ganz klar zu sagen: Wir wollen Reichtum nicht abschaffen. Im Gegenteil! Wir wollen Armut abschaffen. Die ökonomische Ungleichheit fügt der Volkswirtschaft großen Schaden zu.

Erstens finden Investitionen nicht statt, weil zum Beispiel junge Erfinderinnen den Banken keine Sicherheiten bieten können, wenn sie nicht aus wohlhabenden Elternhäusern kommen.

Zweitens bietet der Arbeitsmarkt keine Sicherheit. Befristete oder schlecht bezahlte Tätigkeiten werden nicht mit voller Kreativität und vollem Engagement geleistet, wenn die Arbeitnehmer nicht über Vermögen verfügen, sondern durch Sichumsehen ihre Zukunft absichern müssen. Zeitverträge und schlechte Anfangsgehälter nehmen dem Arbeitsprozess viel Energie, viel Kreativität und schädigen damit unsere Innovationskraft.

(Beifall von den PIRATEN)

Drittens nimmt ein großes Vermögen den Antrieb, etwas aufzubauen und zu unternehmen. Stattdessen wird „Aus Geld mehr Geld machen“ delegiert, an Fonds beispielsweise, und nur noch auf kurzfristige Rendite gesehen – bis hin zur Zerstörung gewinnbringender Unternehmen mitsamt ihrer Arbeitsplätze. Aufbauen dauert lange und erfordert Antrieb und zielgerichtetes Handeln. Zerstört ist schnell, und die Fonds wenden sich neuen Spielzeugen zu.

Viertens generieren große Vermögen besondere Einflussmöglichkeiten. Gegenüber Arbeitnehmern führen sie zu Ausbeutung, gegenüber Kunden zu schlechter Qualität, gegenüber Anlegern zu riskantem Verhalten, das die Anleger ihr Vermögen kostet. Ein demokratieverträglicher Markt sieht völlig anders aus.

Die Ungleichverteilung ist nicht nur ungerecht. Es werden auch die beiden wichtigen Grundsätze der sozialen Marktwirtschaft systemisch untergraben, nämlich dass sich Leistung lohnen muss und dass die starken Schultern die schwachen mittragen sollen.

Selbst nach den sehr vorsichtigen Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, des DIW, kann bei einer Wiedereinführung der Vermögensteuer mit erheblichen zusätzlichen Einnahmen gerechnet werden.

Vier Bundesländer – Rheinland-Pfalz, Baden-Württemberg, Hamburg und Nordrhein-Westfalen – bereiten eine Bundesratsinitiative vor und haben deshalb das DIW beauftragt, die Aufkommens und Verteilungswirkungen zu untersuchen. Danach ist selbst bei einem außerordentlich hohen Freibetrag von 2 Millionen € Barvermögen und einer so erfolgenden Beschränkung auf weniger als 150.000 natürliche und gut 160.000 juristische Personen und unter Einbeziehung sowohl von Steuervermeidungsstrategien als auch der entstehenden Erhebungskosten – Steuerfahndung – mit einem jährlichen zusätzlichen Steueraufkommen in Höhe von annähernd 12 Milliarden € zu rechnen. Auf Nordrhein-Westfalen entfielen davon möglicherweise mehr als 3 Milliarden € – ein Betrag, der jede Debatte über knappe Kassen und Schuldenbremse nahezu überflüssig macht.

Sehr geehrte Frau Ministerpräsidentin, wir Piraten unterstützen diese Initiative und hoffen, dass sie erfolgreich ist. Eine gerechte Gesellschaft braucht eine faire Teilhabe aller.

(Beifall von den PIRATEN)

Trotzdem gibt es viele in unserem Saal, die nicht gerne Vermögen besteuern wollen. Für die möchte ich noch anfügen, was mit den Arbeitseinkommen passiert; denn das ist ja eigentlich viel schlimmer.

Es gibt einen Grundfreibetrag von 6.681 € im Jahr. Das heißt, wenn jemand pro Monat 560 € brutto verdient, muss er Steuern zahlen. Ist das nicht absurd? Wer zum Beispiel 900 € im Monat verdient, zahlt überschlägig gerechnet etwa 79 € Steuern. Dazu kommen dann noch die Sozialabgaben. Ein Mensch mit so niedrigem Einkommen kann sich keine richtige Wohnung leisten – schon gar nicht mit Kindern; da nützt auch das Kindergeld nichts. Er oder viel, viel öfter sie ist vom kulturellen Leben weitgehend abgeschnitten. Biolebensmittel stehen nicht auf dem Tisch. Solchen Menschen Geld aus der Tasche zu ziehen, das finde ich schäbig.

Aber auch auf die Art und Weise kommen hohe Beträge an Lohnsteuer zusammen, fünfmal so viel wie bei der Einkommensteuer auf alle anderen Einkommensarten wie Gewinne, Mieteinnahmen, Zinsen, usw. Davon finanziert sich der Staat zum großen Teil. Und dann werden die Vermögenden geschont. Eigentlich müsste die Vermögensteuer schon deswegen eingeführt werden, damit die Niedrigeinkommen nicht mehr besteuert werden müssen.

Tatsächlich kann überhaupt nicht die Rede davon sein, dass die Mehrheit der Menschen in diesem Land über ihre Verhältnisse gelebt hat – es sei denn, wir reden über die ökologischen Grenzen dieses Planeten. Aber genau das tun wir eben nicht.

Hier wird unterschlagen, was diese Gesellschaft ausmacht, nämlich die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit. Das Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigenstunde ist seit 1991 von knapp 30 € auf rund 40 € – in den Preisen von 2000 – enorm gewachsen. Von einem Zwang, den Gürtel enger zu schnallen, kann in dieser Hinsicht also wirklich nicht die Rede sein.

Auch das bereits diskutierte private Geldvermögen gibt hierzu keinen Anlass. Es liegt heute mit 5 Billionen, also 5.000 Milliarden €, mehr als doppelt so hoch wie 1990. Das Bundesfinanzministerium schätzt das gesamte Nettovermögen in Deutschland auf schier fantastische 8,6 Billionen €. Allein die vermögendsten 10 % besitzen fast 5,2 Billionen € netto Geld- und Immobilienvermögen. Der größere Teil davon wurde geerbt. Allein das private Geldvermögen ist mehr als doppelt so groß wie die gesamten Schulden des Staates.

Das Gegenteil dessen, was uns diese Regierung predigt, ist also wahr: Die finanziellen Gesamtspielräume sind im Prinzip größer geworden.

Während also einerseits die Einkommens- und Vermögenskonzentration wächst, steht andererseits der geschaffene Reichtum nicht mehr zur Verfügung, um notwendige Investitionen in die Infrastruktur zu tätigen.

Finanzminister Walter-Borjans hat das heute mit sehr moderaten Worten gesagt: Die Einnahmenseite ist auch zu beleuchten. – Von daher könnte man sich auf seine Linie stellen. Aber im Prinzip erfolgt auch mit dem neuen Haushalt eine Form von Mängelverwaltung.

Bereits im Jahr 2008 hat das Deutsche Institut für Urbanistik in Berlin, das Difu, den notwendigen kommunalen Investitionsbedarf mit mehr als 704 Milliarden € beziffert. Die tatsächliche kommunale Investitionstätigkeit bleibt nicht nur weit hinter diesem Wert zurück, sondern ist sogar kontinuierlich rückläufig. Allein im Bildungsbereich besteht ein jährlicher Mehrinvestitionsbedarf von 45 Milliarden €, zum Beispiel für Ganztagsbetreuung, Schulinfrastruktur oder die hier dauernd Thema seiende Inklusion.

Im April dieses Jahres konstatierte die Kreditanstalt für Wiederaufbau, KfW:

„Nach Schätzungen der Kommunen beträgt der Investitionsrückstau inzwischen 128 Mrd. Euro und damit etwa 20 Mrd. Euro mehr als im Vorjahr.“

Der Sanierungsstau baut sich also sogar auf. Jeden Tag gehen so gesellschaftliche Werte in Millionenhöhe verloren.

Verfallende Infrastrukturen – also kaputte Straßen, marode Brücken, bröckelnde Schulen –, nicht gewartete Züge und Gleise, baufällige Hochschulen, ungepflegte Grünanlagen usw. können überall – auch bei uns in Nordrhein-Westfalen – besichtigt werden.

Von diesem Erbe, das wir an unsere Kinder weitergeben, wird aber nicht erzählt, wenn wir über Schuldenbremsen sprechen. Wenn aber dem Staat systematisch die Mittel entzogen werden, die erforderlich sind, um die öffentliche Infrastruktur wenigstens zu erhalten, dann übergeben wir unseren Kindern ein Land, in dem selbst zentrale Einrichtungen einer modernen, leistungs- und wettbewerbsfähigen sowie lebenswerten Gesellschaft nicht mehr funktionieren. Leidtragende der öffentlichen Sparmaßnahmen sind die Menschen, die auf die Leistungen des Staates eher angewiesen sind als Vermögende; das ist klar. Allein die Steuerreformen seit 1998 haben bis heute hochgerechnet zu Steuerausfällen von unglaublichen 470 Milliarden € geführt – Geld, das heute fehlt.

Es gibt in der Bevölkerung einen breiten Konsens darüber, dass es in unserer Gesellschaft wieder gerechter zugehen muss und dass dazu unabdingbar die Beteiligung aller leistungsfähigen Menschen, Organisationen und Unternehmen zählt.

Neben der Wiedereinführung der Vermögensteuer müssen wir auch über eine sachte und verantwortungsvolle Anhebung des Spitzensteuersatzes reden. Wie hoch ist wohl die Bereitschaft, höhere Grenzsteuern zu zahlen, wenn davon nur die Vermögenden und Reichen profitieren, wenn davon Banken saniert werden, die ihren Managern millionenschwere Abfindungen zahlen? Wie hoch mag andersherum die Bereitschaft sein, wenn davon Schulen saniert werden, der öffentliche Nahverkehr ausgebaut wird und Kinderbetreuungsplätze statt Betreuungsgeld angeboten werden?

Darüber hinaus müssen wir dringend – ich weiß, das ist ein heißes Thema – auch mal über die Erbschaftsteuer wenigstens sprechen.

Last, but not least: Wer über Einnahmen spricht, darf über die Finanztransaktionsteuer nicht schweigen. Momentan sieht es damit ja nicht gut aus. Aber wir wissen, dass die Bankenrettungen den Staat, das heißt die Bürgerinnen und Bürger, Unsummen gekostet haben und noch lange kosten werden. Allein die Rettung der Hypo Real Estate schlägt mit 150 Milliarden € zu Buche. 150 Milliarden €, die ausschließlich über die Steuern ganz normal verdienender Menschen finanziert wurden und werden, nur für eine Bank!

Zur Erinnerung: Das strukturelle Haushaltsdefizit in Nordrhein-Westfalen liegt bei etwa 4 Milliarden €. Verglichen mit den Summen, die für die Rettung systemrelevanter Banken aufgebracht wurden, ein Witz, eine Fußnote! Um mit Hilmar Kopper zu reden: Peanuts!

Die Liberalisierung und die Deregulierung der internationalen Finanzmärkte, woran nicht zuletzt auch die rot-grüne Bundesregierung beteiligt war, haben zur Bildung großer Spekulationsblasen geführt, die wesentlich und ursächlich für die große Krise waren. Die Besteuerung, wenn nicht gar Verhinderung spekulativer Geschäfte ist nicht nur ein Beitrag zur Finanzierung der staatlichen Ausgaben, sondern auch ein Weg zurück in eine gesellschaftlich sinnvolle Wirtschaftstätigkeit. Wir können damit zu hohe Schulden verhindern.

Last, but not least: Schulden findet niemand gut. Niemand ist der Meinung, Schulden seien unproblematisch. Natürlich muss es das Bestreben eines seriös und nachhaltig wirtschaftenden Haushälters sein, Schulden, die momentan unvermeidlich sind, mittel- und langfristig auszugleichen. So weit sind wir uns alle einig. Aber diese Feststellung darf nicht als Verständigung über die pauschale Ablehnung von Schulden missverstanden werden.

Entscheidend für die Finanzpolitik des Landes muss das Verantwortungsgefühl für die Bürgerinnen und Bürger sein, das Verantwortungsgefühl für die wichtigsten Aufgaben des Staates, für die zivilisatorische Qualität unseres Zusammenlebens, für das Alltagsleben in den Kommunen, für die Infrastruktur usw. Ich plädiere dafür, für eine gerechte Verbesserung der Einnahmenseite zu kämpfen, um dieser Verantwortung gerecht zu werden; denn sonst gilt das Wort, dass die Demokratie, deren Aufgabe es ist, ein selbstbestimmtes Leben aller zu gewährleisten, ihrer Leistungspflicht nicht nachkommt. Und das möchten wir gerne verhindern. – Vielen herzlichen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Vielen Dank, Herr Dr. Paul.

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