Plenarrede: Wegner zum Sozialbericht

Plenarsitzung 16 am 30. November 2012

Olaf Wegner zu TOP 2: Sozialbericht Nordrhein-Westfalen 2012

Unterrichtung durch die Landesregierung

Mitschnitt der Rede von Olaf Wegner

Redeprotokoll:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Menschen im Stream und auf der Tribüne! Wir halten uns ans Grundgesetz. Da sind wir konservativ. So haben wir es im Landtagswahlkampf plakatiert, und das nehmen wir sehr ernst.

Ein Blick in das Grundgesetz hilft, sehr schnell festzustellen, dass die Wörter in Ihrer Sozialpolitik – das richtet sich an alle anderen hier vertretenen Parteien – leider keine Relevanz besitzen. Immer und immer wieder ist es nötig, auf den Art. 1 hinzuweisen und zu appellieren, die Menschenwürde zu achten.

In Art. 20 ist zu lesen:

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.“

Unter diesem Aspekt betrachtet ist der „Sozialbericht Nordrhein-Westfalen 2012“, also der Armuts- und Reichtumsbericht, ein echtes staatlich zertifiziertes Armutszeugnis für Deutschland und Nordrhein-Westfalen.

(Beifall von den PIRATEN)

Nein, mehr noch: Er ist eine Bankrotterklärung. Eines zeigt dieser Bericht nämlich ganz deutlich: Sozial gerecht geht es in diesem Land schon lange nicht mehr zu.

Lassen Sie mich einige Beispiele aus Ihrem Bericht uns allen ins Gedächtnis rufen:

Die Arbeitslosigkeit sinkt, die Armut in diesem Land nimmt trotzdem weiter zu. Woran liegt das? – Das liegt vor allem an der unglaublichen Öffnung des Niedriglohnsektors. Ihrem Bericht ist zu entnehmen, dass der Anteil der Vollzeitbeschäftigten, die Niedriglöhne beziehen, in der vergangenen Dekade in Nordrhein-Westfalen genauso wie in Westdeutschland insgesamt gestiegen ist. Das mittlere Bruttomonatsentgelt der Niedriglohnempfänger lag Ende 2010 bei 1.399 €: Die Niedriglohnquote in Nordrhein-Westfalen lag Ende 2010 bei 20,4 % und im Westdeutschland bei 20,8 %. Zum Vergleich: Zum Jahresende 2000 lag die entsprechende Niedriglohnquote in Nordrhein-Westfalen mit 16,3 % noch um 4,1 Prozentpunkte niedriger.

Der Niedriglohnsektor wächst, und es besteht die Gefahr – das ist zum Teil schon Realität –, dass Unternehmen sich auf Kosten der Allgemeinheit ihre Lohnausgaben subventionieren lassen.

(Beifall von den PIRATEN)

Das Problem der prekären Beschäftigung ist auch ein weibliches Problem. Denn ein Drittel aller vollzeitbeschäftigten Frauen arbeiten im Niedriglohnsektor. Das ist ein regelrechter Skandal.

(Beifall von den PIRATEN)

Es muss zu einem Perspektivwechsel kommen, damit die Gesellschaft nicht weiter aus dem Gleichgewicht gerät. Unserer Auffassung nach hat jeder Mensch das Recht auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe. Die Würde des Menschen zu achten und zu schützen, ist das wichtigste Gebot des Grundgesetzes. Ein Mensch kann nur in Würde leben, wenn für seine Grundbedürfnisse gesorgt und ihm gesellschaftliche Teilhabe möglich ist.

Dazu gilt es, auch in Nordrhein-Westfalen Mittel bereitzustellen, damit Menschen in die Lage versetzt werden, an gesellschaftlicher Teilhabe zu partizipieren.

Der Ansatz des sozialen Arbeitsmarkts könnte ein Lösungsansatz sein. Aber bisher haben wir dazu nur aus der Presse entnommen, dass private Unternehmen oder freie Wohlfahrtsverbände schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose einstellen und ihnen tarifliche und ortsübliche Löhne zahlen sollen. Dafür sollen sie im Gegenzug einen Minderleistungsausgleich erhalten. Wie hoch der sein wird, ist noch unklar. Die Privatwirtschaft hätte gerne einen Zuschuss von bis zu 70 % zum Gehalt, und Sie, Herr Minister Schneider, können sich einen Zuschuss von 40 % vorstellen. Gegenfinanziert werden soll dieser Zuschuss über die eingesparten Hartz-IV-Leistungen

Ein öffentlicher Beschäftigungssektor ist aber nicht der richtige Ansatz.

Allerdings ist der Ansatz von CDU und FDP im Bund auch falsch. Die Bundesregierung hat 2010 beschlossen, bis 2014 die Ausgaben für die Arbeitsmarktpolitik um 16 Milliarden € zu senken, davon 10 Milliarden € bei der Bundesagentur für Arbeit, 6 Milliarden € in der Verwaltung und bei Eingliederungsmaßnahmen für Arbeitslose in der Grundsicherung, wie der Paritätische Nordrhein-Westfalen treffend bemerkte. Weiter, so der Paritätische, kommen noch einmal fast 4 Milliarden € Kürzungen bei der Bundesagentur für Arbeit hinzu, auf die man sich im Vermittlungsverfahren zu den Hartz-IV-Regelsätzen verständigt hat.

Die Sparbeschlüsse wurden unmittelbar umgesetzt. Für das Jahr 2011 bedeutet das ein Minus von 22 % für die aktive Arbeitsmarktpolitik der Bundesagentur für Arbeit. Das Budget für Eingliederungsmaßnahmen schrumpfte gar um 25 Prozentpunkte.

Und das Sparen geht weiter: Für das Jahr 2012 stehen für arbeitsmarktpolitische Instrumente in Nordrhein-Westfalen rund 980 Millionen € weniger zur Verfügung als im Vorjahr. Das ist ein Minus von 16,7 Prozentpunkten. Sehen so wirkliche Arbeitsmarktpolitik und ein Vermindern von Armut aus?

Apropos Armut: Die Armut hat in einzelnen Stadtteilen in Nordrhein-Westfalen ein so großes Ausmaß angenommen, dass unsere Demokratie und unsere Gesellschaftsordnung gefährdet sind. Das Nettoeinkommen der drei ärmsten Zehntel der Bevölkerung ist um 5 % gesunken. Die mittleren drei Zehntel hatten gerade mal ein stabiles Einkommen. Ein signifikantes Plus von 13,4 % konnte das reichste Zehntel für sich verbuchen. Das Ganze noch einmal aufgesplittet: Die reichsten 2 % der Bevölkerung haben ein reales Einkommensplus von 50 % erzielt.

Es ist aber nicht nachvollziehbar, dass die Konzentration von Einkommen und Vermögen von einem so kleinen Anteil von Menschen in Anspruch genommen wird.

Allerdings geht es hier nicht um eine völlig unangebrachte Neiddebatte, sondern um das gesamtgesellschaftliche Gleichgewicht. Ich sage ganz deutlich: Wir Piraten haben uns ins Grundsatzprogramm geschrieben, dass wir Armut verhindern wollen, nicht Reichtum.

(Beifall von den PIRATEN)

Das Volkseinkommen in Deutschland liegt bei ca. 2 Billionen € brutto. Bei 80 Millionen Einwohnern bedeutet das, dass pro Einwohner ca. 25.000 € brutto in jedem Jahr verdient werden. Angesichts dieses Betrages kann ich nicht nachvollziehen, warum überhaupt nur ein Mensch unter der Armutsrisikogrenze leben muss.

Ich bin sehr froh darüber, dass die Landesregierung mit ihrem Armutsbericht offen umgeht und die freie Wohlfahrtspflege an diesem Bericht beteiligt ist. Denn Nordrhein-Westfalen ist vom Armutsrisiko für große Teile der Bevölkerung besonders betroffen. Wenn man sich die 15 größten Städte Deutschlands anschaut, stellt man fest: Nur in Leipzig ist das Armutsrisiko höher als in Duisburg und Dortmund. In Köln, Essen und sogar in Düsseldorf lebt jeder fünfte Mensch in Armut.

Wie muss hier gegengesteuert werden? – Die grundsätzliche Frage nach Einkommen ist zu stellen. Wir denken über neue Modelle nach. Das würde Ihnen auch gut zu Gesicht stehen, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Wir setzen uns für die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein, das die Ziele des Rechts auf sichere Existenz und gesellschaftliche Teilhabe beinhaltet. Es soll die Existenz sichern und gesellschaftliche Teilhabe ermöglichen, einen individuellen Rechtsanspruch darstellen sowie ohne Bedürftigkeitsprüfung und ohne Zwang zu Arbeit oder anderen Gegenleistungen garantiert werden.

Dass ein bedingungsloses Grundeinkommen die Paradigmen des Sozialstaats wesentlich verändern wird, ist uns sehr wohl bewusst. Aber dieses Sozialsystem braucht ein Update; der Sozialbericht stellt das eindrucksvoll dar. Armut in einem reichen Land ist nicht tolerierbar.

(Beifall von den PIRATEN)

Als ersten Schritt sehen wir die Abschaffung der Hartz-IV-Sanktionen, denn die Menschen sollen nicht doppelt bestraft werden.

Wir müssen uns endlich davon verabschieden, das Armutsproblem in Deutschland und Nordrhein-Westfalen allein durch eine angestrebte Vollbeschäftigung und durch Subventionen für wirtschaftliches Wachstum lösen zu wollen. Das ist ein schönes Ziel und hat lange Tradition. Aus der Sicht der Piraten ist das nicht der Weg, der die aktuell entstandenen Armutsprobleme lösen kann. Das ist kein Weg für die Zukunft.

(Beifall von den PIRATEN)

Wir haben kein Armutsproblem, weil die Menschen arbeitslos sind, sondern weil die Umverteilung in diesem Land nicht funktioniert. Damit meine ich ganz ausdrücklich keine Umverteilung von den obersten 10 % nach unten, sondern von den oberen 2 % nach unten.

Vollbeschäftigung um jeden Preis ist ein Modell der Vergangenheit, von dem wir uns verabschieden sollten. Subventionierte Arbeit im Niedriglohnsektor schafft Altersarmut, Kinderarmut und eine Abwärtsspirale auch für gutqualifizierte Arbeitnehmer.

(Beifall von den PIRATEN)

Unstrittig ist, dass nur durch Bildung auch für Kinder aus dem Ruhrgebiet eine reelle Chance besteht, aus ihren prekären Lebensumständen auszubrechen. Kinder lernen von ihren Eltern. Die Eltern können immer häufiger mit einer Vollzeitarbeit nicht genug verdienen, um ohne Hilfe vom Amt auszukommen. 8 Millionen Menschen arbeiten in Deutschland für einen Lohn unterhalb der 9,15-€-Grenze. Dazu gehören Pflegekräfte, Frisöre, Tagesmütter und Verkäuferinnen, also Menschen, die bei der Gestaltung unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens eine wichtige Rolle spielen. Das sollten wir honorieren.

Leistung muss sich lohnen, aber ich kenne keinen Hartz-IV- bzw. Arbeitslosengeld-2-Aufstocker, für den sich Leistung lohnt. Kinder lernen schnell, dass das Geld, das sie durch ihren Ferienjob verdienen wollten, bei Papa oder Mama abgezogen wird. Ich könnte einem Hartz-IV- bzw. Arbeitslosengeld-2-Empfänger, wenn ich ehrlich wäre, nur empfehlen, maximal 100 € hinzuzuverdienen, denn für jeden Euro, den er darüber verdient, hat er maximal 20 Cent mehr zum Leben. – Leistung, die sich lohnt, sieht anders aus!

(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von Serdar Yüksel [SPD])

2,1 Millionen Menschen in Nordrhein-Westfalen sind arm. Jedes vierte Kind ist davon betroffen. Das ist ein politischer Skandal. Was tun Sie dagegen allesamt? – Es wird bedauert, und in jeder Talkshow werden Krokodilstränen vergossen.

Wir schlagen konkret eine andere Politik vor, die die Kinder in den Mittelpunkt rückt und ihnen Bildungschancen ermöglicht. Das bedeutet für uns: Bildung ist ein gesamtgesellschaftlicher Auftrag.

Um unsere Ziele zu erreichen, sind gewaltige Anstrengungen vonnöten. Diese dürfen nicht dem Einzelnen aufgebürdet werden, sondern stellen einen gesamtgesellschaftlichen Auftrag dar. Der Staat hat die Aufgabe, entsprechende räumliche, personelle und finanzielle Ressourcen bereitzustellen und eine auf jeden einzelnen ausgerichtete Förderung zu garantieren. Der Zugang zur Bildung ist auf allen Ebenen kostenfrei zu gewährleisten und vollständig durch die Gesellschaft zu finanzieren.

Bei der Finanzierung des Bildungssystems sind grundsätzlich neue Prioritäten zu setzen und ist Solidarität einzufordern. Der Bildungsetat muss deutlich ausgeweitet werden.

Der frühkindlichen Bildung kommt für die Verwirklichung unserer Ziele eine zentrale Bedeutung zu. Ihre Aufgabe ist es, alle Kinder ungeachtet der bestehenden Unterschiede in den persönlichen Kompetenzen und unabhängig von ihrer sozialen oder kulturellen Herkunft so zu fördern, dass sie mit möglichst guten Grundvoraussetzungen ihre Schullaufbahn beginnen.

Eltern können die Kindertagesstätte für ihre Kinder frei wählen. Konfessionelle, soziale kulturelle oder sonstige Zugangsbeschränkungen sind in Einrichtungen, die ganz oder teilweise öffentlich finanziert werden, nicht zulässig. Der Besuch und die Verpflegung von Kindertagesstätten sind beitragsfrei. Bei der öffentlichen Finanzierung von Einrichtungen sind alle Träger gleichzustellen. Kommunen, die aus eigener Kraft die notwendige Zahl von Plätzen in Kindertagesstätten nicht bereitstellen können, werden vom Land finanziell unterstützt; die Landesmittel sind entsprechend aufzustocken.

Die sprachliche und motorische Entwicklung aller Kinder im Alter von vier Jahren wird durch entsprechend geschultes Personal geleistet. Förderbedürftige Kinder erhalten in der Kindertagesstätte eine intensive sprachlich-motorische Förderung, um Defizite auszugleichen.

Die Zusammenarbeit mit den Eltern muss dabei aktiv gefördert werden. Die Ausbildung des pädagogischen Personals soll zukünftig vermehrt in einem pädagogischen Hochschulstudium geschehen und schließlich auch angemessener bezahlt werden.

Aktuell gibt es eine große Verunsicherung in der Bevölkerung zum Thema „Rente“. Unser Rentenniveau ist so niedrig wie fast nirgendwo im europäischen Vergleich. Grundsicherung erhalten vor allem Menschen ab 65 Jahren, wenn ihr Einkommen unter 756 € liegt. Die Zahl der Empfänger von Grundsicherung ist nach Angaben des Statistischen Bundesamtes in 2011 – in nur einem Jahr – um 5,9 % gestiegen. Auch hier ist das bedingungslose Grundeinkommen der Schlüssel zum Erfolg und zur Verhinderung von Altersarmut.

(Beifall von den PIRATEN)

Ich fasse zusammen: Wir sollten schauen, die soziale Not in diesem Land zu lindern, wenn wir sie schon nicht beseitigen können. Liebe Regierung, mir ist auch klar, dass Sie die Grundlage für eine adäquate Grundverteilung nur sehr marginal beeinflussen können. Da Sie aber in denselben Mustern denken und handeln wie die derzeitige Bundesregierung fällt es mir schwer, zu glauben, dass es Ihnen ernst damit ist, prekäre Lebenssituationen entscheidend zu verbessern.

Mit Zwang zur Arbeit, mit weiteren Qualifizierungsmaßnahmen und mit entsprechenden Versuchen spielen Sie ausschließlich denen in die Hände, die auch derzeit von der Misere profitieren.

Wie ich am Anfang schon erwähnte, zeigt der Sozialbericht ganz deutlich, dass eine höhere Erwerbsquote nicht zur Überwindung der Armut in diesem Land führt. Aber wo bleibt dann bitte das Geld, das diese Menschen erwirtschaften? – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

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