Plenarrede: Paul zur Regierungserklärung

Plenarsitzung 8 vom 13. September 2012

Joachim Paul zu Top 1: Regierungserklärung (Aussprache)

Redeprotokoll:

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Verehrte Frau Ministerpräsidentin! Die kleinste Fraktion zu sein, bietet bisweilen auch einen gewissen Komfort. Man hat öfter mal Gelegenheit, das letzte Wort zu haben.

Frau Kraft, wir haben gestern Ihre Regierungserklärung gehört. Sie haben darin zahlreiche Initiativen und Programme angekündigt. Viele dieser Initiativen machen aus Piratensicht ganz sicher inhaltlich Sinn; letztlich sind es jedoch nur Luftschlösser. Denn Sie haben ausdrücklich gesagt, dass sämtliche Maßnahmen unter Finanzierungsvorbehalt stehen.

Den Worten müssen aber auch Taten folgen. Das werden wir als Piraten in unserer Oppositionsrolle genau prüfen. „In der Politik nicht nur reagieren,“ sagten Sie, „wir müssen viel öfter vorausschauend agieren.“ Aus Piratensicht müssen wir nicht nur viel öfter, sondern grundsätzlich vorausschauend in die Zukunft investieren. Darunter verstehen wir Investitionen in Bereiche, die die Arbeits- und Lebenssituation der Menschen in unserem Land spürbar und direkt verbessern. Das sind zum Beispiel Investitionen zur Verbesserung der Beschäftigungslage, Investitionen in die Betreuung unserer Kinder. Da steht Nordrhein-Westfalen leider in Deutschland immer noch auf dem letzten Platz.

Wir wollen den diskriminierungsfreien Zugang zur öffentlichen Infrastruktur und Investitionen in gute Bildung. Der öffentliche Nahverkehr ist zwar öffentlich, aber heute noch leider viel zu teuer.

Die Regierung sieht die Lösung der Probleme in Nordrhein-Westfalen darin, gezielt zu sparen, in die Zukunft zu investieren und Einnahmen zu erhöhen, ein Dreiklang – wir haben es gestern gesagt – wie in Seife gemeißelt.

Die Einnahmen zu erhöhen, ist sicher eine gute Idee. Aber wie? Hier fordern wir konkrete Vorschläge der Regierung und nicht nur das Vertrösten auf Bundesratsinitiativen. Wir freuen uns auch, dass Sie, Frau Kraft, explizit gesagt haben, Sie möchten das Projekt der besseren Bildung gemeinsam mit uns und den anderen Oppositionsfraktionen entwickeln. Wir werden uns da ganz deutlich mit Konzepten einbringen.

Die schönen Zahlen, die Sie aus dem Bereich Bildung genannt haben, sind in vielen Fällen Augenwischerei. Wenn man sich – das ist nur ein kleines Beispiel – einmal vor Augen führt, dass in Nordrhein-Westfalen für Digitalmedien für Schulen pro Schüler pro Jahr etwa 51 Cent und in Finnland das Fünffache, also 2,50 €, ausgegeben werden – und das vor dem Hintergrund, dass wir alle wissen, wie gut Finnland in der PISA-Studie abgeschnitten hat –, dann zeigt dieses Beispiel deutlich, dass Bildung bei uns in Nordrhein-Westfalen total unterfinanziert ist. Wir sind das Schlusslicht in Europa.

(Beifall von den PIRATEN)

Dabei haben wir heute die technischen Möglichkeiten, auch im Netz Dinge zu realisieren, die noch gar nicht in Angriff genommen worden sind. Anstatt Universitäten, Fachhochschulen, Volkshochschulen und andere Bildungseinrichtungen weiter im eigenen Saft kochen zu lassen, sollte man endlich Vernetzungskonzepte entwickeln. Wir werden jetzt noch weitere Beispiele aufzeigen, wie wir uns eine konkrete verantwortungsvolle Politik für unser Land vorstellen.

Für uns Piraten – da sind wir nicht die Einzigen; das wissen wir – ist Nachhaltigkeit eines der Leitbilder für gesellschaftliche Entwicklung. Dabei sind Bürgerinnen und Bürger nicht nur die Verursacher, sondern auch Entscheider und Antriebsmotoren für Veränderungen. Die Bereiche der Umweltpolitik, die die Landesregierung im Koalitionsvertrag beschrieben hat, sind zum großen Teil für uns Piraten zustimmungsfähig – das muss auch einmal gesagt werden – wie zum Beispiel die Erhöhung des Stromversorgungsanteils durch Windenergie bzw. Repowering, die Förderung der Kraft-Wärme-Kopplung sowie die Stärkung ländlicher Räume, naturnahe Landwirtschaft. Die Umsetzung allerdings werden wir sehr genau verfolgen, denn Versprechen und ihre Einhaltung weisen oft erhebliche Differenzen auf.

Da wäre zum Beispiel der Klimaschutz „made in Nordrhein-Westfalen“. In dem Entwurf des Klimaschutzgesetzes soll der Ausstoß von C02 in Nordrhein-Westfalen bis 2020 um mindestens 25 % und bis 2050 um mindestens 80 % gegenüber 1990 reduziert werden. Damit weicht die frischgebackene Koalitionsregierung von den bundesweiten Reduktionszielen deutlich ab: minus 40 % bis 2020 und minus 80 % bis 95 % bis 2050. Warum, wird nicht erklärt.

Das Klimaschutzgesetz legt Klimaschutzziele für NRW und den rechtlichen Rahmen dafür fest. Dazu muss leider festgestellt werden, dass das Gesetz nur für öffentliche Stellen gilt, die bei großzügiger Rechnung höchstens 4 % bis 5 % der CO2-Emissionen verursachen. Hier ist also nicht allzu viel einzusparen. Wie die obengenannten Ziele ohne feste verbindliche Reduktionsziele für Verkehr, Wirtschaft und Industrie, hier vor allem die Energieumwandlung, trotzdem erreicht werden sollen, wird nicht erwähnt und schon gar nicht erläutert.

Der Umstieg auf erneuerbare Energien soll in Nordrhein-Westfalen von 10 % auf 30 % bis 2025 erhöht werden. Es wird aber nur gefordert. Gefördert werden soll es vom Bund. Nordrhein-Westfalen entwirft dazu Handlungsstrategien und identifiziert. Wenn der Bund nicht zahlt, wird daraus dann wohl nichts.

Dem Koalitionsvertrag ist des Weiteren zu entnehmen, dass unsere Landesregierung, SPD und Grüne weit davon entfernt sind, die Herausforderungen der Energiewende für Nordrhein-Westfalen strategisch und strukturiert anzugehen. Die Notwendigkeit eines Landes-Masterplans zur Energie wird nicht erkannt und wohl auch nicht gewollt. Die einzelnen Maßnahmen erscheinen ebenso disparat, wie ihre Umsetzung vage ist.

Die Regierungskoalition vertraut weiter auf den Markt, der im Bereich der Energiewirtschaft vollkommen von den vier großen Energiekonzernen, also oligopolistisch, beherrscht wird. Im gesamten Energiebereich wird meistens auf den Bund verwiesen. So wird Beratung und Hilfestellung bei der Rekommunalisierung von Strom- und Gasnetzen versprochen. Wie das alles finanziert werden soll, bleibt ein Rätsel.

Stadtwerke werden nicht einmal erwähnt, obwohl sie bisher eine Alternative zu den vier großen Energieversorgern sind und deren Monopolstellung und damit Macht mindern könnten.

(Beifall von den PIRATEN)

Erklärtes Ziel der Piraten in Nordrhein-Westfalen ist es, Monopol- und Oligopolbildungen, die dem Gemeinwohl schaden, durch Schaffung transparenter Marktstrukturen schlicht aufzulösen.

(Beifall von den PIRATEN)

Ein wichtiger Aspekt nachhaltiger Energiepolitik ist daher die Dezentralisierung der Strom- und Wärmeproduktion. Dazu gehört es für die Piraten auch, eine neutrale Netzgesellschaft zumindest für Nordrhein-Westfalen zu gründen. Bezeichnend ist, dass eine deutsche Netzgesellschaft auf Übertragungsnetzebene mit bestimmendem Einfluss der öffentlichen Hand im Koalitionsvertrag aufgeführt bzw. gefordert wird. Für uns Piraten ist das definitiv zu wenig.

Ziel muss für alle sein, eine Vielzahl innovativer lokaler Energieerzeuger aufzubauen und den Einfluss der bestehenden Oligopole zu verringern. Hier hat die Politik eine weittragende Gestaltungsaufgabe im Sinne einer Nachhaltigkeit.

Ein Skandal ist auch die bisherige Zahlung der im Erneuerbare-Energien-Gesetz festgelegten Umlage. Mit der Umlage finanzieren alle Stromkunden, auch ALG-II-Empfänger, die Energie aus erneuerbaren Quellen – und das, während es für die energieintensive Industrie weitgehende Befreiungsregelungen bei der Umlage gibt. Diese Ausnahmen haben auch zu den immer höher werdenden Energiepreisen geführt.

Der ehemalige Volkswagen-Manager – mit Ihrer Genehmigung, Herr Präsident, zitiere ich – Daniel Goeudevert bemerkte einmal: Wer soll die Energiewende eigentlich hinkriegen, wenn nicht Deutschland? – Er gemahnte uns, darin auch eine Chance zu sehen.

Aber die Energiewende hat mindestens noch eine weitere Seite, die in Ihrer Rede, Frau Kraft, leider überhaupt nicht thematisiert worden ist. Ich spreche von Energieeffizienz und Energieeinsparungsmöglichkeiten. Zurzeit liegen Amortisierungszeiten für Investitionen in Energieeffizienz gerade bei energieintensiven Industrieunternehmen zwischen anderthalb und vier Jahren. Hedgefonds, die solche Firmen besitzen, verlangen aber häufig einen Amortisierungszeitraum von einem halben Jahr. Deshalb passiert nichts. Jedermann akzeptiert natürlich den berechtigten Anspruch der Teilhaber. Aber hier wird der Shareholder Value einseitig, kurzfristig und verabsolutierend über das Gemeinwohl gestellt. Meine Damen und Herren, wir nennen das Finanzterrorismus.

(Beifall von den PIRATEN)

Wir können uns die schöne Energiewende an die Backe schmieren, wenn wir dem nicht Einhalt gebieten.

Wir fordern die Landesregierung darüber hinaus auf, sich im Bundesrat aktiv für das Thema „Transaktionssteuer“ starkzumachen; gegebenenfalls sind noch weitere Konzepte zu entwickeln. Es kann nicht angehen, dass für den Handel mit so gut wie allen materiellen Gütern eine Umsatzsteuer erhoben wird, Kapital hingegen frei im Netz floatieren darf.

(Beifall von den PIRATEN)

Wer den Verkehr von Leuten und Ideen, nicht aber die Kapitalströme kontrollieren will, schlägt den direkten Weg in die Katastrophe ein. Das in diesem Zusammenhang gebetsmühlenartig wiederholte Argument der Abwanderung zum Beispiel von Börsenplätzen ist dabei wenig mehr als Augenwischerei, gilt es doch, staatliche Handlungsfähigkeit überhaupt sicherzustellen. Sie, die Staaten, dürfen es nicht zulassen, dass durchgeknallte, zugekokste und sozial verkrüppelte Finanzmanager unseren ganzen Planten vor die Wand fahren.

(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von der CDU)

Herr Präsident, verzeihen Sie mir bitte. Ich habe vergessen, zu erwähnen, dass ich mich hier sinngemäß auf den Linguisten Noam Chomsky und den Ökonom Michel Albert bezogen hatte. Ich hatte auch nicht vor, Ihnen hier den Herrn zu Guttenberg zu geben.

Nach dem positiven fiskalischen Aspekt gibt es bei diesen Steuerkonzepten noch einen weiteren, der leider viel zu selten benannt wird. Jeder Ingenieur – und wir haben in Nordrhein-Westfalen eine ganze Reihe fähiger Ingenieure – weiß, dass ein technisches System – zum Beispiel eine elektronische Schaltung – ohne eine sogenannte Dämpfung seinen Konstrukteuren um die Ohren fliegt. Viele Wirtschaftstheologen wollen oder können davon offensichtlich nichts wissen. Ist das jetzt Dilettantismus oder kriminelle Energie?

Ähnliches gilt, was die Fadenscheinigkeit angeht, für die Urananreicherung in Gronau. Hier verfolgt die Landesregierung offenbar das Konzept „Aussitzen“. Es wird die Absicht bekundet, die Urananreicherung rechtssicher zu beenden. Es wird aber nicht einmal eine rechtlich bindende Bundesratsinitiative geplant.

Auch die Forderung vieler Bürgerinitiativen nach Erstellung einer Kinderkrebsstudie im Umkreis von Atomstandorten wird nicht aufgegriffen.

Ein weiteres zukunftsunfähiges Projekt ist die sogenannte Dichtheitsprüfung. Es ist wohl von einer Novellierung des Landeswassergesetzes die Rede, aber die Ausführungen dazu lassen den Schluss zu, dass es eine Neuauflage dieser Dichtheitsprüfung geben soll, und zwar unabhängig davon, ob eine Gefährdung überhaupt gegeben ist. Aus ideologischen Gründen wird der Dichtheitsprüfungswahn wohl wieder aus der Schublade geholt.

Frau Ministerpräsidentin, gestern haben Sie von Max erzählt. Ich möchte Ihnen heute einmal von Erkan erzählen.

(Zuruf von Karl-Josef Laumann [CDU])

– Wie bitte?

(Karl-Josef Laumann [CDU]: Hat sich erledigt!)

– Ich glaube, Sie werden Ihre Kraft später noch für Zwischenrufe brauchen.

Erkan ist ein Junge aus Kassel. Ich weiß – das sage ich, bevor man mich belehrt –, dass Kassel in Hessen liegt, aber das spielt für dieses Beispiel keine Rolle. Ende der 90er-Jahre/Anfang dieses Jahrtausends hat der Kasseler Pädagogikprofessor Ben Bachmair einen völlig anderen Ansatz gepflegt, mit Schulkindern umzugehen, bei denen die Diagnose Dyskalkulie und Legasthenie feststand. Er hat sich nicht gefragt, was die Kinder nicht können, sondern er hat sich gefragt, was die Kinder können.

Gerade Erkan ist ein gutes Beispiel. Er ist ein türkischstämmiges Einzelkind, seine Eltern sind Restaurantbesitzer, und er war sonntagnachmittags allein, weil die Gastronomie laufen musste. Der kleine Erkan hat in seiner Grundschulzeit ein Faible für Formel 1 entwickelt – das war damals die Hoch-Zeit von Michael Schumacher –, und der Junge war tatsächlich in der Lage, nachdem er dem Herrn Professor gegenüber ein wenig warm geworden ist, zu erläutern, was er da macht. Er war in der Lage, die hochkomplexen grafischen Darstellungen, die den aktuellen Stand des Rennens und auch die Wertung in der Weltmeisterschaft angeben, sofort zu erfassen.

Darüber hinaus war er ein Meister – vielleicht lachen Sie jetzt – im Kartenspiel „Pokémon“, bei dem zehn verschiedene Merkmale genutzt werden, um gegen kleine Monster anzutreten. Er war ein Meister in diesem Spiel. Das lässt trotz der Diagnose Dyskalkulie und Legasthenie auf eine erhöhte Rechtshirnbegabung schließen. Mathematik ist eine Strukturwissenschaft, für die zumindest die Rechtshänder ihre rechte Hirnhälfte brauchen. Wir dürfen diese Potenziale – und zwar nicht nur aus wirtschaftlichen Gründen – nicht vernachlässigen. Die Schule wird in Zukunft die Aufgabe haben, die Kinder dort abzuholen, wo sie sind.

(Beifall von den PIRATEN)

Darüber hinaus – es war häufiger vom Schulfrieden, vom Schulkonsens die Rede – haben wir ein wenig die Befürchtung, dass es zur Friedhofsruhe wird. Wir würden uns natürlich weiterhin innovative Projekte wünschen, beispielsweise ein Projekt zur Aufgabe des 45-Minuten-Rasters. Aus der Neurologie weiß man das. Kaum hat es der Mathematiklehrer geschafft, seine Schützlinge zu begeistern, kaum ist die Endorphindusche im Kopf angegangen, sind die 45 Minuten um, und es heißt „Englisch“. Wir können das nicht den „Waldorfs“ überlassen. Für Graswurzelprojekte würden wir uns mit Ihnen starkmachen; wir kennen uns damit aus.

Und noch etwas, Frau Ministerin Löhrmann: Ich bitte Sie aus aktuellem Anlass inständig, dass Sie dafür Sorge tragen, dass die Ihnen anvertrauten Lehrkräfte in den Schulen – es sind ja 160.000 bis 170.000 in Nordrhein-Westfalen – nicht „verspitzert“ werden. Ich weiß das als Biophysiker. Ich habe ein klein bisschen Einblick in Hirnforschung. Was der Mann erzählt, ist auch wissenschaftlich komplette Grütze.

Im Koalitionsvertrag steht:

„Wir bekennen uns zu dem Ziel, bis 2015 gesamtstaatlich 10% des Bruttoinlandsprodukts für Bildungs- und Forschungsausgaben aufzuwenden.“

Meint die Regierung dies ernst, muss sie mutigere Schritte unternehmen. Wir fordern daher mehr Investitionen. Die Bildungsausgaben betrugen in Deutschland im Jahr 2009 rund 5 % des Bruttoinlandsprodukts, und NRW ist hierbei in Deutschland nicht die Spitze. Hier ist noch mehr zu tun. Auf keinen Fall aber darf man 2015 bei den 10 % stehen bleiben.

Der Koalitionsvertrag weist zu Recht darauf hin, dass der Bildungserfolg auch in Nordrhein-West­falen noch zu stark von der sozialen Herkunft abhängt. In der Regierungserklärung blieb dies leider ohne Erwähnung. Dies kann sich unsere Gesellschaft einfach nicht mehr leisten, und zwar nicht nur volkswirtschaftlich. Es ist und bleibt eigentlich skandalös. Denn die Ungerechtigkeit wird von den öffentlichen Bildungseinrichtungen selbst produziert. Es gelingt immer noch nicht, dass die öffentlichen Bildungseinrichtungen die unterschiedlichen Chancen der Kinder aufgrund des Elternhauses ausgleichen. Vielmehr verschärfen sie diese Ungleichheit, indem sie die Kinder aus sogenannten bildungsfernen Familien und von Migranten diskriminieren; Kinder aus dem Bildungsbürgertum hingegen werden de facto weiterhin privilegiert.

Bildung ist ein Menschenrecht, und unsere Schulen und Kitas müssen dem gerecht werden. Dazu müssen sie natürlich in die Lage versetzt werden, alle Kinder individuell zu fördern. Auch wenn in diesem Land der Schulfrieden ausgerufen wurde, kritisieren wir das gegliederte Schulsystem weiterhin wegen der sozialen Selektion und sprechen uns für eine flüssige Schullaufbahn aus.

Dieses Schulmodell geht allerdings über die jetzt installierten Sekundarschulen weit hinaus. Dabei geht es nicht einfach nur um längeres gemeinsames Lernen. An diesen Schulen soll durch unterschiedliche Geschwindigkeiten, durch frei wählbare Kurse flexibles individuelles Lernen für alle Schüler möglich werden. Darin sehen wir auch ein zeitgemäßes Unterrichtsmodell, weil es allen Schülern bessere Chancen bietet, sich in ihrer individuellen Entwicklung entsprechend zu entfalten.

Vor diesem Hintergrund können wir dem Schulversuch PRIMUS einiges Positive abgewinnen. Laut Koalitionsvertrag und Regierungserklärung sieht die Regierung in der Inklusion die zentrale Herausforderung für die Schulen in Nordrhein-Westfalen. Auch wir Piraten treten für die Schaffung eines konsequent inklusiven Bildungssystems ein. Denn wir wollen allen Schülern die gleichen Rechte, Chancen und Beteiligungsmöglichkeiten bieten.

Auch wir Piraten streben den Rückbau der Förderschulen an. Schüler mit speziellen Förderbedürfnissen sollen, so weit als möglich, in die allgemeinbildenden Schulen eingebunden werden. Dem schrittweisen Rückbau der Förderschulen muss ein entsprechender Ausbau der Regelschulen gegenüberstehen. Wir wollen den Rechtsanspruch auf inklusive Bildung so schnell wie möglich gesetzlich verankern. Elternwille auf Augenhöhe ist dabei allerdings das oberste Gebot. Das durch die Schließung der Förderschulen eingesparte Geld muss zu hundert Prozent in die inklusiven Schulen investiert werden. Auf keinen Fall darf es zum Stopfen von Haushaltslöchern herangezogen werden.

(Beifall von den PIRATEN)

Die Entscheidungen zur inklusiven Schule wurden bisher von Politikern, Bildungsexperten, Sprechern von Verbänden und einzelnen sehr engagierten Eltern diskutiert und beschlossen. Die Mehrzahl der Betroffenen blieb dabei jedoch außen vor. Wir fordern auch hier mehr Beteiligung, also die Einbeziehung aller betroffenen Schüler und Eltern.

Wir wären auch keine Piraten, wenn wir nicht auf einen weiteren Punkt aufmerksam machen würden: Es wird höchste Zeit, dass unsere Schulen endlich im 21. Jahrhundert ankommen. In der Informations- und Wissensgesellschaft ist der kompetente Umgang mit den gar nicht mehr so neuen Medien unabdingbar für die vollwertige gesellschaftliche Teilhabe. Doch kein Wort der Regierung hierzu – weder in der Rede von Ihnen, Frau Kraft, noch im Koalitionsvertrag –, wie an Schulen mit Computern, Internet oder Social Media umgegangen werden soll. Dabei ist in diesem Bereich viel zu tun. Wir brauchen eine landesweite IT-Initiative Bildungsinnovation.

(Beifall von den PIRATEN)

Die IT-Infrastruktur der Schulen muss flächendeckend auf einem aktuellen Stand gehalten werden. Es kann nicht sein, dass noch Geräte aus der digitalen Steinzeit verwendet werden. Wir wollen eine netzbasierte, virtuelle Lernumgebung und Lernmanagementsysteme. Wir meinen, dass jeder Schüler ab dem fünften Schuljahr ein mobiles digitales Endgerät zum Lernen und Spielen zur Verfügung haben sollte. Wir sind überzeugt, dass durch den verstärkten Einsatz digitaler Lern- und Arbeitsmittel auch Kosten gesenkt werden können, vor allem wenn diese Materialen unter freier Lizenz verfügbar gemacht werden.

(Beifall von den PIRATEN)

Im Koalitionsvertrag findet sich des Weiteren:

„Wir wollen, dass alle Studierwilligen ein erfolgreiches Studium in NRW absolvieren können, stärken die Demokratie an unseren Hochschulen und setzen den Rahmen für eine breite und zukunftsgerichtete Forschung.“

Dies ist unterstützenswert; das können wir Piraten sofort unterschreiben. Schauen wir uns aber einmal im Detail an, was damit gemeint ist! Das System Hochschule muss nämlich komplett neu gedacht werden. Ist es nötig, dass Hochschulen wie Unternehmen funktionieren sollen? Ist es richtig, was der damaligen Regierung Rüttgers/Pinkwart aus Gütersloh souffliert worden ist, oder ist nicht die akademische Selbstverwaltung und die wirkliche Autonomie der Wissenschaft ein Gut für sich?

Autonomie heißt nach der griechischen Herkunft nicht ausschließlich wirtschaftliche Autonomie à la Bertelsmann. Bildungseinrichtungen müssen immer wieder auf die Bedürfnisse einer Gesellschaft hin reflektiert werden – ein permanenter Prozess. Dies wurde gerade nicht hochgehalten. Solche Steuerungselemente wie Hochschulräte sind gerade ein Zeugnis von ausschließlicher Orientierung an wirtschaftlichen Interessen. Das läuft völlig konträr zu dem angestrebten Anspruch der Zukunftsfähigkeit.

Die Fragen hingegen, die wir stellen müssen, lauten: Was macht eine Hochschule zukunftsfähig, und welchen Beitrag leistet sie zur Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft insgesamt? Brecht hat Galilei in den Mund gelegt, dass die Aufgabe der Wissenschaft darin bestehe, die Mühsal der menschlichen Existenz zu verringern. Wir müssen heute die Frage stellen, welchen Beitrag die Hochschulen zur Orientierung in einer immer komplexer werdenden Welt leisten. Aktuell zu diagnostizieren ist vor allem das Totalversagen der vorherrschenden Wirtschaftstheorien bei Analyse und Therapie zur Behebung der Krisen.

Ein Beispiel: Standard & Poor‘s – man könnte auch sagen: gewöhnlich und arm – ratete die Bank Lehman Brothers eine Woche vor dem Crash auf Triple A.

Im Übermaß mit solch betriebswirtschaftlicher Kompetenz im Bereich der Vorhersage ausgestattet sind bei uns die Hochschulräte. Ich bin im Zweifel, ob unsere germanischen Ahnen, die ihre Zukunft aus der Leber von totem Viehzeug gelesen haben, da nicht erfolgreicher waren.

(Beifall von den PIRATEN)

Gerade in puncto Transparenz – das Wort ist in letzter Zeit von allen Fraktionen häufig genannt worden – sind die Hochschulräte ein hervorragende Ansatzpunkt für einen dringend nötigen Neuanfang. Tatsächlich sind weder der Hochschulrat als Gremium noch die einzelnen Mitglieder eines Hochschulrats über die gesamte fünfjährige Amtszeit irgendeiner demokratisch legitimierten Instanz rechenschaftspflichtig. Das ist für uns Piraten inakzeptabel.

(Beifall von den PIRATEN)

Der Hochschulrat ist sozusagen eine freischwebende Einrichtung. Anders als bei einem Unternehmensaufsichtsrat sitzen im Hochschulrat noch nicht einmal die Shareholder, die dort dem Vorstand gegenüber ihre Einlageinteressen vertreten. Die Hochschulratsmitglieder entscheiden über das Geld der Steuerzahler nach ihren ganz persönlichen, hochschulpolitischen oder ökonomischen Interessen und Einstellungen. Die Mitglieder können bislang selbst bei einer persönlichen Verfehlung noch nicht einmal abberufen oder abgewählt werden.

Dies halten wir für eine handfeste Aushebelung jeglicher demokratischer Entscheidungsprozesse innerhalb der Hochschulen. Nähmen wir die Aussagen im Koalitionsvertrag also ernst, hieße das, die Demokratie in den Hochschulen konsequent entweder durch Abschaffung oder Umgestaltung der Hochschulräte zu erreichen.

(Beifall von den PIRATEN)

Es ist darüber hinaus erstrebenswert, dass sich die Hochschulen weiter öffnen und auch neue Medien als Mittel der Wissensgenerierung und ‑vermittlung eine viel stärkere Rolle spielen. Abbau von Hürden bedeutet für uns aber auch Zugang zum Netz als Bestandteil des Bildungssystems. Die Entwicklung von Fähigkeiten zur Recherche im Netz und die Kompetenz, sich ein eigenständiges persönliches Netzwerk von Kontakten in Social Networks und offline zu erarbeiten, sehen wir als zentrale Ziele der Bildung. Denn Bildung ist viel mehr als nur ökonomisch Bezifferbares.

Kommunikation, Information, Wissen und Bildung formen die Grundlage unserer Gesellschaft. Ihr Gesicht wird gerade durch die Bildung geprägt. Bildung ermöglicht wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt, auf dem letztlich unser materieller und geistiger Wohlstand beruht. Sie setzt die Standards für unser Zusammenleben. Sie gibt Orientierung in einer komplexen Welt und schützt die Gesellschaft vor irrationalen Ängsten und leichtfertigen Vorurteilen. Sie versetzt uns in die Lage, Herausforderungen zu meistern, Problemlösungen zu finden und, wenn nötig, sogar die gesellschaftliche Richtung zu ändern. Wer die Bildung vernachlässigt, zerstört die Grundlage, auf der unsere Gesellschaft aufgebaut ist.

(Beifall von den PIRATEN)

Zum Forschungsstandort Nordrhein-Westfalen ist zu sagen, dass wir es kritisch sehen, dass Professoren teilweise nur noch mit der Beschaffung von sogenannten Drittmitteln beschäftigt sind. Ein Teil der durch Drittmittel eingeworbenen Gelder wird durch staatliche Förderung bereitgestellt. Die Notwendigkeit dieser Förderprogramme ist zu hinterfragen, und eventuell freiwerdende Gelder sind dem Etat der Hochschulen zuzuführen. Hierdurch können die Hochschulen Mittel an Stellen einsetzen, an denen sie dringend benötigt werden. Zusätzlich entfällt der durch Antragsprozesse entstehende Mehraufwand.

Zur Drittmitteleinwerbung zählen natürlich auch die Drittmittel aus der Privatwirtschaft. – Herzlich willkommen! Die Forschungsfreiheit an den Schulen ist aber gefährdet, wenn private Auftraggeber gezielt ein bestimmtes Forschungsergebnis verfolgen. Dadurch wird ergebnisorientierte Forschung unter dem Deckmantel von Neutralität und Sachlichkeit als öffentliches Forschungsergebnis verkauft. Die Piraten fordern daher eine deutliche und transparente Nennung aller privaten Förderer.

(Beifall von den PIRATEN)

Durch Verträge gehen die Rechte an den Forschungsergebnissen oftmals vollständig an den privaten Auftraggeber über. Dadurch werden Patente in der privaten Wirtschaft geschaffen, die durch öffentliche Gelder mitfinanziert wurden. Unter Beteiligung von öffentlichen Geldern sind allerdings alle Forschungsergebnisse unbedingt öffentlich zu machen.

(Beifall von den PIRATEN)

Frau Ministerpräsidentin, Sie haben erwähnt, dass Kultur kein Luxus ist. Leider aber nehmen, bedingt durch die chronisch maroden Kommunalfinanzen, viele Kommunen bei den sogenannten freiwilligen Leistungen Einsparungen vor. Das ist ein unerträglicher Zustand.

Wir benötigen für Nordrhein-Westfalen eine offene, vernetzte und für alle Menschen zugängliche Kultur, die keinerlei Deutungshoheit unterworfen ist und jedem Menschen zur eigenen Teilhabe und freien Mitgestaltung offensteht. Wir fordern eine neue Wahrnehmung in der Klassifizierung von Kultur und den damit einhergehenden Bewertungen von Niveau oder Geschmack. Während die selbsternannte Hochkultur mit Subventionen gestützt wird, müssen Kulturbereiche jenseits der ausgetretenen Pfade sehen, wo sie bleiben. Den Protagonisten bleibt oft nichts anderes übrig, als sich zu boulevardisieren und sich selbst zu Kunsthandwerkern zu reduzieren, um am Markt bleiben zu können. Dies gilt es unbedingt zu ändern.

Wenn von Spitzenleistungen von Kunst‑ und Kulturschaffenden geredet wird, sollten wir uns von dem US-amerikanischen Rankingwahn verabschieden. Das ist eine Unkultur. Man kann doch nicht Qualitäten auf einer Liste nebeneinander vergleichen.

(Beifall von den PIRATEN)

Die alleinige Ausrichtung auf Leuchtturmprojekte und sogenannte Spitzenleistungen wird der bunten und sehr vielfältigen Kultur in unserem schönen Bundesland einfach nicht gerecht.

(Zuruf von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft)

– Okay. Wir werden das überprüfen.

Darüber hinaus bedeutet Zugang zu Kultur auch immer Zugang zu Märkten. Das hierin schlummernde, auch wirtschaftlich relevante Potenzial ist nicht einmal im Ansatz berücksichtigt. Wir sehen da durchaus eine bislang noch im Schlummer befindliche große zusätzliche Wirtschaftskraft für das Land Nordrhein-Westfalen.

Frau Ministerpräsidentin, Herr Wirtschaftsminister Duin, ein weiteres Thema, das uns Piraten am Herzen liegt, ist die Kultur‑ und Kreativwirtschaft in Nordrhein-Westfalen.

(Minister Garrelt Duin: Mir auch!)

– Das glaube ich Ihnen. – Vor einigen Wochen haben Sie den „Kreativ-Report NRW“ vorgelegt. Darin wird die große wirtschaftliche Bedeutung der Kultur‑ und Kreativwirtschaft für Nordrhein-Westfalen deutlich. Schon heute macht sie einen bedeutenden Teil der Wertschöpfung in Nordrhein-Westfalen aus. Allein die Software‑ und Games-Branche ist in Nordrhein-Westfalen seit 2008 um sage und schreibe 30 % gewachsen.

Doch nicht nur in Hinsicht auf ökonomische Kennzahlen sind kreative Wirtschaftszweige wichtig. Die Kultur‑ und Kreativbranche ist vor allem auch ein wesentlicher Motor für Innovationen, der für positive Effekte in allen anderen Branchen sorgen kann. Die digitale Revolution, die wir seit einigen Jahren erleben und die noch lange nicht abgeschlossen ist, findet ihren konkreten gesellschaftlichen Ausdruck eben in der Kultur‑ und Kreativwirtschaft. Hier entstehen aus neuen Technologien neue Ideen, Produkte und Dienstleistungen, die gesamtgesellschaftliche Relevanz besitzen.

Ein Beispiel wäre der Megatrend der Digitalisierung, der nicht nur leichteren und schnelleren Zugriff auf Wissen ermöglicht, sondern andererseits auch helfen kann, natürliche Ressourcen zu schonen, indem beispielsweise Firmen und Behörden weitestgehend auf Papier verzichten können. Wir Piraten freuen uns im Übrigen, dass dieser Megatrend inzwischen auch im Landtag angekommen ist. Noch schöner wäre es allerdings, wenn er auch die Landesregierung erreichen würde. Ich denke hier mit Schrecken an die großen und weitgehend überflüssigen Stapel von Papier, die jeder einzelne Abgeordnete im Zuge der Haushaltsberatungen in Form der ausgedruckten Einzelpläne auf seinem Schreibtisch vorfindet. Totholzinteraktivität beschränkt sich auf das Herumspielen mit Markern. Außerdem kann Totholz nicht rechnen.

(Beifall von den PIRATEN)

Ein weiteres Beispiel für den konkreten gesellschaftlichen Nutzen, den Innovationen aus der Kreativbranche haben können, ist die Möglichkeit digitaler Bürgerbeteiligung und Willensbildungsprozesse. Was heute aufgrund der digitalen Medien an transparenten und inklusiven Verfahren möglich ist, wäre vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen. Wie Sie sicher wissen, ist das ein Thema, das gerade uns Piraten nicht kaltlässt. Gern erklären wir uns bereit, der Landesregierung in diesem Bereich mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Wir meinen es ernst, wenn wir das sagen.

Der „Kreativ-Report NRW“, der im Auftrag des Wirtschaftsministeriums erstellt wurde, stellt aber nicht nur die große Bedeutung der Kultur‑ und Kreativwirtschaft in Nordrhein-Westfalen heraus, er zeigt darüber hinaus auch die Wichtigkeit, diese Branche effektiv politisch zu fördern. Hier müssen wir Sie fragen, wie ernst Sie es damit meinen. In Ihrem Koalitionsvertrag etwa findet sich kein einziges konkretes Projekt, ja nicht einmal eine vage Idee, wie man die Kultur‑ und Kreativwirtschaft praktisch fördern könnte. Der Report zeigt eine ganze Reihe von Punkten auf, an denen sich politisch ansetzen lässt. Wir hoffen, dass Sie das auch tun werden.

Ich will hier kurz auf das eingehen, was aus unserer Sicht entscheidend sein kann: Der Bericht stellt erstens zu Recht fest, dass es sich bei der Kultur‑ und Kreativwirtschaft um eine sehr kleinteilige und sehr heterogene Branche handelt. Man könnte sogar fragen, ob es die eine Kultur‑ und Kreativwirtschaft überhaupt gibt. Viele der Akteure in diesem Bereich, der Goldschmiede, selbstständige Künstler und 3-D-Entwickler gleichermaßen umfasst, würden sich selbst vermutlich gar nicht zu der Branche zählen.

Umso wichtiger ist es, dass Förderprogramme passgenau auf die unterschiedlichen Bedürfnisse der verschiedenen Segmente der Kultur‑ und Kreativwirtschaft zugeschnitten sind. Dies erfordert einerseits eine Binnendifferenzierung der Förderprogramme, andererseits aber umso mehr eine wirksame ressortübergreifende Abstimmung der Förderbemühungen. Wir halten es für entscheidend, dass die Förderung abgestimmt, bedarfsgerecht und zielgerichtet ist. Eine solche Abstimmung können wir bei Ihnen jedoch noch nicht erkennen. Laut Haushaltsplan stehen allein in vier Ministerien ganz verschiedene Fördertöpfe bereit, die jeweils auch zur Förderung der Kultur‑ und Kreativwirtschaft dienen sollen. Gibt es hierbei eine ressortübergreifende Strategie, oder kocht jedes Ministerium sein eigenes Süppchen? Wir würden uns freuen, wenn die Landesregierung einen Masterplan Kreativwirtschaft entwickeln würde. Natürlich beteiligen wir uns sehr gern konstruktiv daran.

Zweitens werden einige Branchen der Kultur‑ und Kreativwirtschaft immer noch ein wenig als Schmuddelkinder behandelt. Wir denken vor allem an die Games-Branche. Schon heute macht die Spieleindustrie weltweit höhere Umsätze als die Filmbranche. In Nordrhein-Westfalen liegt der Bereich Software/Games laut Kreativreport in Sachen Umsatz deutlich vor der Film- oder Musikindustrie.

Trotzdem werden beispielsweise Filme in Deutschland und Nordrhein-Westfalen auch im Hinblick auf die öffentliche Wahrnehmung weit umfassender gefördert als Computerspiele, etwa mit Filmhochschulen und entsprechenden Instituten. Dabei sind diese Spiele längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen und Bestandteil unseres sozialen Zusammenlebens. Wir setzen uns für die Förderung von digitalen und analogen Spielen als Kulturgut ein.

(Beifall von den PIRATEN)

Das sogenannte Mittelstandsförderungsgesetz aber ist aus Sicht der Piraten ein Beispiel für eine Gesetzgebung, wie sie nicht sein sollte. In Ihrem Koalitionsvertrag schreiben Sie – ich zitiere mit Genehmigung –:

„Wir wollen miteinander für mehr Transparenz von Politik sorgen …“

(Vorsitz: Vizepräsident Daniel Düngel)

Mit dem Mittelstandsförderungsgesetz tun Sie jedoch das genaue Gegenteil. Sie bringen ein Gesetz ein, das voller Worthülsen steckt und bei dem fraglich ist, ob es dem Mittelstand überhaupt hilft. Vor allem aber bringen Sie ein Gesetz ein, dessen Kernbestandteil, die sogenannte „Clearingstelle Mittelstand“, den Verbandslobbyismus auf Landesebene institutionalisiert und die Position des Parlaments im Gesetzgebungsverfahren schwächt.

Tatsächlich werden nämlich in diesem Gesetzentwurf elementare Regeln von Demokratie und Transparenz verletzt: Mit der „Clearingstelle Mittelstand“ wollen Sie eine Institution schaffen, die sämtliche Gesetzes- und Verordnungsvorhaben der Landesregierung, die den Mittelstand betreffen – das dürften viele sein –, auf ihre Mittelstandsverträglichkeit prüft. Konkret soll ein Gremium aus Vertretern sozialpolitischer Verbände und wirtschaftlicher Interessensorganisationen geplante Gesetze lesen und bewerten dürfen, noch ehe sich auch nur das Kabinett geschweige denn die demokratisch gewählten Abgeordneten im Landtag mit diesen befasst haben.

Damit schaffen Sie nicht nur ein bis dato einmaliges, weil gesetzliches Einfallstor für Lobbyismus, sondern Sie konterkarieren geradezu die Idee des demokratischen Gesetzgebungsprozesses. Sie wollen die Beamten in den Ministerien gesetzlich dazu verpflichten, künftig als Allererstes bezahlte Interessenvertreter zu einer geplanten Regelung zu befragen. Erst wenn die Lobbyisten ihre Meinung deutlich machen konnten, soll sich die Regierung als Ganzes mit dem Vorgang befassen. Und irgendwann, ganz am Ende, wenn die Sache längst entschieden ist, dürfen dann auch die demokratisch gewählten Abgeordneten den Gesetzesentwurf abnicken und höchstens noch kosmetische Korrekturen vornehmen.

Nun mögen Sie sagen, dass es sich hierbei gar nicht um irgendwelche Lobbyisten, sondern Vertreter des Mittelstandes handele, die ausschließlich mittelstandsrelevante Dinge bewerten sollten. Doch das ist de facto nicht der Fall. Zwar soll die Clearingstelle mit Vertretern der wirtschaftlichen Selbstverwaltung bestückt werden – etwa aus den Industrie- und Handelskammern oder den Handwerkskammern. Doch sind Sie wirklich sicher, dass diese die Interessen von Klein- und Mittelbetrieben auch effektiv vertreten? Immer wieder hört man die Klage, dass solche Verbände gerade die Interessen der großen Mitglieder, nämlich derjenigen, die den höchsten Mitgliedsbeitrag zahlen, vertreten.

(Beifall von den PIRATEN)

Dann jedoch könnte aus der Mittelstandsförderung schnell eine Großunternehmensförderung werden.

Ein anderer Aspekt an der personellen Zusammensetzung der Clearingstelle ist jedoch noch viel problematischer. Denn über genau diese personelle Zusammensetzung soll die Landesregierung laut ihres Entwurfs per Verordnung entscheiden können. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Regierung die Mitglieder der Clearingstelle nach eigenem Gutdünken und also völlig willkürlich auswählen kann. Der Landtag soll dabei keine Rolle spielen.

Anders gewendet: Den entscheidenden Teil des Gesetzes, den Lobbyistentraum namens „Clearingstelle Mittelstand“, wollen Sie dem parlamentarischen Zugriff entziehen. Der Landtag soll nach Ihrem Gesetz nicht nur an letzter Stelle des Gesetzgebungsverfahrens stehen, sondern Sie möchten jedwede Einmischung des Landtag verhindern, wenn künftig statt demokratisch gewählter Volksvertreter bezahlte Interessenvertreter die Gesetze der Landesregierung vorbereiten.

Jetzt frage ich Sie: Wird die Besetzung der Clearingstelle den Prinzipien der Gemeinwohlorientierung und des Interessensausgleichs folgen? Oder werden dort die Vertreter derjenigen Verbände sitzen, die die besten Beziehungen zur Landesregierung pflegen?

Ich fasse zusammen: Das Mittelstandsförderungsgesetz ist ein weiterer Baustein auf dem Weg zur Entmachtung des Parlaments und zur Dominanz von Exekutive und wirtschaftlichen Interessen. Per Gesetz wird in Nordrhein-Westfalen der Lobbyismus im Gesetzgebungsprozess verankert.

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

Das Parlament dient nicht mehr der inhaltlichen Gestaltung von Gesetzen, sondern der formaljuristischer Absegnung. Dieses Gesetz spricht Ihren angeblichen Bemühungen um Transparenz und Demokratie Hohn.

(Beifall von den PIRATEN)

Wir Piraten wollen etwas grundsätzlich anderes: Die Idee, Gesetze zu durchleuchten, um unnötige Bürokratie zu verhindern, begrüßen wir ja grundsätzlich sehr. Noch wichtiger ist für uns jedoch ein transparenter und vor allem demokratischer Prozess. Wieso verbinden wir also nicht beides und setzen auf eine Bürgerbeteiligung, von der auch Sie so viel sprechen? Denn auch Einzelunternehmer, Inhaber und Freiberufler sind Bürger, die über Sachverstand verfügen. Trauen Sie diesen Menschen nicht zu, Gesetze auf Mittelstandsverträglichkeit zu prüfen und ihre Einwendungen selbst vorzubringen?

(Beifall von den PIRATEN)

Oder noch besser: Wie wäre es gleich mit der Einrichtung einer „Clearingstelle Bürger“? Diese könnte die Möglichkeit bieten, offen über transparent entwickelte Gesetze zu diskutieren und sie auf Bürgerverträglichkeit zu überprüfen. Eine solche Gesetzesüberprüfung würden die Piraten sofort unterstützen. Von einem solchen Demokratieverständnis scheinen wir aber noch meilenweit entfernt zu sein.

(Beifall von den PIRATEN)

Als fundamental wichtiges Ziel auf diesem Weg sehen wir auch die Verankerung des Verbraucherschutzes in der Landesverfassung. Dadurch soll der Verbraucherschutz zum integralen Bestandteil von Politik werden. Wir haben dazu bereits die Einrichtung eines eigenen Ministeriums gefordert. Diese beiden Punkte werden auch weiterhin eines unserer Ziele in dem Bereich sein. Datenschutz und Transparenz sind dabei fundamentale Bestandteile des Verbraucherschutzes, die bei uns besonders hohes Gewicht haben. Konkret streben wir neben den schon erwähnten Zielen ein Lobbyistenverbot bei allen Gesetzentwürfen an.

Verbraucherinteressen sind vom Gesetzgeber bislang nur teilweise berücksichtigt worden. Immer wieder ist eine Unterordnung der berechtigten Interessen der Verbraucher unter kommerzielle Gesichtspunkte festzustellen. Dabei haben sich Parlament und Regierung in erster Linie als Volksvertreter und nicht als Vertreter von Unternehmensinteressen zu verstehen. Derzeit beschränkt sich unser Verbraucherschutz darauf, im Nachhinein auf Lebensmittelskandale zu reagieren. Wir fordern dagegen proaktive Maßnahmen. Eine wäre zum Beispiel die vollständige Erfassung der Medikation und nicht nur der Antibiotika in der Tieraufzucht. Ein Element dessen wäre eine Datenbank, in der sämtliche Medikamentengaben im Rahmen der Tieraufzucht erfasst würden.

(Beifall von den PIRATEN)

Darüber hinaus ist eine Verbraucherbildung von Kinder und Jugendlichen schon in der Schule besonders wichtig. Das heißt: Ein Verbraucherbildungsangebot auf allen schulischen Ebenen sollte gefördert werden. Denn nur informierte Bürgerinnen und Bürger können die für sie richtigen Entscheidungen frei treffen. Dies zu lernen, muss schon in der Schule eingeübt werden. Das steht auch in direktem Bezug zum Lernkontext Medienkompetenz, gegen den der Herr Spitzer ja so viel hat.

Wir als Piratenfraktion machen nicht einfach nur auf digital, sondern wir wollen in allen Politikfeldern aktiv sein und mit Ihnen gemeinsam unsere Demokratie weiterentwickeln. Die Prinzipien aus der vernetzten Welt müssen auf die Gesellschaft übertragen werden. Das bedeutet: Wir wollen den freien Zugang für alle zu Information und Wissen.

Darüber hinaus fordern wir den freien Zugang für alle zu allen Gemeingütern. Dazu gehört auch ein diskriminierungsfreier Zugang zur Infrastruktur wie zum Beispiel dem öffentlichen Personennahverkehr. Mobilität ist Voraussetzung für gesellschaftliche Teilhabe und damit ein Menschenrecht.

(Beifall von den PIRATEN)

Aus diesem Grund fordern wir – über die Kosten ist ja im Wahlkampf schon diskutiert worden – einen fahrscheinlosen öffentlichen Nahverkehr. Wir wissen natürlich, dass ein so weit gehendes Konzept nicht von heute auf morgen umzusetzen ist. Aber wir wollen, dass spätestens mit dem Haushaltsentwurf 2013 für die Menschen spürbare und konkret erfahrbare Finanzierungsmaßnahmen ergriffen werden.

(Beifall von den PIRATEN)

Bei etwas gutem Willen könnte man die ersten Weichen bereits in diesem Jahr stellen.

Meine Damen und Herren von SPD und Grünen, es hilft nichts, wenn Sie den Menschen immer wieder große Versprechungen machen und am Ende davon nur Restposten übrig bleiben – schlicht nach dem Motto: Der Berg kreißte und gebar eine Maus. Angesichts der generell schwierigen Finanzlage auf der Ebene der Bundesländer laufen Sie damit ganz eindeutig in eine Glaubwürdigkeitsfalle.

Von schönen Politikerworten können die Menschen nicht leben. Dadurch erfahren sie auch keine Verbesserung ihrer Lebens- und Arbeitssituationen. Wir Piraten wollen deshalb ganz konkret und spürbar den Bürgern, den Kindern, den Schülern und Studenten, ja den Menschen ohne Arbeit und deren Familien helfen.

Wir wissen natürlich, dass unsere Vorstellungen nicht kurzfristig und schon gar nicht in einem Haushaltsjahr zu verwirklichen sind. Aber Politik muss generell den Anspruch haben, in einer Legislaturperiode auch zu verändern und zu gestalten. Dafür müssen sich auch Schritt für Schritt wieder Finanzierungswege finden. Sonst kann die Politik ihren Gesamtanspruch aufgeben, und wir machen hier nur noch Talkshow. Genügend Formate gibt es ja.

(Beifall von den PIRATEN)

„Politik“ – mit Genehmigung des Herrn Präsidenten zitiere ich den Kunstprofessor Kurt Weidemann – „betreibt Design für unser Zusammenleben, ein Designer ohne Visionen ist aber kein Realist.“

Wir brauchen für die öffentliche Daseinsvorsorge keine Businesspläne für das Land Nordrhein-Westfalen und dann womöglich noch einen Vorstandsvorsitzenden einer Nordrhein-Westfalen-AG; denn man kann das Lebens- und Arbeitsumfeld der Bürgerinnen und Bürger in Nordrhein-Westfalen nicht ausschließlich an sogenannten betriebswirtschaftlichen Rentabilitätskalkülen ausrichten. Wir brauchen ein tragfähiges Zukunftskonzept für ein solidarisches Gemeinwesen und für den inneren Zusammenhalt in Nordrhein-Westfalen. Die Solidarität, von der wir Piraten sprechen, entsteht ganz von allein – jedoch nur dann, wenn eine gerechte Lastenverteilung und eine Verbesserung der Einnahmeseite erfolgen, damit die öffentlichen infrastrukturellen Ressourcen und die Versorgungsstandards gepflegt, verbessert und auch finanziert werden können.

Das Eduard-Pestel-Institut hat in diesen Tagen die Probleme des Wohnungsbaus beschrieben. An Rhein und Ruhr liegt der Bedarf an Sozialwohnungen bei über 1,7 Millionen. Zur Verfügung stehen aber nur etwa 500.000. Jährlich verschwinden zudem ca. 46.000 Sozialwohnungen, weil die Frist der Mietpreisbindung ausläuft. Der Mangel an bezahlbarem Wohnraum nimmt schon jetzt dramatische Ausmaße an. Eine weitere Verschärfung ist bei Fortsetzung der betriebenen Wohnungspolitik absehbar, ja geradezu unausweichlich.

Die Landesregierung selbst erwartet in ihrem aktuellen Sozialbericht 2012 eine Verschlechterung der Chancen wohnberechtigter Haushalte auf eine Sozialmietwohnung. Angesichts des laufend zurückgehenden Bestands solcher Wohnungen und des faktisch nicht mehr stattfindenden Neubaus in diesem Bereich ist das keine besonders gewagte Aussage. Schließlich haben wir es NRW auch mit den Spätfolgen der Steinbrück’schen Wohnungsbaupolitik zu tun, die unter Rüttgers natürlich konsequent fortentwickelt wurde.

Angesichts der inzwischen vorliegenden Erfahrungen mit renditegetriebenen Wohnungsunternehmen, die Wohnungen als Finanzmarktprodukt verstehen, kann die Privatisierung keine Option mehr sein, wenn wir den kommunalen Einfluss auf die Versorgung mit angemessenem Wohnraum auch solcher Bevölkerungsgruppen aufrechterhalten wollen, die am Markt kaum mit solchem Wohnraum versorgt werden können. Dabei handelt es sich mitnichten um ein fakultatives Politikfeld, um das wir uns kümmern können, wenn der Rest erledigt ist. Es handelt sich hier vielmehr um ein Kernelement sozial gerechter Politik; denn ohne Wohnen ist alles nichts.

(Vereinzelt Beifall von den PIRATEN)

– Ein bisschen mehr Schwung bitte!

(Josef Hovenjürgen [CDU]: Den Beifall dürft ihr nicht twittern!)

– Ja, die sind mit Twittern beschäftigt. Das können die auch. Aber viele sind multitaskingfähig – im Gegensatz zu Ihnen.

(Beifall von den PIRATEN)

Der Streit um die Einnahme- und Ausgabenstrukturen, Steuern und Abgaben sowie deren Verwendung ist im Wesentlichen nichts anderes als die Fortsetzung eines ständigen gesellschaftlichen Verteilungskonfliktes auf staatlicher Ebene. In der klassischen Finanzpolitik werden dabei drei zentrale Aufgabenstellungen formuliert, und zwar die Allokations‑, Distributions- und Stabilisierungsfunktion. Hier geht es im Wesentlichen um die Bereitstellung öffentlicher Güter – Infrastruktur usw. –, um Marktversagen auszugleichen, um die Korrektur der Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie um die Herstellung von wirtschaftlicher Stabilität bzw. des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts.

Die Finanzierungsgrundlagen, die Steuer- und Abgabenpolitik, rücken immer mehr in den Mittelpunkt der sozialen Auseinandersetzungen. Vor allem auch vor dem Hintergrund der Globalisierung und der Entkopplung der Finanzmärkte von der Realwirtschaft stehen für die staatlichen Ausgleichs- und Regulationsfunktionen immer weniger finanzielle Ressourcen zur Verfügung. Für die Veränderungsnotwendigkeiten in Wirtschaft und Politik zum Beispiel im Rahmen einer Steuerung des Strukturwandels und einer regulativen Industrie- und Investitionspolitik bleibt immer weniger Raum.

Die Neujustierung der staatlichen Finanzen hat immer mehr zum Ergebnis, dass die Sozialsysteme auf ein Niveau zurechtgestutzt wurden, das gerade noch ausreicht, um die politische Stabilität so mal eben zu erhalten. Die vielgepriesene soziale Sicherheit wurde abgelöst durch den Begriff der Eigenverantwortung, die nun wiederum ausschließlich zur Privatangelegenheit gemacht wird.

Eigenverantwortung, Selbstbestimmung und Freiheit sind zwar Grundwerte von uns Piraten. Jedoch wissen wir, dass sie in ein gesamtgesellschaftliches Wir eingebunden werden müssen.

(Beifall von den PIRATEN)

Dieses Wir wird aber zerrüttet und zerstört durch die Tatsache, dass viele Mitglieder unserer Gesellschaft auch in Nordrhein-Westfalen im blanken wirtschaftlichen Existenzkampf stehen. Sie haben lediglich Recht und Freiheit auf das Scheitern, zum wirtschaftlichen Exitus.

Wenn aus den öffentlichen Haushalten elementare staatliche Aufgaben nicht mehr finanziert werden, nimmt darüber hinaus die Politikverdrossenheit der Bürgerinnen und Bürger zu. Die Rettung großer Privatbanken und zahlreicher Landesbanken, in Nordrhein-Westfalen der WestLB, aber auch der Deutschen Industriekreditbank – IKB –, wird weitgehend mit zusätzlichen Krediten in Milliardenhöhe finanziert. Gleichzeitig verdienen ausgerechnet die Verursacher dieser zusätzlichen Staatsverschuldung nun auch noch an der Finanzkrise und werden nicht in Mithaftung genommen oder an den Lasten beteiligt.

Der Steuerzahler wird ständig zur Kasse gebeten, und zwar durch einschneidende Kürzungen im Bereich Arbeit und Soziales. Die systematische Verarmung der öffentlichen Kassen ist auf allen Ebenen unübersehbar. Wenn sich die Politik als unfähig erweist, diese in der Gesellschaft offensichtlichen Missstände zu beseitigen und nachhaltig zu lösen, wird sich der Unmut der Bürgerinnen und Bürger gegen die Politik insgesamt richten.

In diesem Kontext ist die Piratenfraktion der Auffassung, dass die zunehmende staatliche Verschuldung die Handlungsspielräume von Bund, Land und Kommunen einschränkt und daher mittelfristig auf ein finanzwirtschaftlich vertretbares Maß reduziert werden muss.

Frau Kraft, ich kann Ihnen hier seitens unserer Fraktion versichern, dass wir zu einer Neuauflage der Kohleförderung durchaus bereit sind, und zwar der Kohleförderung im Bund: mehr Kohle für den Landeshaushalt NRW.

(Beifall von den PIRATEN)

Die Einführung automatischer Schuldenbremsen lenkt dabei von der Notwendigkeit einer Korrektur der primären Einkommensverteilung, also des gesellschaftlich überschüssigen Vermögens ab. Mit automatischen Schuldenbremsen wird der Eindruck erweckt, dass über rein technische bzw. haushalterische Vorkehrungen auf der Ausgabenseite eine nachhaltige Reduzierung der Defizite in den öffentlichen Haushalten möglich sei. Zur Finanzierung notwendiger Ausgaben in Bildung, Arbeit, Umwelt und zur Sicherung eines leistungsfähigen Sozialstaats sind jedoch Mehreinnahmen erforderlich. Eine Herstellung der Handlungsfähigkeit der öffentlichen Haushalte ist deshalb vor allem über eine Verbesserung der Einnahmen des Staates zu erreichen und in Sonderheit durch eine Beteiligung derjenigen, die die aktuelle Krise verursacht haben.

(Beifall von den PIRATEN)

Eine Veränderung der Verteilung bereits vorhandener Einnahmen und darüber hinaus auch zusätzlicher Steuereinnahmen durch eine andere Steuerpolitik ist bekanntermaßen die entscheidende Frage und Stoßrichtung. Hierdurch stünden genügend Mittel für einen piratigen Kurswechsel in Nordrhein-Westfalen und gleichzeitig für einen sukzessiven Schuldenabbau zur Verfügung.

Lassen Sie mich einige Anmerkungen zum europäischen Fiskalpakt und zu seinen Auswirkungen für unser Land Nordrhein-Westfalen machen. Das ist in der gestrigen Regierungserklärung nur am Anfang und damit am Rande zur Sprache gekommen. Die deutsche Schuldenbremse, wie sie das Grundgesetz seit 2009 vorschreibt, hatte bisher nur begrenzte Wirkung, da der Bund erst ab 2016 daran gebunden ist und die Bundesländer sie erst ab 2020 strikt einhalten müssen. Die konkrete Umsetzung in der Landesverfassung in Nordrhein-Westfalen ist bisher noch nicht erfolgt, denn offensichtlich hatte die Auseinandersetzung mit dieser Frage noch reichlich Zeit. Vonseiten der Landesregierung war man sich einig, dass wenigstens für die Kommunen in Nordrhein-Westfalen ein Schutzschirm gegen zusätzliche Belastungen geschaffen werden müsse.

Nun steht aber bereits eine enorme Beschleunigung und Verschärfung der restriktiven Regeln durch den Fiskalpakt auf EU-Ebene vor der Tür. Es sind erneut weitreichende Folgen für das Bundesland Nordrhein-Westfalen und seine Gemeinden zu erwarten.

Wir Piraten können uns des Eindrucks nicht erwehren, dass bisher nur wenige wirklich realisiert haben, welche Wirkungen im Einzelnen damit verbunden sind. Es gibt dazu bisher keine parlamentarische Meinungsbildung. Nach unserer Auffassung findet das uneingeschränkte Entscheidungsrecht der Abgeordneten über die Haushaltskasse demnächst seine engen Grenzen im europäischen Fiskalpakt. Damit sind einschneidende Rückwirkungen auf die demokratischen Gestaltungskompetenzen der Landesparlamente und seiner Abgeordneten verbunden. Darauf will ich jetzt hier nicht näher eingehen, denn mir geht es an dieser Stelle einmal nur um die Kommunen.

Angesichts des Tempos der ständigen Eurorettungsmaßnahmen und der Unklarheit über die Einzelheiten und Tragweite der aktuellen Vertragswerke kann aus Piratensicht von einer sorgfältigen parlamentarischen Prüfung und Befassung wohl kaum die Rede sein. Die im Bundesrat vertretenen Länder haben dennoch zügig Zustimmung signalisiert, auch Nordrhein-Westfalen. Die Verlockung durch finanzielle Zugeständnisse an die Bundesländer in Höhe von insgesamt 1 Milliarde € für den zusätzlichen Kita-Ausbau und für die Grundsicherung im Alter war groß und hat den Blick hinsichtlich der realen finanziellen Belastungen im jeweiligen Landeshaushalt getrübt. Das wollen wir Piraten Ihnen zubilligen. Diese Zusagen sind bisher jedoch Absichtserklärungen und angesichts der steigenden Lasten der Kommunen für die soziale Grundsicherung allenfalls ein Tropfen auf den heißen Stein.

Weitere konkrete Zusagen in entscheidenden Punkten hat es nicht gegeben, sondern es gibt nach unserer Auffassung lediglich vage Vertröstungen, zum Beispiel bei den Eingliederungshilfen für Behinderte.

Der Fiskalpakt verschärft jedenfalls die Maastricht-Kriterien und die deutsche Schuldenbremse in zeitlicher und qualitativer Hinsicht, zum Beispiel durch folgende Regel: Spätestens ab 2014 darf der Bund bzw. jeder Vertragsstaat nur ein strukturelles Defizit von maximal 0,5 % des BIP aufweisen, das sogenannte Defizitkriterium. Diese Regelung bezieht sich jedoch auf den gesamtstaatlichen Haushalt und damit auf Bund, Länder und ebenso auf die Gemeinden. Während sich also die deutsche Schuldenbremse in der Vergangenheit auf Bund und Länder bezieht, werden zukünftig beim Fiskalpakt auch die Gemeinden und Sozialversicherungsträger inklusive der Nebenhaushalte in die Verschuldungsquote einbezogen. Dadurch entsteht ein enormer zusätzlicher Sparzwang für die Länderhaushalte, und natürlich entstehen auch erhebliche Belastungen für Städte und Gemeinden.

Wir als Piratenfraktion wollen ganz einfache Fragen an die Landesregierung aufwerfen: Wie sollen vor diesem Szenario eigentlich die chronisch unterfinanzierten Kommunen zukünftig die Investitionen in die öffentliche Daseinsvorsorge, die Sanierung von Schulen und Straßen und die Ausgaben für Soziales aufbringen? Welche ganz konkreten Lösungsvorschläge hat da die Landesregierung?

Nun haben Sie bereits über die Einsetzung eines teuren Effizienzteams entschieden, das bis zum Ende der Legislaturperiode dauerhaft im Haushalt strukturelle Einsparpotenziale von 1 Milliarde € aufzeigen soll. Aber dieses Effizienzteam kann ja wohl nicht allen Ernstes Ihre nachhaltige konzeptionelle Lösung darstellen, um die zukünftigen Finanzierungsdefizite auf Landes- und Kommunalebene auszugleichen. Offensichtlich kann eine vernünftige und hinreichende Finanzausstattung des Landes nur durch einschneidende Verbesserungen der Einnahmenseite erreicht werden.

(Mehrdad Mostofizadeh [GRÜNE]: Aha!)

– Wir reden morgen über den Haushalt. – Meine Damen und Herren von der Landesregierung, hier sind Sie nicht glaubwürdig. Im Wesentlichen haben Sie die gleichen Forderungen bereits in der letzten Legislaturperiode angekündigt. Bundesratsinitiativen und das halbherzige Agieren von SPD und Grünen auf Bundesebene haben jedenfalls noch keinen einzigen Euro in die Landeskasse gebracht.

(Beifall von den PIRATEN)

Verehrte Frau Ministerpräsidentin, jenseits aller Streitpunkte, die wir haben und sicher auch noch haben werden: Die Piratenfraktion reicht Ihnen die Hand und wünscht Ihnen und Ihrer Regierungsfrau/­mannschaft eine glückliche Hand für die kommenden Aufgaben. Wir schließen damit natürlich auch die beiden anderen Oppositionsfraktionen mit ein.

Meine Damen und Herren, der Redner möchte ausdrücklich anmerken, dass dieser Beitrag ein Schwarmprodukt war, ein Gemeinschaftsprodukt der gesamten Piratenfraktion NRW. – Herzlichen Dank für Ihre geschätzte Aufmerksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

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