Veröffentlichung Termine Sammelabschiebungen

Nach Ablehnung der Veröffentlichung von Terminen für Sammelabschiebungen durch Innenminister Jäger gibt die Piratenfraktion die entsprechenden Daten ab jetzt im Voraus bekannt. „Jäger spricht von erheblichen Sicherheitsbedenken und tut damit so, als ob Kriminelle, Terroristen und Mörder abgeschoben würden. In Wirklichkeit sind von den Sammelabschiebungen oft Familien betroffen, die hier seit vielen Jahren leben und Deutschland als ihre Heimat begreifen. Wenn die Menschen in der Nacht ohne Ankündigung zum Zwecke der Sammelabschiebung abgeholt werden, dann ist das menschenunwürdig. Die Vorgehensweise dient allein dem Zweck, die hässliche Realität deutscher Abschiebepolitik vor der Öffentlichkeit zu verbergen“, so Frank Herrmann, Abgeordneter der Piratenfraktion und Sprecher im Innenausschuss. Weiterlesen ›

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Aus der Reihe: Gespräche from Hell

Heute: Polizei und Staatsanwaltschaft Duisburg

Am 24.8. habe ich auf dieser Seite einen Augenzeugenbericht veröffentlicht, der mir im Vertrauen und in meiner Eigenschaft als Mitglied des Landtages NRW zugestellt wurde.

Vor ca. 10 Tagen meldete sich ein Polizist der Kripo Duisburg auf meinem Handy, weil er gerne den Namen des Zeugen haben möchte. So weit, so gut.

Heute bin ich dann (in Begleitung meines Mit-MdL Torsten Sommer) zur Polizei Duisburg gefahren. Meine naive Idee war ja, wir reden dann einfach mal locker. (Zumal ich bezüglich des Verhaltens der Polizei dort auch mal ein paar (unangenehme) Fragen hätte. Zum Beispiel bezüglich der Gerüchte, die Polizei würde nicht zum Haus “In den Peschen” fahren, wenn Menschen mit gebrochenem Deutsch anrufen. Oder bezüglich der Gerüchte, es hätte beim Eindringen in das Haus rassistische Äußerungen gegen Bewohner*innen gegeben.)

Es kam dann aber gar nicht so richtig zu einem Gespräch.

Erwartet wurden wir von dem Polizeibeamten aus dem Telefonat (Herrn S.) und dem mir nicht angekündigten und bis dahin unbekannten Staatsanwalt (Herrn M.).

Wir stellten uns kurz vor, da fragte Herr M., wer denn mein Begleiter sei. Ich stellte ihn als Kollegen aus dem Landtag vor. Herr M. stellte fest, dass eine Begleitung nur als Rechtsvertretung vorgesehen sei, sonst nicht und forderte meinen Kollegen auf, den Raum zu verlassen. (Auf eine Bemerkung von Torsten Sommer kam die Entgegnung vom Herrn Staatsanwalt an Torsten: “Mit ihnen rede ich gar nicht.”) Wir stellten dann klar, dass wir dann auch umgehend wieder gehen.

Der Staatsanwalt erläuterte weiterhin, dass er mir dann eine Vorladung zukommen lassen würde und ich dann verpflichtet sei, zu kommen und auszusagen.

Dem Polizisten nehme ich ab, dass er wirklich keine Eskalation gewollt hat. Er wollte “den Drive” aus dem Gespräch nehmen und seine Ermittlungsgrundlage durch einen zusätzlichen Zeugen stärken. Den “Drive” hat aber vor allem der Herr Staatsanwalt in das Gespräch gebracht. Das kann die Staatsanwaltschaft als Herrin des Verfahrens tun. Nur die Mittel dazu sind unverhältnismäßig.

Hier wollen also Menschen Machtspiele spielen. Vor allem der Herr Staatsanwalt. Kraft seines Amtes. Man stellt sich zu zweit gegen einen. Und der Hinweis auf einen Rechtsbeistand ist eher niedlich. Erstens war ein Gespräch mit dem einzelnen Beamten angeregt. Eins zu eins. Zweitens kostet ein Rechtsbeistand immer Geld. Über das verfügt leider nicht jeder Mensch. Schon gar nicht für ein einfaches Gespräch bei der Polizei.

Ich muss gestehen. Ich bin entsetzt. So richtig. Ich stelle mir jetzt einen Menschen ohne Landtagsmandat vor, der in diese Situation gerät und nicht in der Lage ist, entsprechend zu kontern. Unfassbarer Tonfall. Drohgebärden. Mal ganz unabhängig von rechtlicher Beurteilung des Falls: Dieser Umgang ist systemimmanent. Wird ständig so gemacht.
Und. Geht. Gar Nicht!

Rechtlich schließt sich die Frage an, inwiefern ich nun zu einer Aussage gezwungen werden kann. Hier käme eventuell dies in Frage:

§ 53 I Nr. 4 StPO: “Zur Verweigerung des Zeugnisses sind ferner berechtigt Mitglieder des Deutschen Bundestages, der Bundesversammlung, des Europäischen Parlaments aus der Bundesrepublik Deutschland oder eines Landtages über Personen, die ihnen in ihrer Eigenschaft als Mitglieder dieser Organe oder denen sie in dieser Eigenschaft Tatsachen anvertraut haben, sowie über diese Tatsachen selbst.”

Also. Bring it on….

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Fotos der Freiheit statt Angst-Demo 2013

Am vergangenen Samstag fand in Berlin die diesjährige “Freiheit statt Angst”-Demo in Berlin statt. Dabei handelt es sich um eine überparteilicher Demonstration gegen Überwachungswahn und für unsere Bürgerrechte. Für Piraten quasi ein Pflichttermin. Aus Köln hatte ich einen Bus organisiert.

Das hat sehr viel Spaß gemacht, und ich freue mich schon auf das nächste Jahr.

Alle Fotos sind CC-BY-SA von mir, zusätzlich bitte einen Backlink zu meinem Blog oder zu dieser Seite. Höhere Auflösungen sind auch verfügbar.

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Haushaltsklausur 2013

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Themenübersicht 20. & 21. Wirtschaftsausschuss & Anhörung

Hallo liebe Leute,

im Rahmen des Wirtschaftsausschusses finden zwei Anhörung am 11.September 2013 im Landtag statt:

Fahrplan Breitbandausbau für Nordrhein-Westfalen

Antrag der Fraktion der PIRATEN

Drucksache 16/2280

– öffentliche Anhörung von Sachverständigen

Die Sitzung ist öffentlich, sie findet am Mittwoch, den 11.September 2013 ab 10:00 Uhr in Raum E3-D01 statt. Weitere Informationen zu der Anhörung findet man hier.

Im Anschluss findet zweite öffentliche Anhörung statt:

Landesregierung darf Kommunen bei Konversion und Strukturwandel nicht im Regen stehen lassen – Nordrhein-Westfalen braucht landesweites Programm für Konversion und Strukturwandel aus Mitteln der Europäischen Union!

Antrag der Fraktion der CDU

Drucksache 16/3205

– öffentliche Anhörung von Sachverständigen –

Die Sitzung ist auch öffentlich, sie findet am Mittwoch, den 11.September 2013 ab 13:00 Uhr in Raum E3-D01 statt. Weitere Informationen zu der Anhörung findet man hier.

Über Feedback / Input freue ich mich.

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Semesterticket: Preiserhöhung von über 40 Prozent muss verhindert werden

Piraten ziehen VRR-Pläne in den Landtag

Nächste Woche (19.09.13) wird sich im Landtag NRW der zuständige Ausschuss mit der anstehenden Preiserhöhung des Studententickets beschäftigen. Die Piratenfraktion hat diesen Tagesordnungspunkt im Ausschuss für Bauen, Wohnen, Stadtentwicklung und Verkehr beantragt.

Oliver Bayer, Abgeordneter der Piratenfraktion im Landtag NRW und Obmann im Verkehrsausschuss:

„Wieder einmal geistert eine aberwitzige Idee des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR) durch die Medien: Nachdem schon mal sämtliche Bahnhöfe mit Zugangsbarrieren ausgestattet werden sollten, sollen jetzt die Studenten über 40 Prozent mehr für ihr Semesterticket zahlen. Uns interessiert, was die Landesregierung von diesen Plänen weiß und inwieweit sie diese absurde Idee unterstützt. Wir erwarten, dass sich die Landesregierung klar positioniert. Weiterlesen ›

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Über Identifikation, Norm und Verantwortung (und Anzüge)

“We are not afraid. We do not obey.” ZSK – We will stop you

Gestern, noch so im Halbschlaf wagte ich einen provokativen Tweet:

“Männer in Anzügen sind mir zumeist suspekt. Symbol des kapitalistischen Systems. Fassade.”

Manchmal ist diese Twitter-Welt spannend. Ein Tweet und ihr habt den ganzen Sonntag diskutiert. Gern geschehen.

Es waren übrigens auch ganz viele spannende Ansätze dabei.

Im Grunde geht es um Normen. Mir ist suspekt, was eine Gesellschaft als “normal” oder “richtig” definiert. Die Anzugträger sind also nur ein mögliches Beispiel. Jemand mit blauen Haaren und tätowierten Armen wird wohl auch nicht als “Norm” angesehen, wenn er einen Anzug trägt.

Problematisch wird es, wenn Normen Eintritts- oder Ausschlusskriterium sind. Weil jemand bestimmte Kleidung tragen “muss”, um anerkannt zu werden. Wenn sie/er sich das nicht leisten kann. Dem “Anzugzwang” kann sich dann jemand in bestimmten Branchen erst entziehen, wenn sie/er relativ hoch gekommen ist in der Karriereleiter.
Bricht jemand dann noch die Regeln oder profitiert jemand dann von den Normen, so dass sie/er das Durchsetzen der Regeln eher fortführt gegen andere Menschen?

Wichtige Fragen, die sonst noch via Twitter diskutiert wurden:
Ist das Tragen bestimmter Kleidung auch Unterwerfungsgeste?
Ist eine “Uniform” eine Möglichkeit, sich individueller Verantwortung zu entziehen?

Wenn ich einen bestimmten Dresscode für mich annehme, werde ich zudem in der Öffentlichkeit bei einer zufälligen Begegnung mit Menschen, die mich nicht kennen, einer bestimmten Gruppierung zugeordnet.

Problematisch wird es m.E. (und das übrigens auch bei Piraten), wenn irgendwelche Normen (manchmal nicht einmal ausformulierte) mit zum Teil erschreckender Brutalität durchgesetzt werden sollen. Ich bin nicht sicher, ob es bei Parteien oder Gruppierungen dabei manchmal auch um sowas wie Überidentifikation geht (gerade jetzt so kurz vor den Wahlen scheint das schlimmer). Mir machen aber auch Fahnenmeere auf Demos Angst. Sowas ist mir auch suspekt.

Das mit dem Kapitalismus und dem Patriarchat lasse ich an der Stelle jetzt mal weg, aber auch da gibt es Mechanismen, um Normen durchzusetzen und Macht zu erhalten. Und manchmal hat das auch mit Kleidung zu tun….

So. Weitermachen!

(Danke an Prof. Dr. Melanie Groß (www.twitter.com/melanie_gross), die großartige Vorträge hält, zum Beispiel über “Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit” etc., deren Aussagen mich bei diesem Text auch beeinflusst haben.)

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“Wenn wir uns erst mal einig sind…”

(Ton Steine Scherben – Allein machen sie dich ein.)

Oder: Die Vernetzung “der linken Szene”

Ich will das jetzt gar nicht so ideologisch angehen. Es gibt viele dem linken Spektrum zugehörige Gruppen von Menschen, bei denen ich im besten Fall davon ausgehe, dass sie zumindest einen groben Grundkonsens haben bezüglich einer Vielfalt von Themen. Gegen Rassismus. Gegen Faschismus. Gegen Sexismus. Gegen Kapitalismus. Keine Diskussion. (Mist. Da geht es schon los…)

Ein Freund von mir war eine Weile in der Türkei. Wir diskutieren ab und an über seine Erfahrungen dort. Auch dort gibt es Gruppierungen, die sich nicht in allen Punkten einig sind, aber der Grundkonsens in den “wichtigen” Fragen scheint eher gegeben als bei uns in Deutschland.

Warum ist das so? Sind unsere Probleme “zu gering”?
Haben wir uns zu gut eingerichtet in “unserem System”? In unserer Peergroup?
Ich persönlich stoße mich zum Beispiel oft an elitären Strukturen oder elitärer Sprache (und laufe selber auch in die Falle und schließe dann Menschen aus).
(Ich war letztens bei einem “Bewerbungsgespräch” bei einer anarchistischen Gruppe. Das fand ich zwar aufgrund meines Jobs irgendwie nachvollziehbar, aber im Kern auch etwas absurd ;) )

Ich bin nicht so naiv, zu glauben, dass man alle “Volksfronten von Judäa” mit den “Judäischen Volksfronten” vereinigen kann. Ich verstehe, dass es Bereiche gibt, in denen man keine Kompromisse machen will. Trotzdem könnten wir mal diskutieren, ob “wir” sowas wie einen Grundkonsens finden, der “uns” größer, stärker, vernetzter machen könnte…

Weil die Probleme im Land und auch weiter betrachtet, global, so groß sind und werden, dass wir uns die ganze Spaltung vielleicht auch gar nicht mehr erlauben können…

Ich habe für mich persönlich die Erfahrung gemacht, dass viele Menschen aus der linken, antifaschistischen, feministischen Szene Inspiration sind für mich. Rückhalt. Ansporn. Freunde. Und dabei haben gerade auch kontrovers, aber respektvoll geführte Diskurse mich oft weitergebracht. Manchmal auch radikaler gemacht…

Ich glaube daran, dass es Werte gibt, die uns einen.
(Und mit mehr Pathos:
“Obwohl wir uns nie ganz einig sind, gibt es nichts, was uns auseinander bringt…”
ZSK – Der richtige Weg)

Vielleicht mal bei einem Getränk diskutieren?

(Die Diskussion entstand via Twitter mit einigen Menschen. Unter Anderem mit www.twitter.com/amzdo und www.twitter.com/telegehirn
www.twitter.com/schwarzerhundbo Wir haben überlegt, ob man daraus nicht ein Treffen/eine Veranstaltung (im Ruhrgebiet) machen könnte.)

(Interesse? Rahmen, Größe, Ortsvorschläge?)
Spontan hatte ich ans AZ Mülheim gedacht…

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Simone Brand spricht in Bochum über Opel und Lebensmittelüberwachung

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Big Money, Big Data, Big Media

Das Totalversagen des Neoliberalismus

…. besser spät als nie – hier nun die Replik auf einen Beitrag von Christian Lindner aus der FAZ vom 14. August 2013, S. 25 – Wahlkämpfe sind sehr gute Gelegenheiten, deutlich zu werden ….

Zeitlich eingerahmt von Grünen, die uns dieser Tage mit nervigem Ökocalvinismus und vegetarischem Genuss per Dekret das Real-Life freudloser gestalten und die Selbstbestimmung darüber, wann wir fleischlos essen, einschränken wollen, und britischen Geheimdienstmitarbeitern, die in einem schlecht inszenierten post-dadaistischen Pseudo-Kunstevent im Keller der Redaktionsräume des Guardian Journalisten dazu nötigen, irgendwelche Festplatten zu zerstören – und flankiert durch den eigentlichen Skandal, nämlich den des Nicht-Aufschreis der freien Journalisten dieser Welt – macht sich Christian Lindner (FDP) Gedanken zu einer „Ordnung für den Datenmarkt“ (FAZ, 14.08.2013, S. 25).

Mit den ihm eigenen flotten Sprüchen bedient er stramm auf der Oberfläche surfend das latente gesellschaftliche Unbehagen über Datensammlung, Datenschnüffelei und Datenmissbrauch staatlicher und kommerzieller Stellen, um seine Partei in das Image einer Pole-Position beim Kampf um Bürgerrechte und Netzpolitik zu hieven. Dabei verharrt er jedoch analytisch in den Positionen eines Liberalismus, der sich kognitiv immun gegenüber den letzten 150 Jahren moderner Gesellschaftsanalyse und -kritik gezeigt hat.

Völlig korrekt nimmt er zunächst Bezug auf die Metapher der Bundeskanzlerin, unterschlägt oder übersieht jedoch die tiefere Implikation des Begriffs vom Neuland, nämlich das versteckte Eingeständnis der Politik, dass die politische Sphäre der technisch-ökonomischen hoffnungslos hinterher läuft – und das bereits seit Jahrzehnten. Passend dazu bleibt das neoliberale Freiheits- und Wettbewerbs-Credo in der Verdinglichung einer standortgebundenen Wahrnehmung stecken.

Indem Lindner den Strukturwandel der Gesellschaft an der „Digitalisierung aller Lebensbereiche“ festmacht, legt er eben nicht den Fokus der Betrachtung auf die zentraleren Änderungen: den Trend von einer Real-Wirtschaft zu einer virtuellen Ökonomie des sog. Finanzmarktkapitalismus, der durch seine Anlagestrategien und Profitraten-Erwartungen die Aushöhlung des realwirtschaftlichen Bereichs verursacht und befeuert. Wertschöpfung findet nach wie vor in der (realen) Wirtschaft statt, diese hat die Anlagenerwartungen gefälligst zu erfüllen, die Abschöpfung jedoch erfolgt im Bankenbereich.

Dieser Trend beginnt in den USA nicht mit dem wirtschaftlichen Durchbruch des Internet, sondern bereits ein Jahrzehnt zuvor mit der aggressiven Steuersenkungspolitik der „Reaganomics“ 1981. Der erste große sog. Netscape-Aktienpeak folgte erst 1994.

Bevor Lindner in den betriebswirtschaftlichen Bezügen seines Denkens die Ökonomisierung aller Lebensbereiche mit „Digitalisierung“ glaubt beschreiben zu müssen, sollte er besser der Frage nachgehen, wie bei einer umgekippten Pyramide globaler Liquidität, in der der Derivatemarkt 855% des Weltsozialproduktes ausmacht, auch nur ein Prozent Rendite als Kostenanteil auf das reale Weltsozialprodukt durchschlägt.

Die „digitale Unordnung“ und ihr Wildwuchs können – mindestens ebenso schlüssig – auch als sekundär und dem „Terror der Ökonomie“, der anarchischen Produktionsweise folgend interpretiert werden. Unter Berücksichtigung historischer Kenntnisse kann die gegenwärtige sog. Finanzmarktkrise auch als dritte große Depression eingeordnet werden. Wenn Regierungen in einer Mischung von Dilettantismus und Komplizenschaft sich von Banken haben erpressen lassen („too big to fail“), ist das nur die eine Seite einer sonderbaren Situation, in der inzwischen „die kleinen Leute“ im Verbund mit der Realwirtschaft für die Casino-Schulden von „denen da oben“ zahlen. Und die amerikanische Immobilienpolitik der Nuller-Jahre, „Eigenheim ohne Eigenkapital“, war auch nur der Versuch, die vorgelagerte unbefriedigende Verteilungsfrage zu kaschieren.

Schon an diesem Punkt wird deutlich: Lindner hätte hier aufhören sollen zu googeln, um statt dessen lieber die richtigen Fragen zu stellen. Doch dies setzt noch etwas mehr als die Absolvierung eines ökonomischen Alphabetisierungsprogrammes und die Beherrschung der Grundrechenarten voraus. Es ist vielmehr Ausdruck eines politischen Totalversagens, den Blick genau dann abzuwenden und ebenso wie sein Parteifreund Wirtschaftsminister Rösler ökonomisch-marktautistisch auf die fiktionale technologische Überlegenheit innovativer Start-Ups und den Wettbewerb zu richten. Zugegeben, es ist richtig, dass die kleinen Schnellen den großen Langsamen etwas voraus haben, gar etwas abringen können. Nur sind die Großen im Digital Business, Google, Amazon, Facebook & Co, eben schnelle Große mit zudem wohl gefüllten Kriegskassen. Der vollzogene Kauf von Youtube durch Google ist hier nur ein Beispiel unter vielen. Darüber hinaus steht es den schnellen Großen praktisch frei, jederzeit und je nach Gusto die nationalstaatlichen Grenzen politischer Regelungen zu überschreiten.

Und es ist auch ein Ausdruck einer demokratischen Betriebsblindheit, nicht zu sehen, was eigentlich durch die aktuellen Ereignisse um PRISM und TEMPORA und den Selbstverrat der westlichen Demokratien deutlich wird, nämlich dass wirkliche demokratische Gesellschaften das Moment der Sicherheit als Organisationsstruktur und -inhalt in sich selbst tragen müssen. Die Lektüre von Frantz Fanon, der im letzten Jahrhundert vor den gesellschaftlichen Ursachen des Terrors warnte, oder auch etwa von Gandhi, der darauf hinwies, dass diese Gesellschaft reich genug ist, um die Bedürfnisse aller, aber nicht die Gier vieler zu befriedigen, wäre hier sicher hilfreicher gewesen. Wer den Menschen identitätsstiftende Lebensverhältnisse verwehrt, muss sich nicht über unerwünschte Reaktionen wundern.

Bei Richard Sennett in „Verfall und Ende des öffentlichen Lebens“ und „Der flexible Mensch“ finden sich kluge Überlegungen über das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit. Lindner und mit ihm die gesamte FDP, die im Bund in Regierungsverantwortung steht, weichen der grundlegenden zentralen Frage aus: “Welche menschlichen Folgen hat die politische Ökonomie, in der wir leben?“ Hier nur die oberflächliche Veränderung im Bereich von Informations-, Transport- und Produktionstechnologien zu sehen, geht am eigentlichen Kern der Sache vorbei: Die tatsächlichen psychologischen und gesellschaftlichen Auswirkungen zeigen sich vielmehr daran, wie Institutionen organisiert sind und wie die Menschen in ihnen leben. Und wenn Arbeitsplatz, Sozialstaat und Gemeinschaftsleben als Bezugsrahmen einem immer rascheren Wandel unterworfen sind, Ursachen sich kaum noch Wirkungen zuordnen lassen, Absichten und Vorhaben sich in einem Netz von Unwägbarkeiten und Zufälligkeiten verlieren, über die Einzelne und Gruppen immer weniger Kontrolle haben, müssen die Fragen aufgeworfen werden „Wie sozial sind eigentlich soziale Netzwerke, wie demokratisch ist unsere Demokratie?“

Jeder, der den Durchmarsch der Geheimdienste nicht sieht und auch blind ist für neue Gefahren, wie etwa die Schieds- und Geheimgerichte des geplanten Freihandelsabkommens zwischen den USA und Europa („Transatlantic Trade and Investment Partnership“ / TTIP), muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ein naiver Lobbyist der Marktgesellschaft zu sein. In einem taz-Interview hat Ulrich Beck jüngst die sich nationalstaatlicher Regelung entziehende globale Bedrohung benannt: „Wir haben eine laufende Revolution der IT-Branche und der Kommunikationsmedien in Kooperation mit dem militärisch-industriellen Komplex, die permanent die Grund- und Freiheitsrechte relativiert, aushöhlt oder aufhebt.“ Politiker, die die Tragweite dieser Entwicklungen nicht erkennen und anerkennen, die stillschweigend zusehen, wie die EU verwanzt und ihre Bürger ausgeforscht werden, können die noch aufwachen?

Wir haben uns daran gewöhnt, seit die Statistik in unseren Alltag quasi flächendeckend eingeführt worden ist, unser kausales Denken durch die Beobachtung von Korrelationen zu ersetzen. Die Ursachen für diese entdeckten Wahrscheinlichkeiten sind dabei von sekundärem Interesse. Dieser „Logik“ haben sich Geheimdienste mit ihrer Rasterfahndung und Datensammelwut verschrieben. Peter Moeschl hat in einem Standard-Beitrag „Die schöne, neue Verschwörungswelt der NSA“ auf die Folgen einer von Kausalitätsvorstellungen „entlasteten“, statistischen Weltsicht aufmerksam gemacht: „die computergestützte Projektion eines Weltbildes, in der es nur gute Konformisten und böse (konspirative) Nonkonformisten gibt … ein neues, ein institutionalisiertes Verschwörungsdenken der höheren Art, das vorauseilend die Welt beurteilt und bewertet.“

In der aktuellen Auseinandersetzung um informationelle Selbstbestimmung und eine demokratische Datenpolitik erweist sich der Parteiliberalismus der Bundesrepublik – sieht man von singulären Erscheinungen einer Frau Leuthäuser-Schnarrenberger oder eines Herrn Baum einmal ab – nicht als Lobby für Aufklärung und Mündigkeit. Der von Herrn Lindner als Lösung ins Feld geführte Neoliberalismus kann daher nicht die Antwort auf Big Money und Big Data sein, er ist vielmehr Teil des Problems, eines Problems, das nicht mehr auf nationalstaatlicher Ebene gelöst werden kann und wird.

Joachim Paul ist Fraktionsvorsitzender der Piratenfraktion im Landtag von Nordrhein-Westfalen.

ps.: Mehr und Tieferes zur Krise des Denkens, auch jenseits der Politik findet sich hier.

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