Joachim Paul zur Gestaltung des digitalen Wandels in Nordrhein-Westfalen

Donnerstag, 29. Januar 2015

 

TOP 1. Regierungserklärung

Gestaltung des digitalen Wandels in Nordrhein-Westfalen

in Verbindung damit

Schnelles Netz für Alle:  Europäische Kostensenkungsrichtlinie konstruktiv begleiten
Antrag der Fraktion der CDU
Drucksache 16/7771

in Verbindung damit

Die Digitale Zukunft   Nordrhein-Westfalens benötigt ein eigenes „Internetministerium“ sowie einen   „Internetausschuss“
Antrag der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/7773

direkte   Abstimmung
MdL Joachim Paul Foto A.Knipschild  Redner: Joachim Paul
Abstimmungsempfehlung: Zustimmung
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Komplette Debatte:

Alle drei Reden im PDF-Download

Wortprotokoll der Rede von Joachim Paul:

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Liebe Zuschauer! Liebe Frau Ministerpräsidentin! Liebe Landesregierung! „MegaBits. MegaHerz. MegaStark“. SuperGeil. Gestern Abend um exakt 21:29 Uhr erhielt ich eine E-Mail, dass in wenigen Minuten ein reitender Bote der Landesregierung den Text der Regierungserklärung an der Pforte des Landtags abgeben wird – auf Papier, auf totem Holz.

(Zuruf von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft)

Digitale Revolution!

(Zuruf von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft)

Geil! – „Das Internet wird verschwinden“, das sagte Eric Schmidt, ehemaliger Chef und aktueller Chairman von Google, kürzlich auf dem World Economic Forum in Davos. Allerdings rief Schmidt mit diesem Satz nicht das Ende des Internets aus, sondern deutete damit auf eine Zukunft, in der das Internet ganz selbstverständlich sein werde, in der die Grenze zwischen digitalem und analogem Raum verschwinde. Das nennen wir das „Internet der Dinge“.

Sie, liebe Landesregierung, haben das „Internet der Dinge“ nun entdeckt. Diese Erkenntnis steckt wohl hinter Ihrem Vorstoß, die Digitalisierung zum künftigen Schwerpunkt der Regierungsarbeit zu machen. Doch sosehr wir Piraten das begrüßen, so sehr zeugt Ihr Vorstoß doch von einer gewissen Unkenntnis, von Naivität und mitunter sogar von Fahrlässigkeit. Wir Piraten gehen nicht ins Internet, wir sind Teil des Internets, wir gestalten es mit.

(Beifall von den PIRATEN)

Doch von einem Gestaltungsanspruch ist in Ihrer sogenannten Digitalen Agenda leider nicht viel zu spüren. Wir würden Sie dabei ja gern unterstützen, aber Sie lassen sich ja nicht helfen. Eine lose Zusammenstellung von Politikfeldern mit einem „smart“ davor und einem „4.0“ dahinter, eingepackt in diese Präfix-Anapher, die drei MEGAperls – das ist noch keine Strategie.

Sie denken das Digitale bestenfalls als Geschäftsmodell und als Möglichkeit, den Standort voranzubringen.

Und wo denken Sie über das Lebensmodell der Menschen in NRW nach? – Sie haben noch nicht verinnerlicht, dass wir an der Schwelle zu einer neuen Gesellschaft stehen. Das Digitale macht nicht einfach das Analoge hübsch. Das Digitale betrifft unser Leben in umfassendster Weise.

Die Aufgabe muss es sein, das Internet in die Politik und die Politik ins Internet zu bringen. Wenn wir Piraten von Netzpolitik sprechen, dann denken wir nicht nur an Breitbandausbau und Freifunk, sondern meinen damit die Blickwinkel, aus denen wir die Welt und die Gesellschaft betrachten.

Diese Blickwinkel sucht man vergeblich in Ihren digitalen Schwerpunkten. Zwei Beispiele:

Die Bundeszentrale für politische Bildung rief jüngst zu einer „Neuen Ethik für das Internet der Dinge“ auf und will damit eine breite gesellschaftliche Debatte befördern. Die Antwort der Landesregierung: ein Wettbewerb namens „App in die Mitte“.

Der Vorstandsvorsitzende der Daimler AG, Dieter Zetsche, spricht von der Serienreife des autonom fahrenden Automobils und bittet die Politik um ethische und rechtliche Rahmenbedingungen. Antwort der Landesregierung: Sie stellt LED-Leinwände an Autobahnen auf.

Herr Minister Groschek, ich habe gestern mit Interesse vernommen, dass Sie die A40 zur Teststrecke für autonom fahrende Automobile freigeben wollen. Ich glaube allerdings, Sie haben da etwas noch nicht so richtig verstanden. Es geht ums autonome Fahren und nicht ums autonome Stehen!

(Beifall von den PIRATEN, der FDP und Hendrik Wüst [CDU])

Mit der Einführung des Internetprotokolls Version 6 können 340 Sextillionen Adressen vergeben werden. Beeindruckend, oder? Wissen Sie, was es bedeutet, wenn nun auch die Dinge miteinander kommunizieren?

Frau Ministerpräsidentin, ganz ehrlich, ich erwarte keine mathematischen Hochrechnungen von Ihnen. Ich möchte nur wissen, ob Sie auf eine Welt vorbereitet sind, in der Autos mit Versicherungen kommunizieren oder Social-Media-Konzerne heimlich gemütsmanipulierende Experimente mit Ihnen durchführen, ohne Sie darüber zu informieren.

(Vorsitz: Vizepräsident Dr. Gerhard Papke)

Eine Regierungserklärung soll Antworten liefern. Aber welche Frage haben Sie sich eigentlich gestellt? – Sie kleben Etiketten auf leere Tüten. Supergeil.

(Heiterkeit von den PIRATEN)

Sie hängen der Zukunft hinterher, anstatt sie zu gestalten. Sie wollen NRW als Heimat in der digitalen Welt darstellen. Ich folge lieber dem Spruch, den ich auf einem T-Shirt eines jungen Mannes gelesen habe: „Home is, where your wifi connects automatically“.

(Beifall von den PIRATEN)

Ihr Versuch, die digitale Revolution durch ein analoges Heimatverständnis einzugrenzen, macht deutlich, wie wenig Ihnen die Tragweite und die Auswirkungen der Digitalisierung bewusst sind.

Stattdessen lassen sie uns mit Gunter Dueck über das Internet, die Bildung und die Zukunft der Arbeit in einer vernetzten Welt nachdenken. Lassen Sie uns mit Jeremy Rifkin über seine Theorie der Nullgrenzkostengesellschaft diskutieren. Und lassen Sie uns mit Jaron Lanier über sein Konzept einer nachhaltigen Informationsökonomie debattieren. Das wären zumindest Ansätze.

Eine der spürbarsten Auswirkungen der Digitalisierung ist die fortschreitende Automatisierung der Arbeit. Das klang ja heute schon an. Sie wird hunderttausendfach Jobs kosten – und gleichzeitig neue generieren können. Dazu braucht es politische Antworten – und zwar tschakka!

Meine Damen und Herren, Nordrhein-Westfalen hat schon einmal darunter gelitten, dass die Zeichen der Zeit zu spät erkannt wurden. Viel zu lange hat man in der Vergangenheit das tote Pferd der Kohleförderung geritten. Rahmenbedingungen müssen geschaffen werden, unter denen sich digitaler Wandel zum größtmöglichen gesamtgesellschaftlichen Nutzen vollzieht:

1. die Schaffung einer entsprechenden Infrastruktur,

2. eine gesetzliche Sicherstellung der informationellen Selbstbestimmung,

3. eine gleichberechtigte Sicherung der digitalen Teilhabe aller Menschen und

4. eine verbesserte Transparenz von politischen Prozessen.

Das geht nur aus einer Hand, unter einem Dach, in einem eigenen Internetministerium.

(Beifall von den PIRATEN)

Was für Finnland gut ist, kann für Nordrhein-Westfalen nicht schlecht sein. Nur ein Internetministerium kann alle politischen Handlungsfelder thematisch so bündeln, dass die digitale Daseinsvorsorge sichergestellt werden kann. Zur Daseinsvorsorge für die Menschen und für das Land müssen allerdings auch ausreichende Investitionsmittel bereitgestellt werden. Derzeit werden die Themen in einer Vielzahl von Landesministerien behandelt – und im schlimmsten Fall eben auch gar nicht. Supergeil.

Zentrale Forderung einer digitalen Daseinsvorsorge ist der flächendeckende Zugang zum Breitbandnetz. Nur so können alle Bürger Nordrhein-Westfalens an der modernen Wissens- und Informationsgesellschaft teilhaben.

Die BREKO Breitbandstudie 2014 hat herausgefunden: Breitbandzugang ist Standortfaktor Nummer eins – vor Strompreisen, Verkehrsanbindung sowie Gewerbe- und Grundsteuer. Der Breitbandzugang spielt eine Schlüsselrolle bei dem Ausbau von Wohlstand und Teilhabe in Nordrhein-Westfalen. Eine digitale Spaltung in städtische und ländliche Regionen muss verhindert werden. Denn das kann sich ein Flächenland wie Nordrhein-Westfalen nicht leisten.

(Beifall von den PIRATEN)

Lassen Sie mich aufzeigen, wie fahrlässig die Landesregierung mit diesem wichtigen Thema umgeht: In unserem ersten Antrag zur Breitbandpolitik haben wir die Landesregierung gefragt: Wie wollen Sie eigentlich das Ziel erreichen, Internet mit 50 Mbit/s flächendeckend bis 2018 zu garantieren? Stellen Sie die notwendigen Mittel zur Verfügung, oder sind das nur Sonntagsreden? Vor zwei Jahren haben wir Ihnen die Frage gestellt. Weder konnten Sie sie bis heute beantworten noch können Sie glaubhaft vermitteln, wie dies in Zukunft geschehen soll.

Sie haben den Kopf jetzt zwei Jahre in den Sand gesteckt und hoffen darauf, dass Geld und Impulse vom Bund kommen. Von den drei Hütchenspielern der Internet-Tankstelle: Gabrindt, Dobriel und de Maiziere. Supergeil.

(Beifall von den PIRATEN)

Im Oberbergischen Kreis kann nur jeder zweite Haushalt auf bis zu 16 Mbit/s zugreifen, was aber nur bedeutet, dass er etwas mehr als 6 Mbits/s erhält. Im Kreis Heinsberg sieht es nicht viel besser aus. Aber ich bin mir sicher, die Kohle- und Kupferkabel-Landesregierung wird im ländlichen Raum kein Modem zurücklassen.

(Beifall von den PIRATEN)

Die Landesregierung verharrt offensichtlich in der Hoffnung, dass irgendwer schon Verantwortung übernehmen und den Netzzugang im ländlichen Gebiet sicherstellen wird. Ein wenig Glück haben Sie, Frau Kraft, ja schon: Funkfrequenzen. Supergeil.

Wir fordern die Landesregierung auf, sicherzustellen, dass die erwarteten Fördermittel aus der Funkfrequenzversteigerung nicht allein großen Telekommunikationsunternehmen, sondern auch kommunalen Unternehmen zugutekommen, die nachhaltige Glasfaseranschlüsse planen und ausbauen.

Und jetzt ein Lob: Ich hatte vorhin ein klares Bekenntnis zur Netzneutralität gehört. Super! Wir werden das im Blick behalten.

(Beifall von den PIRATEN – Zuruf von den PIRATEN: Supergeil!)

Den Kernpunkt der Breitbandpolitik hat die Kohle- und Kupferkabelregierung noch gar nicht auf dem Schirm; denn Branchenkenner erwarten, dass im Jahr 2020 durchschnittliche Bandbreiten von 200 Mbit/s im Down- und 120 Mbit/s im Upstream nachgefragt werden. Die Landesregierung hat nur einen Zeithorizont bis 2018 und setzt dabei auf den heutigen Technologiestandard Kupfer. Dabei sind die auf Kuper basierenden Technologien in einigen Jahren schon wieder völlig veraltet.

Das derzeitige kupferbasierte Breitbandnetz ist Lichtjahre davon entfernt, diese Leistung zu erbringen. Deswegen fordern wir den Sprung in den Gigabitbereich. Glasfaser statt Kupfer, Giga statt Mega. Supergeil.

(Beifall von den PIRATEN)

Wir fordern die Landesregierung auf, einen Fahrplan „Glasfaserausbau“ zu erarbeiten, der mit konkreten Schritten festlegt, wie die Mehrheit der Haushalte und Unternehmen mit Glasfaser – oder zumindest den Leerrohren – bis ins Jahr 2020 und einer flächendeckenden Glasfaserinfrastruktur bis 2025 aufgebaut wird.

Wir bitten Sie: Seien Sie mutig. Lassen Sie uns das erste Bundesland sein, das eine flächendeckende Glasfaserinfrastruktur anbietet!

(Beifall von den PIRATEN)

Wenn wir jetzt planen und Synergien mit anderen Infrastrukturträgern nutzen, also Kanalsysteme, Straßen, Schienen oder Strommasten einbeziehen, ist der Glasfaserausbau realistisch zu stemmen. Das wäre wirklich „smart“, Frau Kraft.

Ist die nordrhein-westfälische Wirtschaft gut aufgestellt für die digitale Zukunft? Wer mit einem Einzelhändler oder einem Presseverleger redet, der weiß, wie stark die Umbruchskraft der Digitalisierung bereits jetzt ist. Und das ist erst der Anfang.

Experten prognostizieren, dass die Hälfte der Arbeitsplätze durch eine fortschreitende Digitalisierung gefährdet ist. Die Industrialisierung hat für eine Automatisierung der Muskelkraft gesorgt. Die Digitalisierung wird mit ihren Algorithmen weite Teile der Kopfarbeit automatisieren. Herr Laschet sagte es: Das Oxford-Papier von Osborne und Frey sagt: In den nächsten beiden Dekaden sind 47 % aller Jobs durch Digitalisierung und Robotisierung vom Wegfall bedroht. Mit über 90 % Wahrscheinlichkeit müssen Immobilienmakler, Sachbearbeiter, Köche oder Packer um ihre Jobs fürchten.

Was erzählen Sie diesen Menschen, Frau Kraft? Ist unsere Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik darauf vorbereitet? Und was ist mit unserer Sozialpolitik, die sich stark am Haben oder Nichthaben von Arbeit orientiert?

Seit langer Zeit ist die Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet viel zu hoch. Wir können nicht zulassen, dass sich die Zahl der abgehängten Personen weiter erhöht. Weniger als die Hälfte aller Kleinunternehmer und Selbstständigen glaubt, im Hinblick auf die Digitalisierung ihres Geschäfts gut aufgestellt zu sein.

Auch unsere traditionsreichen Mittelständler müssen aufpassen, nicht von einer sogenannten disruptiven Innovation überrascht zu werden, also einem neuen Produkt, das das Geschäftsmodell einer ganzen Branche von heute auf morgen auf den Kopf stellt. Generell gilt: Eher wird Google die Autobranche revolutionieren, als dass ein deutscher Autokonzern zum führenden Suchmaschinenbetreiber aufsteigt.

(Beifall von den PIRATEN)

Die Landesregierung setzt auf das Schlagwort „Industrie 4.0“. Supergeil. Gemeint ist damit die umfassende Vernetzung und Digitalisierung der Produktion. Darüber wird in Deutschland viel geredet, aber wenig gemacht. Dabei ist das sogenannte Internet der Dinge alles andere als unkritisch zu sehen.

Wenn nicht nur alle Produktions- und Arbeitsschritte, sondern auch alle Haushaltsgeräte Sensoren besitzen und sich untereinander austauschen, fallen große Mengen an sensiblen Daten an. Und nicht erst seit Google wissen wir: Mit Daten lässt sich Geld verdienen. – Es ist also von großer Wichtigkeit, dass wir klare Datenschutz- und Datensicherheitsstandards einführen. Denn dahinter verbergen sich gesellschaftliche Fragen: Haben wir noch die Souveränität über unsere Daten? Und wer darf unsere Daten nutzen?

Die Souveränität über die Verwertung der persönlichen Daten darf dem Bürger nicht entzogen werden. Eine entscheidende 4.0-Frage ist die nach der Energieversorgung. Wir Piraten setzen auf dezentrale Energieversorgung; das Wuppertal Institut übrigens auch. Dafür brauchen wir intelligente Netze – Netze, in denen Erzeugungsanlagen, Verbraucher und Speicher miteinander kommunizieren können. Es ist heute die Aufgabe der Politik, nicht auch noch den gläsernen Stromkunden Wirklichkeit werden zu lassen. All das sind Herausforderungen, die von der Landespolitik angegangen werden müssen.

Die digitale Revolution ist keine Kreisgebietsreform.

Die Landesregierung führt an, sie wolle 640 Millionen € an Fördermitteln für innovative Projekte ausgeben. Eine imposante Zahl! Aber: Gestreckt bis 2020 wird’s doch recht überschaubar. Berücksichtigt man, dass die Landesregierung einfach nur europäische Fördermittel durchleitet, dann muss man zu dem Schluss kommen: Ihre Innovationskraft ist die einer mittleren Verwaltungsbehörde. – Das ist keine wirkliche Eigenleistung.

(Beifall von den PIRATEN)

Immerhin sprechen Sie die Bedeutung von Datensicherheit an. Digitale Kommunikation, digitale Daten sind ein großer Wirtschaftsfaktor. Das Vertrauen in die Sicherheit, in die Integrität und den Datenschutz ist daher zu einem gesellschaftlichen Wert geworden. Das erkennt auch die Landesregierung an und möchte „Cybersicherheit“ fördern.

Was sich gut anhört, ist aber paradox: Die milliardenschweren Ausspähprogramme der Amerikaner und Engländer, die das Ziel haben, jede Kommunikation mitzulesen und jedes Netzwerk zu knacken, sind die größte Bedrohung für das Vertrauen in digitale Kommunikation. Der BND kooperiert in noch ungeklärtem Ausmaß mit den genannten Diensten. Und wer sabotiert die Aufklärung dieser Geheimdienstaffäre? Die aktuelle Große Koalition auf Bundesebene!

Da ist es – ich bitte um Verständnis – nicht wirklich glaubwürdig, wenn Frau Kraft nun ausgerechnet auf Cybersicherheit setzt. Das beste Rezept gegen den Vertrauensverlust ist der Einsatz von sogenannter quelloffener Software. Open-Source-Projekte sollten Sie also fördern und den Menschen, Unternehmen und Behörden zur Verfügung stellen und keine universitären Auftragsarbeiten für die Industrie vorantreiben.

Die Unternehmen in Nordrhein-Westfalen sind verunsichert über das Ausmaß der Wirtschaftsspionage und fragen nach möglichen Schutzmaßnahmen. Das war im Übrigen vor einem Jahr noch nicht auf ihrer Agenda. Wir hatten einen Antrag geschrieben und eine Anhörung zu dem Thema gefordert. Das Wichtigste ist, dass wir die Bürger in die Lage versetzen, an einer modernen Informations- und Wissensgesellschaft teilnehmen zu können.

Die erfolgreiche Bewältigung der digitalen Revolution wird dezentral von den Bürgern ausgehen, die in der Lage sind, die Chancen einer globalen, digital vernetzten Welt auch zu nutzen.

(Beifall von den PIRATEN)

Aber, liebe Frau Kraft, wenn Sie von NRW 4.0 sprechen, dann meinen Sie digitale Stauschilder. Wir Piraten sprechen aber von der Digitalisierung all unserer Lebensräume, von den eigenen vier Wänden bis hin zur öffentlichen Infrastruktur wie dem öffentlichen Nahverkehr oder der Wasserversorgung.

Smarte Wirtschaft, smarte Arbeit, smarte Verwaltungen – das sind die Begriffe, die Sie prägen wollen. Supergeil.

(Beifall von den PIRATEN)

Dass für diese Schlagworte viele, viele Daten von nordrhein-westfälischen Konsumenten, Arbeitnehmern und Bürgern gesammelt und noch verarbeitet werden müssen, haben Sie noch nicht wahrgenommen. Wir Piraten sagen Ihnen: Der Schutz der Privatheit ist ein, wenn nicht das zentrale Thema der digitalen Revolution.

(Beifall von den PIRATEN)

Sie sprechen beispielsweise von der smarten Dienstleistung und von der Innenstadt als einen begehbaren Onlineshop. Gehen Sie doch heute einmal auf die Website eines Onlineshops wie Amazon! Sie werden schnell feststellen, wie viele Tracker-Programme dabei Ihr Surfverhalten analysieren. Das sind oftmals zehn, 20 verschiedene Firmen, die verfolgen, welche Produkte Sie sich anschauen, welchen Geschmack Sie haben, was Sie kaufen.

Die Firmen wollen am liebsten eine 360-Grad-Sicht auf ihre Kunden haben. Und in Ihrem begehbaren Onlineshop in der Innenstadt werden Sie diese 360-Grad-Sicht auch erreichen. Anstelle von unsichtbaren Programmen sind es dann unsichtbare WLAN-Tracker der Smartphones, RFID-Chips in der Ware oder die softwaregestützte Videoüberwachung. Diese Überwachungssysteme folgen Ihnen dann wie Spione durch die Innenstadt.

In Ihrer Wahrnehmung, Frau Ministerpräsidentin, scheint die Stadt ein Urban Entertainment Center zu sein, eine Aneinanderreihung endloser Geschäfts- und Einkaufsstraßen. Wo bleibt zukünftig Raum für Begegnungsstätten und öffentliche Plätze, für einen zwanglosen, unbeobachteten und freien Umgang miteinander?

Oder, Frau Löhrmann, stellen Sie sich einmal vor, Sie gehen nach einem harten Arbeitstag durch Ihren Lieblingssupermarkt in Solingen. Stellen Sie sich weiterhin vor, der Supermarktbetreiber und 20 andere Firmen würden dabei erfassen, wie Sie zielstrebig nach der Bio-Schokolade greifen. Ihr Supermarkt schlussfolgert aufgrund Ihres Bewegungsprofils und der Videoaufnahmen, dass Sie an diesem Tag wieder einmal von Ihrem Koalitionspartner oder gar von Piraten geärgert wurden, dass Sie deshalb unbedingt Schokolade brauchen und dass der Supermarkt Ihnen diese heute ruhig für zehn Cent mehr verkaufen kann.

Solche Systeme, Frau Löhrmann, gibt es dann nicht nur im Supermarkt, sondern in der ganzen Innenstadt. Überall werden Sie durchsichtig gemacht. Wir wollen aber keine gläserne Gesellschaft!

(Beifall von den PIRATEN)

Stichwort Datenvermeidung: Welche Lösung verarbeitet am wenigsten persönliche Daten? Stichwort Dezentralität: Gibt es dezentrale Alternativen zu zentral gespeicherten Datenbergen? Stichwort Privacy by Default: Welche Konfiguration ist die schonendste für die Rechte unserer Bürger?

Frau Ministerpräsidentin, Sie sprachen von Datensicherheit in Ihrer Rede. Sie wollen die Spitzenforschung in diesem Feld in NRW fördern. Supergeil. Entschuldigen Sie bitte, wenn ich das sage: Wir haben bereits Spitzenuniversitäten in dem Feld. Das Problem ist: Wir nutzen nur deren Forschungsergebnisse nicht,

(Beifall von den PIRATEN)

weil das Land für Datensicherheit zu geizig ist.

In unserer Anhörung 2014 sprach ein IT-Sicherheitsexperte davon, dass er innerhalb von drei Stunden auf jedes Behördennetz zugreifen konnte, in das er eindringen wollte. Er konnte dann leicht auf Meldedaten und sogar auf Daten von Menschen in Zeugenschutzprogrammen zurückgreifen.

Wir, Frau Kraft und Frau Löhrmann, nehmen unsere Grundrechte auch im digitalen Zeitalter sehr, sehr ernst. Da sind wir konservativ. Wir können unseren Grundrechten in der digitalen Welt nur gerecht werden, indem wir sagen: Wir stellen den Schutz der Privatheit an den Anfang einer jeden Überlegung. Privatheitsschutz von Anfang an heißt: Wir füllen „Privacy by Design“ und „Privacy by Default“ mit Leben.

Es kann sein, dass Ihnen die Begriffe nichts sagen. Bitte hören sie genau zu! Wir brauchen dafür Privacy-Impact-Assessments oder auf Deutsch Privatheitsfolgeabschätzungen.

(Beifall von den PIRATEN)

Auf der bisherigen Grundlage können wir doch nicht ernsthaft ein NRW 4.0 aufbauen. Das ist absurd. Unsere Datensicherheit ist desaströs. Wir haben einen Antrag zur Überprüfung und Sicherung unserer Systeme eingebracht. Bei der Anhörung hielten alle anderen Fraktionen – SPD, Grüne, FDP und CDU – es nicht einmal für notwendig, einen eigenen Sicherheitsexperten einzuladen.

Wir sind bei kommunaler Sicherheit auf unterstem Niveau. Hier können wir uns nicht mit der Konnexität oder der Unabhängigkeit der Kommunen herausreden. Da gibt es Bürgermeister, die sämtliche Daten in einem Server ungeschützt unter ihrem Schreibtisch stehen haben, also so, als würden die Behörden ihre gesamten Aktenbestände offen auf den Fluren stehen lassen. Das geht in einer vernetzten Welt, in der alles und alle miteinander verbunden sind, einfach nicht mehr.

Deshalb, liebe Frau Ministerpräsidentin, reicht es nicht, nur von der Förderung der Datensicherheit in der Forschung zu sprechen. Sie müssen auch das tun, was die Experten Ihnen sagen.

(Beifall von den PIRATEN)

Weiterhin brauchen wir Bildungsangebote auf allen Ebenen. In staatlichen Einrichtungen müssen eigene IT-Sicherheitsbeauftragte die Nutzer für einen sicheren Umgang mit ihren Programmen schulen und sensibilisieren. Und wir müssen Weiterbildungsmaßnahmen für die Anwendung von Datenschutzregeln in Behörden fördern, den Selbstdatenschutz vorantreiben und die Menschen zuhause, in Behörden, im Krankenhaus oder anderswo befähigen, ihre Hardware und Software sicher und angemessen zu verwenden.

Auch die Digitalisierung des Gesundheitswesens soll 2015 im Zeichen der Landespolitik 4.0 stehen. Aber die Landesregierung hat auch hier den Fortschritt verschlafen. Im Gesundheitsbereich stehen angeblich 50 Millionen € zur Verfügung. Unterm Strich bleiben etwas mehr als 5 Millionen € für den Aufbau der Telematik-Infrastruktur. Das reicht nicht.

Jedoch ist das nicht die entscheidende Frage der Menschen. Die entscheidende Frage ist, ob der technische Fortschritt und die Anwendung im Gesundheitswesen auch die Bürgerrechte achtet.

(Beifall von den PIRATEN)

Und, Herr Laschet, erlauben Sie mir die Bemerkung: Im Gesundheitswesen ist die Digitalisierung im wahrsten Sinne des Wortes mit Sicherheit kein Wohlfühlthema. Der Ausbau der Telematik-Infra-struktur kann nur in Zusammenarbeit mit Gesundheitsexperten, IT-Spezialisten, Medizinern, Datenschützern und Ethikern gelingen.

Dazu benötigen wir allerdings eine Struktur, die diesen Themenkomplex permanent auch bearbeitet. Nur die Bündelung der Ressourcen in einem Ministerium kann hier eine Lösung sein.

In Zukunft stehen exorbitant hohe Mengen an Daten zur Verfügung. Ich spreche von standardisierten Entlassungsbriefen, zum Beispiel nach einer Krankenhausbehandlung, oder von elektronischen Medikationsplänen oder von ausführlichen online verfügbaren Versichertenstandards. Wissen Sie, Sie machen sich Sorgen um Hacker und bauen hier ein Paradies für jeden, der Daten abfischen möchte. Es wird eine große Herausforderung sein, die Chancen der modernen IT-Technologien in der täglichen Versorgung sicher zu nutzen. Die 5 Millionen € der Landesregierung sind an dieser Stelle eher mini statt mega.

Frau Kraft, als kleinste Oppositionspartei haben wir Ihnen nur die dringendsten Themenfelder aufgezeigt, auf denen die Landespolitik brachliegt. Wir wären heute etwas softer gewesen, hätten Sie nicht in den letzten zweieinhalb Jahren all unsere Anträge in den diversen Ausschüssen hier im Parlament einfach vom Tisch gefegt. Ein paar kleine Stellen mehr für den Datenschutzbeauftragten? – Nein.

Wir brauchen Ideen für das Land und die Menschen, die hier leben, damit wir nicht eine weitere Revolution in Wirtschaft und Gesellschaft verschlafen. Frau Ministerpräsidentin, wir brauchen eine digitale Daseinsvorsorge für die Menschen in unserem Land.

(Beifall von den PIRATEN)

Sehr, sehr geiler Dorsch übrigens, sehr geil! – Vielen Dank.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Dr. Gerhard Papke: Vielen Dank, Herr Kollege Paul.

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