Plenarrede: Dietmar Schulz zum Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen

20. Plenarsitzung, 23.01.13

TOP 1. Aktuelle Stunde

Rückgang strafrechtlicher Verurteilungen und Anstieg Verfahrenseinstellungen trotz besorgniserregender Kriminalitätsentwicklung in Nordrhein-Westfalen
Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der CDU und der Fraktion der FDP, Drucksache 16/1952

Unser Redner: Dietmar Schulz

Audiomitschnitt der 1. Rede von Dietmar Schulz

Videomitschnitt der 1. Rede von Dietmar Schulz

Audiomitschnitt der 2. Rede von Dietmar Schulz

Videomitschnitt der 2. Rede von Dietmar Schulz

Das vollständige Plenarprotokoll gibt es hier.

Das Wortprotokoll der 1. Rede:

Dietmar Schulz (PIRATEN): Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kollegen! Liebe Zuschauer im Hohen Hause und auch zu Hause am Stream! Ich habe mich bei der Lektüre des Antrags zur Aktuellen Stunde ernsthaft gefragt, wo der Aktualitätsbezug liegt. Liegt er in der Veröffentlichung einer Statistik, liegt er in einem Kernproblem unserer Gesellschaft oder liegt er im Lande NRW? Ich bin, ehrlich gesagt, noch nicht zu einem endgültigen Ergebnis gekommen. Aber eines steht jedenfalls fest: Wir beraten heute in dieser Aktuellen Stunde ein Thema, das wir als Legislative teilweise gar nicht beraten dürfen bzw. sollten, geht man einmal von der Überschrift aus. Da geht es nämlich einerseits um die Frage der Verurteilung von Straftätern und um Verfahrenseinstellungen in Strafverfahren. Man könnte allerdings auch auf den Gedanken kommen, es gehe hier um die Strafverfolgung. So ganz klar wird es nicht.

Sie greifen auf der einen Seite die Justiz und damit aufseiten der Landesregierung letztendlich das Justizministerium an; auf der anderen Seite prangern Sie eine Kriminalitätsstatistik bzw. eine Entwicklung an, die letztendlich in der Exekutive begründet liegt, möglicherweise darin, dass wir zu wenig Personalausstattung im Bereich der Polizei haben.

Wir als gesetzgebendes Organ können zunächst nur über die Frage diskutieren, ob ein Gesetz gut oder schlecht ist, ob ein Gesetz fehlt, ob ein vorhandenes zu viel oder verbesserungswürdig ist. Welche Gesetze hier gemeint sein könnten, lässt das Thema der Aktuellen Stunde leider nicht erkennen; das ist schade.

Die Anwendung der Gesetze durch die Judikative ist nicht Aufgabe des Parlaments. Artikel 97 Grundgesetz sagt: „Die Richter sind unabhängig und nur dem Gesetze unterworfen.“ Schon im Grundstudium lernen wir im Fach Rechtswissenschaften, dass in Deutschland Gewaltenteilung herrscht.

Der vorliegende Antrag ist aus meiner Sicht in seinen Begründungselementen teilweise ein versuchter Eingriff in die im Grundgesetz festgelegte Gewaltenteilung. Die angeführten Statistiken zur Kriminalitätsentwicklung sind bloße Nebelkerzen für das tatsächlich Bezweckte. Dies ließ sich auch in den letzten Sitzungen des Rechtsausschusses feststellen, in denen permanent irgendwelche Kleinen Anfragen oder Tagesordnungspunkte zur Behandlung begehrt wurden, die sich, wie der Kollege Ganzke eben schon ausführte, überwiegend mit der Frage der Judikative und weniger mit der Frage der Exekutive befassen.

Es könnte natürlich auch sein, dass der Antrag falsch bzw. die Behandlung innerhalb der Aktuellen Stunde nicht zutreffend ist, weil es um die Verstärkung der Exekutive gehen möge, was die ermittelnden Polizeibehörden betrifft. Dann müsste gleich Herr Minister Jäger reden und nicht Herr Minister Kutschaty. Wir wissen es nicht genau.

Wir gehen davon aus, dass der vorliegende Antrag der Fraktionen der CDU und der FDP von Volljuristen angestoßen wurde. Daher kann ich diese Aktuelle Stunde, noch einmal betont, nicht nachvollziehen. Wir gehen ferner davon aus, dass die Kenntnis über die Unabhängigkeit der Richter in den vergangenen Monaten nicht abhandengekommen ist.

(Beifall von den PIRATEN)

Wie wir schon im Rechtsausschuss feststellen konnten, sollten wir uns alle darauf besinnen, Abstand davon zu nehmen, Justiz und Staatsanwälte hier im Parlament öffentlich zu kritisieren, und zu einer sachgerechten Rechtspolitik wie auch einer sachgerechten Innen- und Sicherheitspolitik zurückkehren.

Wenn Sie dem Justizminister nachweisen wollen, liebe Kolleginnen und Kollegen von CDU und FDP, dass er sein Haus nicht im Griff hat, dann geht das sicherlich nicht über die Kriminalitätsstatistik; denn die Kriminalitätsstatistik ist nichts weiter als das Resultat dessen, was innerhalb unserer Gesellschaft passiert – zunächst einmal.

Wenn wir tatsächlich einen Rückgang an erledigten Rechtsfällen und Verfahren in der Gerichtsbarkeit haben, dann müssen wir möglicherweise mehr Richterinnen und Richter, mehr Staatsanwältinnen und Staatsanwälte einstellen. Das haben wir von der Piratenfraktion in der letzten Haushaltsdebatte teilweise gefordert. Darauf zielt Ihr Antrag aber ganz offen-sichtlich nicht ab. Würde er das tun, würden wir Piraten ihn mittragen.

Uns ist klar, dass die Staatsanwälte besonders in der Abteilung Wirtschaftskriminalität aktuell zu Sachbearbeitern in Insolvenzverfahren degradiert werden, Akten aus dem Bereich der Ordnungswidrigkeiten massiv ansteigen, die vielleicht besser von Amtsanwälten – auch das würde wiederum eine Erhöhung der Personaldecke bedeuten – anstatt von Staatsanwälten bearbeitet würden. Wie auch immer, ob es um den Rückgang von Strafurteilen oder Strafbefehlen geht, das kann nicht Thema unserer Arbeit sein.

Kommen wir zur Kriminalitätsentwicklung: Zunächst einmal – da teile ich die Auffassung, wie sie von Herrn Ganzke von der SPD, aber auch von Frau Hanses von den Grünen dargestellt – erfreuen wir uns an einem Rückgang der Jugendkriminalität in NRW um immerhin 7,5 %. Das ist sicherlich nicht das Ende der Fahnenstange. Nur, wie ich eben schon erwähnte: Die Kriminalitätsstatistik selbst sagt nichts über die Bekämpfung der Kriminalität aus, sondern etwas über den Zustand der Gesellschaft.

Wir Piraten sagen Ihnen gerne, wie Kriminalitätsbekämpfung à la longue aussehen muss: Für eine geringere Kriminalitätsrate brauchen wir bessere Bildung, mehr Prävention und gegebenenfalls mehr Polizei. Im Bereich der Jugendkriminalität ist von Symptombekämpfung und Aktionismus Abstand zu nehmen. Die Antwort auf das Problem der Jugendkriminalität ist trotz der erfreulichen statistischen Entwicklung nicht, jeden jungen Menschen als potenziellen Straftäter von morgen zu behandeln und so die Nachfrage nach sicherheitspolitischen Maßnahmen künstlich zu steigern. Resozialisierungsangebote für junge Straftäter, zum Beispiel Patenschaften, sind auszuweiten, um deutlich zu machen, dass die Abwärts-spirale sehr wohl durchbrochen werden kann.

Ich verweise an dieser Stelle nicht zuletzt, was die Kriminalitätsstatistik im Bereich der Erwachsenenkriminalität angeht, auf den letzten, den vorletzten und den vorvorletzten Armutsbericht. Damit sind wir wieder bei den Problemen, die in unserer Gesellschaft begründet liegen.

(Beifall von den PIRATEN)

Soweit wir mehr Polizeibedienstete benötigen, um zu entsprechenden Ermittlungserfolgen zu kommen, verweise ich unter anderem auf die Forderungen der Gewerkschaft der Polizei. Sie spricht von 1.700 Polizeibediensteten, die pro Jahr eingestellt werden müssten.

Ferner werden wir nicht umhinkommen, an zahlreichen Stellen innerhalb der Gesellschaft die Stellschrauben so zu drehen,

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt.)

dass Kriminalität nicht notwendig wird. Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass Kriminalität in Nordrhein-Westfalen insbesondere importiert wird. Marodierende Einbrecherbanden stellen in der Tat ein Problem dar. Das wiederum wäre eine Sache der Exekutive; angesprochen wäre Herr Minister Jäger.

Präsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Schulz, die Redezeit.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Ja, ich komme zum Ende.

Mit Ihrem Antrag sorgen Sie weder für eine Verbesserung der Kriminalitätsverfolgung noch der Kriminalitätsstatistik. Ganz ehrlich: Wir sollten uns in den Ausschüssen und gerne auch im Plenum über die Dinge unterhalten, die zu einem Erfolg innerhalb unseres Landes dahin gehend führen, dass Kriminalität nicht notwendig ist oder dass Kriminalität, so sie grundsätzlich …

(Das Ende der Redezeit wird angezeigt. – Heiterkeit von den PIRATEN)

– Ich sorge für Erheiterung.

Präsidentin Carina Gödecke: Herr Kollege Schulz, Sie sind bei einer Minute Überziehung.

Dietmar Schulz (PIRATEN): Entschuldigung.

Wie auch immer, ich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Der Antrag ist für mich, mit Verlaub, nichts weiter als ein Showantrag. – Danke schön.

(Beifall von den PIRATEN)

Präsidentin Carina Gödecke: Vielen Dank, Herr Kollege Schulz.

 

 

 

Das Wortprotokoll der 2. Rede:

Dietmar Schulz (PIRATEN): Danke schön. – Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kol-legen! Lieber Herr Kollege Dr. Orth, Sie führen gerade bei der Kriminalitätsstatistik die Ent-wicklung in Düsseldorf an. Wie wir alle wissen, ist Düsseldorf – das bezieht sich selbstver-ständlich auch auf die Polizei und die Ordnungskräfte – CDU/FDP-geführt.

(Zuruf von Dr. Robert Orth [FDP])

– Ja, und es besteht auch ein reger Austausch zwischen dem Rat der Stadt Düsseldorf und dem Polizeipräsidenten. Man sitzt ständig zusammen und kann die Entwicklung hervorra-gend verfolgen. Sei‘s drum.

Wir sind nach wie vor bei den Symptomen. Wir sind bei der Kriminalität und der Entwick-lung. Lassen Sie uns doch einfach mal der Menschen annehmen, der Betroffenen. Sie sprachen eben auch von Betroffenheit.

Ich will eine Deliktgruppe herausgreifen, die völlig unterbewertet bzw. überhaupt noch nicht angesprochen worden ist: die Drogenkriminalität. Insbesondere Nordrhein-Westfalen ist da-von sehr stark betroffen. In Nordrhein-Westfalen haben wir 850.000 plus X statistisch erfass-te Konsumenten von Cannabis bzw. Cannabisprodukten. Es ist also so, dass Cannabis und Cannabisprodukte mittlerweile zur Volksdroge geworden und in der Mitte unserer Gesell-schaft angekommen sind.

Ich sagte eben schon: Wir müssen uns im Bereich der Aufklärung bewegen und weniger in der Bekämpfung und Kriminalisierung von bestimmten Deliktgruppen. Aufklärung ist gefragt.

(Beifall von den PIRATEN)

Mit der Aufklärung und der Entkriminalisierung findet auch gerade im Bereich des Konsums von Cannabis und Cannabisprodukten eine Verringerung bzw. Beseitigung eines Schwarz-marktes statt, damit gleichzeitig eine Verringerung der Verfahren gegen einfache Konsu-menten nach der Kifferdatei. Dazu sollten wir uns kooperativ zeigen; wir sollten gemein-schaftlich an Konzepten arbeiten und versuchen, diese parteiübergreifend innerhalb unserer Gesellschaft zu besprechen, zu erörtern und politische Handlungsfolgen umsetzen.

Das wird nicht in Nordrhein-Westfalen gehen; das ist sicherlich ein Bundesthema. Aber wir können immerhin von Nordrhein-Westfalen aus entsprechende Initiativen starten. Sollte man sich darauf einigen können, die Piratenpartei wäre selbstverständlich sehr froh darüber.

Wir sollten uns der Verantwortung stellen und versuchen, die Herstellung, den Verkauf und den Konsum von Hanfprodukten aus der Kriminalitätsstatistik herauszubringen.

(Beifall von den PIRATEN)

Sie dürfen eines nicht vergessen: Gerade in Nordrhein-Westfalen gibt es sehr große An-baugebiete für Hanf. Die Herstellung von Hanfprodukten ist selbstverständlich erlaubt, aber das Ziehen von Hanf bzw. von Cannabisprodukten zum Verzehr als Droge nicht – ganz zu schweigen von ihrem Einsatz für medizinische Verwendungszwecke.

Lassen Sie uns gemeinsam versuchen, bestimmte Kriminalitätsformen in diesem Bereich der weichen Drogen dem Jugendschutz und dem Verbraucherschutz zu unterwerfen. Las-sen Sie uns in die Schulen und in die Begegnungsstätten gehen, um entsprechende Aufklä-rung herbeizuführen. Dann kommen wir sicherlich zu dem Punkt, an dem wir sagen können: Auch bei der Drogenkriminalität ist eine Verringerung der Zahlen in der Kriminalitätsstatistik zu verzeichnen. Das wäre außerordentlich wünschenswert. – Danke schön für Ihre Auf-merksamkeit.

(Beifall von den PIRATEN)

Getagged mit: , , ,
Veröffentlicht unter Rechtsausschuss (A14), Reden, Reden

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

*

*