Frank Herrmann für ein Sofortprogramm zur Deradikalsierung von Heimkehrern

Freitag, 30. Januar 2015

 

TOP 2. A k t u e l l e  S t u n d e

Überwachung löst keine Probleme – Sofortprogramm zur Deradikalisierung starten

Aktuelle Stunde auf Antrag der Fraktion der PIRATEN
Drucksache 16/7816
Frank HerrmannRedner: Frank Herrmann

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Statement:

„Angst und Überwachung sind ein schlechter Ratgeber. Die zunehmenden Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Synagogen und Moscheen sowie der zunehmende Rassismus sollten uns mindestens genauso beschäftigen, wie die sehr kleine Anzahl möglicherweise radikalisierter Rückkehrer. Aber die Antwort von Innenminister Jäger ist schlicht: mehr Überwachung, mehr Repression, mehr Misstrauen.

Überwachung und Repression haben die Anschläge von Paris nicht verhindern können. Um präventiv wirken zu können, muss man zunächst verstehen, wie es zur Radikalisierung kommt. Rückkehrer radikalisieren sich oft erst nach ihrer Rückkehr, weil sie sich nicht wieder in der Gesellschaft einfinden können. Ein rundes Sicherheitskonzept würde hier ansetzen und Maßnahmen zur Wiedereingliederung von nicht straffällig gewordenen Rückkehrern liefern.“

Zur Aktuellen Stunde

Überwachung löst keine Probleme – Sofortprogramm zur Deradikalisierung starten

Drucksache 16/7816

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Protokoll der Rede von Frank Herrmann

Frank Herrmann (PIRATEN): Vielen Dank. Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Sehr geehrte Bürgerinnen und Bürger! Um es vorwegzunehmen: Die Anschläge in Paris sind menschenverachtend und durch nichts zu entschuldigen. Unser Antrag auf eine Aktuelle Stunde entschuldigt auch nichts. Es ist bitter nötig, darüber zu diskutieren, welche Schlüsse wir aus diesen Terroranschlägen ziehen. Wir halten Angst und Überwachung für schlechte Ratgeber. Und wir würden uns wünschen, wenn die Kölner über den Wert ihrer Narrenfreiheit im eigentlichen und auch im politischen Sinne noch einmal nachdenken würden.

(Beifall von den PIRATEN Vereinzelt Beifall von der SPD und der CDU)

Nachdenken wünschen wir uns auch immer von Herrn Innenminister Jäger. Denn er sagt seit den Anschlägen noch häufiger, dass die Rückkehrer aus Syrien potenziell besonders gefährlich seien, und spricht nur von immer mehr Überwachung.

Zurzeit haben wir in Nordrhein-Westfalen 40 Rückkehrer. Zehn davon sind möglicherweise gewaltbereit. Diese zehn sollten den gesamten Überwachungsdruck spüren und merken, dass wir eine starke Polizei und starke Sicherheitsbehörden haben, die für den Fall der Fälle bereitstehen. Die Gesetze, damit umzugehen, haben wir bereits.

Aber die anderen nicht nur die restlichen 30 Rückkehrer, sondern auch die Millionen Menschen, die nicht Müller, Meier, Schulze heißen, trotzdem Deutsche sind oder auch einer anderen Nationalität angehören müssen das Gegenteil spüren, nämlich dass sie hier willkommen sind, dass sie Teil unseres Landes und Teil unserer Gesellschaft sind.

(Beifall von den PIRATEN)

Das Willkommen ist jedoch immer noch zu leise. Das muss sich ändern.

(Beifall von den PIRATEN)

In Deutschland verfolgen wir seit Jahrzehnten eine völlig falsche Politik. Der jahrzehntelange Widerstand von Gesetzgebern und Parteien gegen Einwanderung hat immer noch Einfluss auf Politik und Gesellschaft, auf die Stimmung der Mitte. Besonders Muslime erfahren in Deutschland viel Ablehnung. Auch heute noch sagen Politiker, dass der Islam nicht zu Deutschland gehört. Unsere Landtags-CDU fantasiert in Bonn Anwerbungen durch Salafisten in Sammelunterbringungen herbei und schürt so Ängste gegen Flüchtlingsunterbringung. All das fördert PEGIDA, KÖGIDA und Co. Das fördert auch Radikalisierung. Das müssen wir ändern.

(Beifall von den PIRATEN)

Uns sollten die wieder zunehmenden Anschläge auf Flüchtlingsunterkünfte, Synagogen und Moscheen, der zunehmende Rassismus, Hetze und Gewalttaten gegen Minderheiten und Menschen, die sich Nazis in den Weg stellen, mindestens genauso beschäftigen wie die sehr kleine Anzahl radikalisierter Rückkehrer.

(Vorsitz: Vizepräsident Eckhard Uhlenberg)

Auf diese komplexe Lage ist die Antwort von Innenminister Jäger einfach und schlicht: mehr von demselben, mehr Überwachung, mehr Repression, mehr Misstrauen. Dabei haben wir davon schon mehr als genug in unserer Gesellschaft. Aber haben Überwachung und Repression die Anschläge verhindert? Nein, sie haben die Radikalisierung sogar eher gefördert.

Um präventiv wirken zu können, muss man zunächst verstehen, wie es zur Radikalisierung kommt. Wer sich nicht verstanden oder wer sich abgelehnt fühlt, sucht Identifikation mit einer Gruppe. Das kann ein Fußballverein sein, eine ethnische Gruppe oder ein Religionsverein. Viele solcher Identifikationsvorgänge sind harmlos. Gerät man aber an eine Gruppe mit radikalen Ansichten, die ihre Aufgabe nicht darin sieht, in der Gesellschaft mitzuwirken, sondern die die Gesellschaft abgelehnt, wird die Gruppe das Gefühl, nicht verstanden zu werden, nur verstärken. Das heißt dann: Wir gegen die. Damit werden dann die Feindbilder aufgebaut, die nur schwer wieder umzustürzen sind. Die Gruppe wird argumentieren: Seht ihr, die haben was gegen uns. Die wollen uns nicht. Die hassen uns. Mit repressiven Maßnahmen werden diese Feindbilder nur bestätigt.

Das sagen übrigens nicht nur Experten wie Claudia Dantschke von „Hayat“. Selbst Herr Maaßen, Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz, erklärte in einer Anhörung im Bundestag, dass die präventive Arbeit entscheidend sei. Allerdings könne seine Behörde nicht den Sozialarbeiter spielen. Hierfür seien andere Institutionen einfach kompetenter.

Wenn es nun also die Erkenntnis gibt, dass mehr Prävention das Radikalisierungsproblem lösen kann, warum wird dann so wenig gemacht? Herr Innenminister Jäger wird nachher erzählen, dass es Präventionsprogramme in Nordrhein-Westfalen natürlich schon gibt. Tatsächlich gibt es in Nordrhein-Westfalen seit Mitte 2014 das Präventionsprogramm gegen Salafismus namens „Wegweiser“. Auf der Kontaktseite „Wo kann ich ‚Wegweiser‘ erreichen? Projektpartner vor Ort“ wird schön auffällig erst einmal ein Pressekontakt vermittelt. Wirkt das auf Jugendliche, die sich melden wollen, vertrauenswürdig?

Der Innenminister wird uns auch erzählen, dass Nordrhein-Westfalen Vorreiter ist und andere Bundesländer „Wegweiser“ kopieren. Unerwähnt wird er lassen, dass es zivilgesellschaftliche Deradikalisierungsprogramme schon seit Jahrzehnten gibt. Unerwähnt wird er lassen, dass „Wegweiser“ gerade erst angelaufen ist. Man kann also noch gar keine Aussage darüber treffen, ob das Programm angenommen wird. Man darf auch seine Zweifel daran haben.

Im Herbst letzten Jahres hat das Bundesamt für Verfassungsschutz sein Aussteigerprogramm „HATIF“ „Heraus aus Terrorismus und islamischem Fanatismus“ ersatzlos eingestellt. In vier Jahren hatten sich hierüber lediglich sieben Personen nach Hilfe für sich selbst erkundigt. In keinem einzigen Fall kam es zu einer Unterstützungsmaßnahme seitens des Amtes. Das zeigt auch, warum Herr Maaßen die Finger von solchen Programmen lässt: Sie werden nicht angenommen. Gefährdete junge Menschen erreicht man eben nicht über ein Kontaktformular auf einer amtlich aussehenden Seite im Internet.

Was also tun? Diese Menschen müssen da abgeholt werden, wo sie sind. Dazu gehören Initiativen vor Ort. Dazu gehören Einzelansprachen. Nicht zuletzt gehört dazu auch die jugendgerechte Ansprache im Internet und in den sozialen Medien. Davon sehen wir leider nicht viel. Internetauftritte von Behörden und staatlichen Stellen wirken immer noch amtlich und bürgerfern. Und wenn mal eine Behörde wie die Polizei Essen-Mülheim versucht, sich auf Facebook bürgernah zu geben, wird von Herrn Jäger das Duzen der Facebook-Fans verboten. Damit wird signalisiert: Ihr, Verzeihung: Sie kommunizieren mit uns nicht auf Augenhöhe. Wir sind der Staat, und Sie sind nur Bittsteller. So kann aber kein Vertrauen entstehen. Deswegen werden behördliche Aussteigerprogramme auch fehlschlagen.

Fangen Sie also an, diejenigen, die sich haben radikalisieren lassen, zurückzuholen, anstatt sie weiter auszugrenzen und nur zu überwachen. Holen Sie die Unterstützung von zivilgesellschaftlichen Gruppen mit jahrelanger Erfahrung wie „Hayat“ und andere , und lassen Sie den Verfassungsschutz außen vor. Wir sind überzeugt, dass das wirkungsvoller für die Terrorprävention ist, als die Reisefreiheit einzuschränken, Google und andere Anbieter zu freiwilliger Internetzensur aufzufordern, Verschlüsselung zu verbieten und europaweit unsere Fluggastdaten zu speichern. Denn das sind Maßnahmen, die uns alle unfrei machen, und das ist der falsche Weg.

(Beifall von den PIRATEN)

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