Blogbeitrag von Dr. Joachim Paul, Vorsitzender der Piratenfraktion im Landtag NRW
Wenn das Wort “Hartz IV” in den Mund genommen wird, dann sollte jederfraumann klar sein, dass allein schon der Begriff eine Diskriminierung erster Ordnung ist. Hier werden Menschen, die auf diese staatliche Unterstützung angewiesen sind, zusätzlich mit dem Namen eines rechtsstaatlich verurteilten Straftäters belegt. Das heißt, man tritt auf die, die nicht nur wirtschaftlich, sondern oft auch psychisch schon am Boden liegen, noch mal extra drauf, der Gipfel der sozialen Kälte.
Im November letzten Jahres äußerte der Vorsitzende der Bundesagentur für Arbeit, dass sich Deutschland „langfristig der Vollbeschäftigung“ nähere. Und in den Jubelreden zum 10. Jahrestag der Hartz IV-Gesetze wurden lediglich kleine Korrekturen angemahnt. So war es etwa der Äußerung von Sigmar Gabriel zu entnehmen, dass man „nur vergessen“ habe, dabei den Mindestlohn einzuführen.
Ansonsten wird seitens der etablierten Politik den HARTZ-Gesetzen eine positive Wirkung zugeschrieben und der deutsche Weg als Modell für andere Länder empfohlen. Lediglich der DGB mahnt einen weitergehenden Reformbedarf an, nachdem seinerzeit seine Funktionäre die Arbeitsmarktpolitik von Rot-Grün weitgehend mitgetragen und sogar gelobt haben.
Der damalige DGB-Landesvorsitzende in NRW sprach von „den richtig und zukunftsweisend ausgelegten Gleisen“.
Massive Kritik kommt von den einschlägig bekannten Kritikern: Christoph Butterwegge, Autor des Buches „HARTZ IV und die Folgen. Auf dem Weg in eine andere Republik?“, urteilte im Focus: „HARTZ IV braucht den Vergleich mit beiden Weltkriegen nicht zu scheuen“. Die „Reformen“ hätten zur Spaltung der Gesellschaft geführt und tiefe seelische Wunden hinterlassen.
Heribert Prantl resümiert in der SZ, seit der Verabschiedung der HARTZ-Gesetze habe „… die Armut zugenommen. Es überwacht und betrachtet Millionen Menschen als potenzielle Faulpelze – und passt nicht zu einem Staat, der sich Sozialstaat nennt.“
7,9 Millionen von 42,7 Millionen Erwerbspersonen arbeiten heute im Niedriglohnsektor, mehr als 1,3 Millionen dieses Prekariats füllt weiterhin Antragsformulare des Jobcenters aus, um mit ergänzendem Arbeitslosengeld aufstocken zu können, sogenannte Aufstocker, die in der offiziellen Arbeitslosenstatistik – ganz offensichtlich aus kosmetischen Gründen – nicht auftauchen. Tendenz steigend.
Auch diejenigen, die in verordneten Weiterbildungsmaßnahmen und Umschulungen sind, tauchen in der Statistik nicht als arbeitslos auf, ein weiteres Mittel, um die offizielle Darstellung zu schönen und das Scheinbild einer guten Beschäftigungslage zu wahren.
Und die wenig faktenreichen Meldungen über den boomenden Arbeitsmarkt übersehen neben den demografischen Veränderungen, dass heute ein geringeres Arbeitsvolumen auf mehr Köpfe verteilt wird.
Die Zeitschrift Capital titelte am 18.12.2014 hämisch: „Bofinger wundert sich über »irren« Jobmarkt – kaum Wachstum – trotzdem brummt der Arbeitsmarkt. Das ist selbst für einen Ökonomen wie Peter Bofinger nur schwer erklärbar.“
Die schlichte Kenntnis und Anwendung der Grundrechenarten erklärt oft mehr als die in Modellrechnungen verfangenen Wirtschaftswissenschaftler – auch wenn sie manchmal als “fortschrittlich” eingestuft werden. Mannfrau braucht hier nur auf die Langzeitstatistik des Arbeitsvolumens des Statistischen Bundesamtes zu verweisen, dann klärt sich „das Wunder“ wie von selbst auf.
Das Arbeitsvolumen der beschäftigten Arbeitnehmer – also der nicht selbstständigen Erwerbstätigen – hat sich nämlich seit 1991 von 51.768 Millionen Stunden auf 48.779 Millionen Stunden im Jahre 2012 verringert. Und dieses Volumen dürfte auch 2014 nicht wesentlich höher liegen. Das Arbeitsvolumen der Vollzeitbeschäftigten hat sich im gleichen Zeitraum von 47.635 Millionen Stunden auf 39.974 Millionen Stunden verringert, während sich das Arbeitsvolumen der Beschäftigten in Teilzeit von 3.818 auf 8.093 Millionen Stunden erhöht hat. Das heißt, in der Tendenz, dass sich das Arbeitsvolumen auf mehr Köpfe verteilt hat und vor allem die Teilzeitarbeit erheblich angestiegen ist. Das steckt schlicht hinter dem Wunder der positiven Beschäftigungslage.
Und nicht nur das, rund ein Drittel der zur Zeit offenen Stellen werden als Leiharbeit angeboten. Im Zuge der Flexibilisierung des Arbeitsmarktes unter der Agenda 2010 entwickelte sich ein Markt für „Zuhälter“, sogenannte Leiharbeitsfirmen, die Arbeitskraft gewissermaßen „vermieten“ – eine moderne Form des Sklavenhandels. Wer es nicht so hart haben möchte, darf auch Prostitution sagen.
In ernüchternder Offenheit beschrieb da die WELT den eigentlichen „Erfolg“ der HARTZ-Gesetze: “Vor zehn Jahren verabschiedete sich Deutschland von der paternalistischen Logik des Sozialstaats alter Prägung. Die falschen Freunde der Bedürftigen und Schwachen sind seither marginalisiert. Jubiläen sind Termine zur Neuverhandlung von Deutungshoheit. In wenigen Tagen feiert Hartz IV seinen zehnten Geburtstag. Da überrascht es nicht, dass dieser europaweit bestaunte Kraftakt einer rot-grünen Bundesregierung insbesondere von Linken als Sündenfall gebrandmarkt wird…”
Und Ulf Poschardt schreibt unter der Überschrift „HARTZ IV war das Ende der Gerechtigkeitsreligion“: “… Deutschland geht es heute ökonomisch auch deshalb vergleichsweise gut, weil der Sozialstaat symbolisch in seine Schranken gewiesen wurde. Real eigentlich nicht, weil durch Hartz IV kaum Sozialleistungen eingeschränkt wurden. Doch Steuerzahler wie Investoren hatten das Gefühl, dass die Herrschaft des Sentiments an ihr rhetorisches Ende gelangt war. Die falschen Freunde der Bedürftigen und Schwachen sind seither marginalisiert…” (Welt online vom 27.12.14).
Eine Beschreibung der einzelnen Phasen der Entstehung der HARTZ-Gesetzgebung erspare ich mir hier, das haben Andere bereits erschöpfend geleistet. Dennoch, Rot-Grün war angetreten, die als unsozial eingestufte Politik unter Kanzler Kohl zu beenden. Entgegen auch der Zusicherung der Regierung Schröder/Fischer gegenüber den Gewerkschaften, es werde keine Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe auf dem Niveau der Sozialhilfe geben, wurden einschneidende Änderungen vorgenommen, die für einen Systemwechsel stehen. Die im Rahmen eines lange währenden demokratischen Klassenkampfes erkämpfte Lebensstandardsicherung einer lebensstandardbezogenen Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft, statt der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit ging es nun vorrangig um die Disziplinierung und Drangsalierung von Arbeitslosen, die unter der Formel eines nicht eingehaltenen „Fördern und Fordern“ gezwungen wurden, unter ihrem bisherigen Beschäftigungsniveau tätig zu sein und in Niedriglohnbereiche abzusteigen.
Und nun sollen diese Leute auch noch überwacht werden. Wie Susan Bonath in der Tageszeitung „Junge Welt“ vom 07.01.2015 berichtet, sucht „die Arbeitsvermittlungsbehörde auf der Onlinevergabeplattform des Bundes ein Unternehmen, das ihr ein »Social Media Monitoring Tool« (Programm zum Beobachten sozialer Medien) für zunächst zwei Jahre zur Verfügung stellt. Die Firma, die den Zuschlag erhält, soll die Software warten und BA-Angestellte in der Nutzung schulen. Laut Auftrag geht es um »automatisierte Identifikation und Analyse von Diskussionen und Kommentaren im deutschsprachigen Social Web«. … Die Bundesdatenschutzbeauftrage ist nicht informiert. Peter Schaar hatte bereits 2013 ein ähnliches Vorhaben der BA gerügt, was zum offiziellen Stopp führte. Laut Schaar hatten damals Jobcenter nachgefragt, ob sie Infos auf Facebook von Hartz-IV-Beziehern verwenden dürften. Seine Antwort war eindeutig: Keinesfalls habe die BA das Recht, sich in Foren einzuloggen oder Suchmaschinen zu nutzen, um Klienten zu beobachten.
Den wirtschaftlich Schwächsten der Gesellschaft soll auch noch auf die Finger geschaut werden, was sie so treiben. Ein Armutszeugnis – gerade für einen Staat, der sich Freiheit und Bürgerrechte ins Grundgesetz geschrieben hat.
Die Gleichbehandlung von Menschen, die über Jahre gearbeitet und Beiträge in die Arbeitslosenversicherung eingezahlt hatten mit noch nie beschäftigt gewesenen Arbeitslosen ist nur eine der Ungereimtheiten einer Arbeitsmarktpolitik, die sich Rot-Grün von einem korruptions- und prostitutionserfahrenen VW-Manager formulieren ließ – und das unter tatkräftiger Mitarbeit gewerbsmäßiger Gewerkschafter wie Harald Schartau und Isolde Kunkel-Weber.
Gerade diese Ungereimtheit ist im Grunde ein Betrug und eine Verhöhnung der Lebensarbeitsleistung abhängig Beschäftigter, die das Leistungsprinzip ad absurdum führt und die Werte- und Solidargemeinschaft „Sozialstaat“ entkernt – und zwar von innen.
Als Folge dieser turbo-neoliberalen Politik ist die Zahl der Menschen größer geworden, denen es nicht nur nicht gut geht, sondern die auch Angst um ihre Zukunft haben. Folge dieser Politik sind der Verlust an sozialer Sicherheit, Ängste vor sozialem Statusverlust, die zunehmende soziale Ungleichheit und zunehmende Konkurrenz zwischen den Menschen auf dem Arbeitsmarkt, die zu Hass und Abgrenzungen und „Treten nach Unten“ führt.
Gerade der politische Tunnelblick hat seine Ursachen oft in psychischem Stress, der nicht selten aus existenzbedrohenden Umständen erwächst. Die ganze Umwelt und hier besonders Andere und Fremde werden zunehmend als Bedrohung empfunden und verkürzt für die eigene Lage verantwortlich gemacht. Geradezu ein gefundenes Fressen für Rattenfänger vom rechten Rand, von der AfD (Angst für Deutschland) bis zur extremen Rechten.
Wenn die Zahlen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verdeutlichen, wie wir mit immer weniger Menschen immer mehr produzieren und die Produktivität der Beschäftigten immer noch stärker steigt als der Zuwachs des Sozialproduktes, dann macht dies eine andere Arbeitsmarkt- und Verteilungspolitik möglich: In die Diskussion gehören hier Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn- und Personalausgleich – und zwar dort, wo es geboten ist, Sabbatjahre, verkürzte Lebensarbeitszeit, etc, und natürlich das BGE.
Man muss dann nur den Mut haben, die Finanzierung des Sozialstaates z. B. durch eine Wertschöpfungsabgabe, z. B. eine Automatisierungs- oder Maschinensteuer, eine europaweite Finanztransaktionssteuer, eine Vermögenssteuer, auf breitere Füße zu stellen.
Aber zur Zeit geschieht die Entwicklung von der Industriegesellschaft hin zur Informations- und Wissensgesellschaft politisch planlos und birgt europaweit die Gefahr großen sozialen Unfriedens.
Allen Skeptikern sei gesagt, dass die ressourcenschonende und nachhaltige Informations- und Wissensgesellschaft weit davon entfernt sein wird, keine Industrie mehr zu haben. Zu behaupten, beispielsweise wir Piraten seien für eine De-Industrialisierung, gehört in den Bereich des politischen Bullshit-Bingo und offenbart nur die rückwärtsgewandte Wachstumspropaganda eines vorwiegend auf Turbo-Markt und Materialgüterwirtschaft setzenden Politikverständnisses.
Schreibe einen Kommentar