Und warum brennt hier eigentlich nicht alles?

Über Transparenz und (fehlendes?) Klassenbewusstsein

(verfasst zusammen mit @rndm_resistance)

Auf der Re:Publica hat gestern Bernhard Pörksen in seinem Talk mit dem Titel „Filter Clash. Die große Gereiztheit der vernetzten Welt“ unter anderem auf Untersuchungen hingewiesen, die sich mit Wut im Flugzeug beschäftigen. Warum rasten Menschen aus auf Flügen? Ein Faktor ist gegeben, wenn es 1. und 2. Klasse gibt und zB. Menschen der 2. Klasse, um zu ihrem Sitzplatz zu gelangen, durch die 1. Klasse laufen müssen. Die gegenseitige Sichtbarkeit erhöht bei beiden Gruppen die Wahrscheinlichkeit für Wutausbrüche. (Die einen sehen, wie man auch reisen kann. Die anderen sind genervt, weil „der Pöbel“ durch ihre Wohlfühlzone läuft.)

Was ist eigentlich Klasse?

Im alten Rom wurde mit dem Begriff die Zugehörigkeit zu einer Steuerklasse bezeichnet, die moderne Soziologie versteht darunter nach Pierre Bourdieu im Wesentlichen eine Gemeinsamkeit im Hinblick auf wirtschaftliche Verhältnisse (z.B. in Form von Lohnabhängigkeit), aber auch auf Habitus, d.h. eingelebte Gewohnheiten (die „Manieren“ im sozialen Raum), Sprechweisen („Soziolekt“) sowie das von klein auf anerzogene Selbstverständnis, das bei „Kindern aus gutem Hause“ von Anspruchsdenken, bei Kindern aus Arbeiter*innenhaushalten von der Betonung harter Arbeit geprägt ist.

Dazwischen gibt es in der heutigen Gesellschaft diverse Abstufungen wie beispielsweise die höheren Angestellten, deren Alltag als „white-collar workers“ die Erfahrungen der Ausübung von Macht mit denen des ausgebeutet-Werdens vereint. Diese jeweiligen Zugehörigkeiten zeichnen den Lebensweg vor und formen zugleich die Lebenswelt, in der ein Mensch die Welt und seine Rolle darin kennenlernt.

Wir leben -auch Dank des Internets- in Zeiten großer Transparenz. Man kann auf Instagram verfolgen, was die Reichen und Schönen machen. Gleichzeitig nimmt in vielen Ländern die Ungleichheit der Lebensverhältnisse (wieder) zu.

Warum führt nun diese Sichtbarkeit nicht zu größeren Unruhen? Wieso wird diese Spaltung der Gesellschaft als selbstverständlich und alternativlos wahrgenommen? Wieso werden immer wieder Parteien, die eine Wirtschafts- und Sozialpolitik zu Lasten der ohnehin schon Benachteiligten machen, von genau diesen Gruppen ins Amt gewählt?

Da ist zunächst das Heilsversprechen von Leistung im Kapitalismus. Der amerikanische Traum quasi. Jede*r kann ja, wenn er/sie sich nur genug anstrengt, auch selber reich werden. (Es wird dabei gerne ausgeblendet, dass es zumindest nicht sehr wahrscheinlich ist, durch Lohnarbeit reich zu werden. In den allermeisten Fällen geschieht dies durch Erbe.) Reicht diese kleine minimale versprochene Chance also aus, um eine ungleiche Gesellschaft zu befrieden? (Für den bisher kleinen Rest an Widerstand hat man eine zunehmend durchmilitarisierte Polizei, die das dann schon mit staatlich legitimierter Gewalt regelt.)

Wenn den einen am 1. Mai gesagt wird, sie sollten lieber arbeiten gehen, während von den anderen die Einkünfte aus der überteuerten Vermietung von Immobilien als legitime Arbeit betrachtet wird, so zeigt dies deutlich, dass zumindest diese Schicht durchaus Klassenbewusstsein hat. Warren Buffett, US-Milliardär, sagte einmal live bei CNN: „Es gibt tatsächlich Klassenkampf, und meine Klasse, die der Reichen, hat ihn gewonnen.“; Henry Ford, Pionier der hochgradig spezialisierten Industriearbeit (genau die, über die Marx schrieb, dass sie den Arbeiter abstumpfe und sein vielfältiges natürliches Potenzial verkommen lasse), wird ein Zitat zugeschrieben, nach dem es „noch vor morgen“ längst eine Revolution gäbe, wenn die Mehrzahl der Leute das System der Banken und des Geldes verstünde.

Die jedoch -und das ist das Bittere- die sich abgehängt fühlen, pöbeln zwar irgendwie gegen „die da oben“, finden aber nicht den Weg zu mehr Solidarität, sondern suchen zu häufig in der rechten Ecke ihr Heil. Durch Abgrenzung gegen die, die noch weniger haben. Gegen Hartz IV-Empfänger*innen, gegen Menschen ohne Wohnung, gegen Geflüchtete. Angeheizt von Parteien, die ihre Unterstützung von denjenigen erhalten, die die Aussicht fürchten, durch die Umverteilung einen Teil des Kuchens abgeben zu müssen. Derweil werden die, die für mehr Gerechtigkeit kämpfen und solidarisch handeln dafür vom Staat kriminalisiert und von ihren Mitbürger*innen als überempfindliche, faule Unruhestifter verunglimpft.

Warum wiegen sich noch immer die meisten Menschen in diesem Land wie auch andernorts in der vermeintlichen Sicherheit, auf der Gewinnerseite zu enden, anstatt die Logik zu hinterfragen, die ihnen ihren Platz zuweist – während sie täglich beim Abendessen ihr Leid an Überarbeitung, schlechten Löhnen und narzisstischen Vorgesetzten klagen?

… Fortsetzung folgt (Arbeitstitel: Über Ohnmacht, Selbstermächtigung und das Brechen von Regeln)

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Offener Brief an Richard David Precht

Sehr geehrter Herr Precht,

viele Ihrer Positionen teile ich – insbesondere zum Themenbereich „Digitalisierung und Informationsgesellschaft“ – und halte Ihre allgemeinverständlichen und sympathischen Darstellungen der Problematik für ausgewogen, erfrischend und die gesellschaftliche Debatte bereichernd. Danke dafür!

Allerdings machten Sie am 24.04.18 in der Sendung von Markus Lanz eine Bemerkung, mit der ich so ganz und gar nicht einverstanden bin. Sie sagten „das Silicon Valley hat das Weltbild der Kybernetik“. Ähnlich äußerten Sie sich bereits 2017 in einem Interview des Focus und auch in der Spiegel-Ausgabe 2018/17 von letzter Woche.

Kybernetik hat mit der Ideologie des Silicon Valley in etwa soviel zu tun wie eine Milchkuh mit Bierbrauen. Das sage ich als im Bereich „Bildung und Digitalisierung“ beruflich tätiger Naturwissenschaftler, der sich seit 1982 u.a. mit Kybernetik beschäftigt und als ehemaliger in bildungspolitischen Fragen engagierter Abgeordneter des Landtags von NRW (Piratenfraktion).

Und nicht zuletzt als Mensch, der einige der Kybernetiker der ersten Generation noch persönlich kennengelernt hat, als charismatische Menschen mit einer hochentwickelten Ethik mit Achtung vor jeglichem Leben, als Humanisten, Links-Liberale, Anarchisten und Hyperkreative.

Kybernetik ist keine Ideologie sondern ein transdisziplinärer wissenschaftlicher Ansatz, der seit seinem Entstehen danach fragt, wie Autonomie organisiert ist, bzw. sich selbst organisiert. Die Kybernetiker fanden heraus, dass diese Organisation nicht-hierarchisch und selbstrückbezüglich ist. Man könnte Kybernetik im weiteren Sinne sogar den sog. „life-sciences“ zuordnen. Und mein Dackel bestätigt mir jeden Tag – im Rahmen seiner Möglichkeiten – diese Autonomie.

Für lesende Zeitgenossen bestätigt sich das in den Arbeiten von Warren McCulloch, Gregory Bateson, Heinz von Foerster und insbesondere im Werk des Kybernetikphilosophen Gotthard Günther, um nur vier Protagonisten der Kybernetik zu nennen.

In Ihrer Erklärung dazu bei Lanz sprachen Sie von Reiz und Reflex, das weist deutlich auf die wem auch immer sei Dank überkommenen simplen Input-Output-Denkmodelle des Behaviorismus hin. Und die haben mit Kybernetik nichts zu tun, wohl aber mit dem Silicon Valley, da haben Sie recht. Denn was dort praktiziert und algorithmisiert wird, ist nichts als hierarchisch organisierte Datenverarbeitung, EDV eben. Kybernetisches Denken – so wie ich es kennengelernt habe – ist Lichtjahre davon enfernt.

Die Projekte und Ideen des Silicon Valley sind durch und durch hierarchisch organisiert, unabhängig davon, ob deren Computer nun Räder haben – wie die sog. „autonomen“ Fahrzeuge -, oder nicht, wie die Datenstaubsauger- und Timeline-Manipulationsalgorithmen von Facebook, Google und Co. Selbstorganisierend im Valley sind lediglich die menschlichen Produktionen und Projektionen von Fiktionalem wie Superintelligenzen, Transhumanismen, Gläubigkeiten an die technologische Unsterblichkeit und anderem Nonsens.

Für das Begreifen der aktuell in vollem Gange befindlichen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Umbrüche kann unsere denkende Reflexion gar nicht tief genug sein.

Dazu habe ich mich bereits detaillierter geäußert, u.a. hier im Blog.

Und ich bin der festen Überzeugung, dass die schon in den 40ern bis 70ern des vorigen Jh. erarbeiteten Erkenntnisse aus der Kybernetik weitgehende Beiträge zur massiven Kritik dessen enthalten, was wir heute die kalifornische, die Silicon-Valley-Ideologie und ihre algorithmische Praxis nennen.

Eine Ablehnung, ein Verzicht darauf käme – aus meiner Sicht – einer Selbstbeschneidung in den Argumentationsmöglichkeiten gleich.

Ebenso wie die frühen Kybernetiker bin ich stets zum aktiven Tanz im Dialog bereit und hätte Sie diesbezüglich am 9. April morgens auf dem ICE-Bahnsteig in Düsseldorf ansprechen können. Stattdessen beließ ich es bei einem kurzen Kompliment zu Ihnen und Ihrer Arbeit, woraufhin Sie sich höflich bedankten. Denn es ist nicht meine Art, Menschen auf Reisen zuzutexten, wo man vielleicht lieber für sich sein möchte.

Aber vielleicht können wir ein Gespäch dazu einmal nachholen, das wäre schön. Sie finden mich im Raum Düsseldorf [jpaul(Klammeraffe)xpertnet.de]

Es mag Mitmenschen geben, die das Schreiben von solchen offenen Briefen für sinnlos halten, als ebenso wie Sie in das Gefüge unserer Welt eingebundener, denkender und handelnder Mitmensch teile ich diese Ansicht nicht.

Mit herzlichen Grüßen, Ihr
Joachim Paul

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System

Dirk Baecker zum Systembegriff – reloaded

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Am 9. April 2018 veröffentlichte ich an dieser Stelle einen Beitrag mit dem Titel „Anti-Aufklärung? Kriegstechnologie? Anmerkungen zu blinden Flecken im Narrativ der Kybernetik“.

Der Soziologe Dirk Baecker sprach mir als einer der ersten seine Anerkennung aus, der Beitrag sei seiner Auffassung nach „außerordentlich hilfreich“. Und er erinnerte auch gleich daran, dass der Systembegriff in seinem Narrativ ganz ähnlichen blinden Flecken und Missverständnissen unterworfen sei wie der der Kybernetik.

Möglicherweise – und das ist jetzt meine Vermutung – liegen diesen Missverständnissen bezogen auf den Systembegriff ganz ähnliche Mechanismen der iterierten Interpretation zugrunde.

Die Schwesternschaft von Kybernetik und Systemtheorie – gemeinhin begründbar aus der Pflege auch in der Methodik ähnlicher sowie aufeinander Bezug nehmender wissenschaftlicher Fragestellungen – erhielte somit aus dem Feld der kritischen (Kriegs-)Interpretationen heraus eine weitere Komponente. Diese fällt jedoch – und das darf hier gesagt werden – in ihrem Reflexionsniveau weit hinter die kritische Selbstreflexion der VertreterInnen beider Bereiche zurück.

Wie dem auch sei, Dirk Baecker schreibt – dankenswerterweise – gegen diese Missverständnisse an, und das schon eine ganze Weile. Daher republizieren wir hier mit seiner freundlichen Genehmigung einen Beitrag mit dem Titel „System“, der 2010 im Sonderheft 6 des „Archiv für Begriffsgeschichte“ erstpubliziert wurde. Dort heißt es:

„Die Nachbarschaft von Kybernetik und Systemtheorie hat meines Erachtens nicht darin ihre Pointe, daß beide als technokratische Geheimwissenschaften der Steuerung und Kontrolle komplexer Systeme zu Zeiten des Kalten Kriegs gerade recht kamen,“

– Baecker nimmt hier Bezug auf gleich eine ganze Reihe einschlägiger Publikationen [*] –

„sondern darin, daß die von der Kybernetik verwendeten mathematischen Ideen die Möglichkeit boten, eine der zentralen Fragestellungen des bis dahin überlieferten Systembegriffs zu bearbeiten, nämlich die Fragestellung eines organismischen oder auch ganzheitlichen Systemerhalts unter der Bedingung einer rauschenden Umwelt.“

„Ganzheitlicher Systemerhalt unter der Bedingung einer rauschenden Umwelt“, der Term trägt aphoristische Züge und sprengt sogleich jeden machtpolitischen Interpretationsansatz, indem er das Telos eines kybernetischen Systems in einen epistemologischen Fragenraum stellt.

Baecker transformiert die nach McCulloch übrig gebliebenen drei ungelösten Fragestellungen der Kybernetik in sprachliche Varianten: Wie wird gezählt/gerechnet, wie wird getauscht und wie wird geordnet? Hernach rollt er den Systembegriff noch einmal aus und schlägt vor, ihn „für die Formulierung des Selbstreferenzproblems zu reservieren“.

Gleichwohl gibt es keine geschlossene Formulierung des Systembegriffs. Eine solche wäre ein Widerspruch in sich. Seine Leistung so Baecker, liege „in der Ordnung von Beobachtungen und Beschreibungen, die es mit dem Problem komplexer Phänomene aufnehmen, den Beobachter mit Einheit und Vielfalt, Öffnung und Schließung, Bestimmtheit und Unbestimmtheit zugleich zu konfrontieren.“ Oder, unter Bezugnahme auf Gotthard Günther, jedoch mit anderen Worten: „Das System ist sein eigener Unruhezustand.“

Das ist subversiv im besten Sinne.

Viel Spaß beim Lesen,

Joachim Paul (Hg.)

[*] Die Originalfussnote Baeckers: „So jedoch Paul N. Edwards: The Closed World. Computers and the Politics of Discourse in Cold War America (Cambridge, Mass. 1996), und Tiqqun: Kybernetik und Revolte (Berlin 2007). Vgl. auch, tendenziell vorsichtiger, Steve J. Heims: John von Neumann and Norbert Wiener. From Mathematics to the Technologies of Live and Death (Cambridge, Mass. 1982) und N. Katherine Hayles: How We Became Posthuman. Virtual Bodies in Cybernetics, Literature, and Informatics (Chicago 1999). Stärker um die Rekonstruktion kybernetischer Konzepte bemüht ist Andrew Pickering: Kybernetik und neue Ontologien (Berlin 2007).“

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Anti-Aufklärung? Kriegstechnologie? – Anmerkungen zu blinden Flecken im Narrativ der Kybernetik

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„Solange etwas ist, ist es nicht das, was es gewesen sein wird.“ Martin Walser

Aufriss

„Das Menschenbild des Silicon Valley ist das der Kybernetik, nicht das der Aufklärung“, äußerte der Philosoph Richard David Precht am 16.12.2017 in einem Interview des Magazins FOCUS anlässlich einer Buchveröffentlichung. Auf die Rückfrage des Interviewers, was das denn bedeute, erläuterte er, dass „die Aufklärung“ … „den Menschen als Individuum“ betrachte, sie seinen Wunsch des Gebrauchs der Freiheit respektiere und ihn auffordere, „die eigene Urteilskraft zu schärfen, damit er als mündiger Bürger zur Entwicklung der Gesellschaft beitragen“ könne. Allerdings, so führte Precht weiter aus, müsse „dieser Bürger natürlich auch eine Struktur in der Gesellschaft vorfinden, die es ihm“ ermögliche, „sich mit seinen individuellen Vorstellungen an ihr zu beteiligen.“

Grundlegend anders sei hingegen das Menschenbild der Kybernetik. Es gehe laut Precht davon aus, „dass sich der Mensch seiner Umwelt anpasst.“ … „Was Lust auslöst, das findet der Mensch gut, und was Unlust auslöst, findet er schlecht. Wenn ich also das Verhalten der Menschen verändern will, dann muss ich – wie bei Tierversuchen im Labor – einfach ihre Umweltbedingungen verändern, indem gezielt andere Lust- bzw. Erfolgsreize gesetzt werden, gewinne ich Einfluss auf das Verhalten der Leute, ohne Rücksicht auf Vorstellungen von individueller Freiheit, Urteilskraft oder Mündigkeit zu nehmen“, so die Ausführungen Prechts.[1]

Der Physiker und Kybernetiker Heinz von Foerster, damals Leiter eines führenden Kybernetik-Instituts, des Biological Computer Lab (BCL) an der University of Illinois, Urbana-Champaign, äußerte sich in seinem Grundsatzreferat „Die Verantwortung des Experten“ auf der Herbsttagung der American Society for Cybernetics am 19.12.1971 wie folgt:

„Der Großteil unserer institutionalisierten Erziehungs-bemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. … Da unser Erziehungssystem daraufhin angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein Zweck darin, alle jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen. Dies zeigt sich am deutlichsten in unserer Methode des Prüfens, die nur Fragen zulässt, auf die die Antworten bereits bekannt (oder definiert) sind, und die folglich vom Schüler auswendig gelernt werden müssen. Ich möchte diese Fragen als „illegitime Fragen“ bezeichnen.“[2]

Schon beim bloßen Überfliegen der beiden Aussagen fällt auf, dass hier etwas ganz und gar nicht passen will. Der Philosoph deutet Kybernetik als Anpassung und projiziert sie sogleich als Menschenbild auf das Silicon Valley, der Kybernetiker hingegen spricht sich für Unberechenbarkeit und Kreativität aus, mehr noch, später entwickelt er im Nachgang zum kategorischen Imperativ des Aufklärers Kant einen (kybern-)ethischen Imperativ:

„Handle stets so, dass die Zahl der Wahlmöglichkeiten größer wird.“

Zudem steht von Foersters Imperativ in krassem Gegensatz zu algorithmischen Praktiken des Silicon Valley, die uns Nutzer vor Entscheidungen und damit Wahlmöglichkeiten „schützen“ wollen. Die Tatsache, dass Facebook einerseits zu verhindern sucht, dass wir Nippel zu sehen bekommen und uns andererseits über Manipulationen der Timelines und Newsfeeds Kommunikations- und Informations-optionen vorenthält und uns „Klick-Entscheidungen“ abnehmen will, ist hier für nur ein, dafür ein besonders griffiges Beispiel. Die jüngsten Enthüllungen um Cambridge Analytica gehören in denselben Kontext.

Die Kybernetik, Ideologie des Valley und Kampfbegriff in der Debatte um Digitalisierung und Bildung

Precht allerdings steht mit seiner Interpretation der Kybernetik als Silicon Valley-Ideologie nicht allein.

In den letzten Jahren wurde der Term „Kybernetik“, der einen längst totgeglaubten transdisziplinären Wissenschaftsansatz in den 40er bis 70er-Jahren bezeichnet, als ideologischer Kampfbegriff aufgeladen und hielt sogar Einzug in die politischen Debatten. Das zwar nicht an vorderster Front, jedoch immerhin in Anhörungen in deutschen Landesparlamenten, insbesondere im Kontext Digitalisierung und Schule sowie in mehreren einschlägigen Buchpublikationen.

Der Bildungswissenschaftler Matthias Burchardt (Universität zu Köln) und der Mediengestalter und -theoretiker Ralf Lankau (Hochschule Offenburg) sind gefragte Experten in solchen Anhörungen. Gleichzeitig sind sie Gründungsmitglieder des Bündnisses für humane Bildung, das in den Kontexten frühkindliche Bildung, Schule und Hochschule den Digitalisierungsbemühungen gegenüber aus einer Haltung der Sorge heraus sehr kritische und teilweise durchaus bedenkenswerte Positionen vertritt, sofern man von den Interpretationen zur Kybernetik einmal absieht.[3] Die negativen Konnotationen des Begriffs werden meist im Begründungsteil der eigenen Positionen genutzt.

So äußerte sich Burchardt in einer Anhörung des Landtages von NRW am 04.05.2016:

„Das Schlagwort Digitalisierung fasst eigentlich viel von dem zusammen, was im Grunde ein ganz alter Hut ist. Spätestens seit den 1940er Jahren und den Macy-Konferenzen in den USA versucht man die Kriegstechnologie der Kybernetik nutzbar zumachen zur Steuerung von offenen Gesellschaften.“[4]

Zur Kriegstechnologie wird hier, was andernorts als Zweig der Wissenschaften, als ein Ansatz zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin firmierte. Der Vollständigkeit halber muss angemerkt werden, dass die die zehn Konferenzen 1946 – 1953 finanzierende Josiah Macy-Foundation sich zur Förderung der Ausbildung in medizinischen Berufen einsetzt.

In der schriftlichen Stellungnahme Burchardts zur selben Anhörung liest sich seine Kritik wie folgt:

„Das kybernetische Instrumentarium der Informations-erhebung, Kontrolle und Steuerung von sozialen Systemen beflügelt schon seit Beginn die Allmachtsphantasien postdemokratischer Regierungskonzepte (Vgl. z.B. Wiener 1952 oder Tiqqun 2007). Das technokratische Regime der Steuerung unterwirft die soziale Eigenlogik der gesellschaftlichen Felder prozedural unter die Rationalität des informationellen Regelkreises und transformiert dadurch elementar-humane Lebensformen zu technomorphen Funktionsgebilden.“[5]

Burchardt bezieht sich hier neben dem Mitbegründer der Kybernetik und erwiesenen Pazifisten Norbert Wiener auf die 2007 veröffentlichte Schrift „Kybernetik und Revolte“ [6] des anonymen französischen Autorenkollektivs Tiqqun, das eher als eine Art Manifest, als ideologisch aufgeladene polemische Kampfschrift gelesen werden kann denn als historisch-wissenschaftliche Aufarbeitung. Dies lässt sich auch unschwer daran ablesen, dass das Tiqqun-Pamphlet mit Ausnahme eines Zitats von Norbert Wiener nicht eine einzige kybernetische Primärquelle zitiert. Wie auch, denn diese Quellen sind alles andere als geeignet, die Tiqqun-Interpretation zu stützen.

Albert Müller, Historiker an der Universität Wien, profunder Kenner der Kybernetik und ihrer Geschichte sowie Betreuer von gleich drei wissenschaftlichen Nachlässen namhafter Kybernetiker, Heinz von Foerster, Gordon Pask und Ranulph Glanville, bezeichnet dieses Schriftstück als eine „paranoid anmutende Polemik. Immerhin“ werde, so Müller, „hier – sinngemäß – geäußert, Kybernetik hätte sich des modernen Kapitalismus bemächtigt und würde nun die Welt regieren.“[7]

Zitiert also ein Autor diese Quelle, um seine Position zur Kybernetik zu begründen, so setzt er sich möglicherweise leichtfertig dem Vorwurf aus, das für ihn eher eine geschmackliche Präferenz denn wissenschaftlich-historische Akkuratesse im Vordergrund steht.

In einschlägigen Publikationen US-amerikanischer Kritiker des Silicon Valley, der kalifornischen Ideologie, hingegen gelingt es sehr erfolgreich, nicht fündig zu werden. Etwa in Franklin Foer‘s „World without Mind“, das u.a. die Ideengeschichte des Valley sehr kritisch reflektiert oder in Michael Patrick Lynch‘s „The Internet of Us – Knowing More & Understanding Less in the Age of Big Data“ findet sich nicht ein einziges Mal der Term „cybernetics“ genannt, dafür aber das Präfix „cyber-“ in allen möglichen Kompositabildungen.[8,9] Das wirft Fragen auf. Das „Menschenbild der Kybernetik“, eine oder gar die Ideologie des Valley?

Wohlgemerkt, es gibt in den USA eine kleine wissenschaftliche Gesellschaft namens „American Society for Cybernetics“, ASC. Einmal umgekehrt gefragt, wenn Cybernetics doch so einflussreich sein, den Kapitalismus und die neoliberale Ideologie des Valley prägen soll, warum sind US-Autoren dann so blind, dies nicht zu bemerken und zu benennen? Oder sind nur wir Europäer zu dieser tieferen Einsicht prädestiniert?

Folgen wir Ralf Lankau, dann „degradieren Kybernetiker den Menschen zu einer Fehlkonstruktion, der sich den Rechnern unterzuordnen habe, […] und für die Singularisten, Transhumanisten und Kybernetiker sind Maschinen ohnehin die „besseren Menschen“, die den fehlerhaften „homo sapiens“ besser früher als später ersetzen.“[10]

Wer hierzu Günther Anders‘ Satz „Der Mensch wird nebengeschichtlich“ assoziiert, liegt nicht ganz falsch. Ein erstes Indiz für eine genuin europäische Spur der Interpretation.

In einer Stellungnahme für den hessischen Landtag zum Thema Digitalisierung und schulische Bildung schreibt Lankau, dass „Digitalisierung und Neue Lernkultur“ … „zwei Techniken der neoliberalen und marktradikalen Vereinzelung und Isolierung von Menschen“ seien, „um sie einfacher gemäß der jeweiligen Interessen der Anbieter von (Lern-)Software) manipulieren und steuern zu können.“ Dahinter steckten „die reaktivierten Theorien der Kybernetik und des Behaviorismus, realisiert mit Hilfe von Digitaltechnik und Netzwerken“, so Lankau sinngemäß.[11]

Noch drastischer drückt er es in einer Buchpublikation aus:

„Bis heute setzt das kybernetische Denken Kommunikation als Signalübertragung (bzw. Nachrichten-übermittlung) gleich mit Mensch und Gesellschaft als steuerbaren Maschinen. Es findet sich in Kommunikationsmodellen der Nachrichtentechniker Shannon und Weaver ebenso wie bei den Behavioristen mit ihren Input-Output-Systemen (I-O-S) oder dem »programmierten Lernen«, das unterstellt, man könne das Lernen von Menschen programmieren und steuern wie Maschinen.“[12]

Die Kybernetik soll also ein deterministisches Menschenbild vertreten, mit dem Behaviorismus unter einer Decke stecken und das Ziel haben, ganze Gesellschaften zu steuern und zu manipulieren.

Kybernetik und Behaviorismus – eine kurze Spurensuche

Eine Spurensuche zu den Begrifflichkeiten Behaviorismus und Kybernetik führt zurück zu einer Arbeit, deren Veröffentlichung 1943 weit vor den für die Kybernetik begriffsbildenden zehn Macy-Konferenzen (1946 – 1953) liegt. Sie stammt von dem Autorentrio Rosenblueth, Wiener und Bigelow, trägt den Titel „Behavior, Purpose and Teleology“ und führt erstmals die Begrifflichkeiten des Feedback und der Zielorientierung (Teleology) von Systemen ein.[13]

Der US-Wissenschaftshistoriker Peter Galison besteht in seinem einflussreichen Aufsatz „The Ontology of the Enemy: Norbert Wiener and the Cybernetic Vision“ [14] darauf, die Autoren von Behavior … „als Adepten des Behaviorismus zu etikettieren“.[7] Deutliche Äußerungen zum Behaviorismus von Wiener selbst bestätigen dies jedoch nicht:

„Behaviorism as we all know is an established method of biological and psychological study but I have nowhere seen an adequate attempt to analyze the intrinsic possibilities of types of behavior.“[15]

Und wie Albert Müller bemerkt, kann und muss der Aufsatz „Behavior …“ vielmehr als Abgrenzung und „implizite Fundamentalkritik“ am Behaviorismus gelesen werden. Er repräsentiert gewissermaßen eine Art Zeugungsakt für die neue Disziplin der Kybernetik, da hier erstmals wichtige Begrifflichkeiten eingeführt werden.

Galisons Interpretation vermag in diesem Punkt nicht zu überzeugen, denn die kybernetische Fundamentalkritik am Behaviorismus ist allzu leicht nachvollziehbar. Denn für seine simplen Modelle des Verhaltens als lineare Ketten aus Reiz, Reizverarbeitung und Reaktion stellen das Planen und die zielgerichtete Handlung ein massives Problem dar. Die behavioristische Beschreibung mag für die kausale Ereigniskette aus dem Tennisspiel, ankommender Ball – Reaktion – Aktion/Return, gerade noch hinreichend sein, der gute Tennisspieler jedoch antizipiert die Aktionen des Gegners und plant gewissermaßen seine eigenen Schläge. Und sie versagt völlig bei dem Versuch, das improvisierende Klavierspiel – im Moment der Improvisation – z.B. eines Brad Mehldau oder eines Keith Jarrett auch nur im Ansatz zu beschreiben.

Zwei Ordnungen der Kybernetik

Gewissermaßen als Beginn der Kybernetik als wissenschaftliche Disziplin – der Begriff selbst ist antiken Ursprungs – werden in den Kultur- und Medienwissenschaften die schon erwähnten zehn Macy-Konferenzen begriffen, bei denen der Physiologe Warren McCulloch den Vorsitz führte.[16] Gleichwohl müssen hier neben der schon genannten Arbeit „Behavior …“ noch mindestens zwei weitere Publikationen genannt werden, deren Veröffentlichungszeitpunkte deutlich vor den Konferenzen liegen. Hierzu gehört der ebenfalls 1943 erschienene Aufsatz „A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity“ von Warren McCulloch und Walter Pitts, der ein erstes formales Konzept zur Beschreibung neuronaler Netzwerke liefert und somit auch den Beginn der Neuroinformatik markiert.[17]

Und bereits 1945 bricht eben jener Warren McCulloch mit dem Alleinanspruch der Hierarchie als (lineares) Ordnungsschema. In „A Heterarchy of Values determined by the Topology of Nervous Nets“ stellt er der Hierarchie – am Beispiel der platonischen Begriffs-pyramide, quasi der Mutter aller Hierarchien – die Heterarchie (Nebenordnung, Ko-Ordination) als gleichberechtigtes Komplementär-prinzip an die Seite.[18] Hiermit kritisiert er – unter Bezugnahme auf neuronale Strukturen (Topologien) im Rückenmark von Wirbeltieren – explizit den wissenschaftlichen Alleinvertretungsanspruch der klassischen Aristotelisch-Boole‘schen zweiwertigen Logik als unzureichend. Diese Arbeit kann auch als Vorspiel zu dem begriffen werden, was Heinz von Foerster und Kollegen später als die Kybernetik zweiter Ordnung (2nd-order cybernetics) bezeichneten. Sie markiert des weiteren einen Grenzstein dessen, was heute mit den aktuellen Verfahren und Modellen der Neuroinformatik (ANNs, deep learning, etc.) überhaupt möglich ist. Bemerkenswerterweise wird dieser Grenzstein in Grundlagenwerken der Neuroinformatik entweder „vergessen“, oder die Autoren haben überhaupt keine Kenntnis von ihm.

Die Unterschiede zwischen den Kybernetiken erster und zweiter Ordnung hat Francisco Varela am knappsten und griffigsten dargestellt. Die Kybernetik erster Ordnung beschäftigt sich mit beobachtbaren Systemen, die Kybernetik zweiter Ordnung mit beobachtenden Systemen.[19]

Damit wird deutlich, dass im 2nd-order-Bereich das – menschliche – Subjekt ins Spiel gelangt. Eine bislang den Geisteswissenschaften vorbehaltene Domäne. „Kybernetik untersucht alle Phänomene in Unabhängigkeit ihres Materials, so sie regelgeleitet und reproduzierbar sind“, bemerkt hierzu W. Ross Ashby.[20] Hierin implizit enthalten ist der Kern einer neuen wissenschaftlichen Denkkultur, die den klassischen Methodendualismus zwischen den – idiographischen – Geistes- oder Humanwissenschaften und den subjektlosen – nomothetischen – Naturwissenschaften in Frage stellt. Bei konservativ ausgerichteten Wissenschaftlern beider Bereiche kann dies jedoch Unbehagen und Misstrauen gegenüber der Kybernetik induzieren. Möglicherweise liegt hierin – in einer Art Konkurrenzempfinden – ein tieferer Grund dafür, dass einige Geisteswissenschaftler negativen Konnotationen des Begriffs der Kybernetik zuneigen. Dies gilt insbesondere für das Werk des „Philosophen der Kybernetik“, Gotthard Günther, der sich ausgewiesenermaßen als Grenzgänger und Brückenbauer zwischen Formalem und Sprachlichem, zwischen Zahl und Begriff (Number and Logos), betätigte.

Kybernetisches Denken – insbesondere das der 2nd-order Kybernetiker – firmiert somit als eine wissenschaftliche Geste, die sich gegen die bestehenden – wissenschaftlichen und gesellschaftlich-politischen – Verhältnisse richtet! Die eingangs zitierte Bemerkung von Foersters ist nur eine von überaus zahlreichen Belegstellen bei zahlreichen Autoren der Kybernetik.

Die Charakterisierung der Kybernetik im medienwissenschaftlichen Narrativ als Kriegswissenschaft und Methoden- und Modellbaukasten für soziale Kontrolle, Steuerung und Manipulation steht also belegbar in einem überaus merkwürdigen Widerspruch zu vielen kybernetischen Primärquellen und darüber hinaus zur Selbstwahrnehmung und Selbstpräsentation vieler Kybernetiker. Albert Müller merkt dazu an:

„Nicht wenige von ihnen sahen sich selbst als politisch links oder liberal, mitunter gar als anarchistisch.“[7]

Nun kommen aber die Konnotationen und Interpretationen der oben zitierten Personen und so einiger weiterer Autoren nicht von ungefähr. Daher gilt es, die Spur dieser Realitätskonstruktionen zum Begriff der Kybernetik einmal zu untersuchen, zu versuchen, sie nachzuzeichnen.

Die lückenhafte Spur der Kybernetik in Kultur- und Medienwissenschaften

In den letzten beiden Jahrzehnten erfuhr der Begriff der Kybernetik in kultur- und medienwissenschaftlichen Kontexten und jüngst auch in politischen Debatten im eher linken Lager eine publizistische Renaissance.

Folgendes sei hier neben zahlreichen kleineren Artikeln und Blogbeiträgen stellvertretend genannt. 2007/08 erschienen drei Buchpublikationen, die Kybernetik entweder im Titel oder im Untertitel tragen, das schon erwähnte „Kybernetik und Revolte“ des frz. Autorenkollektivs, Andrew Pickering, „Kybernetik und neue Ontologien“ (Berlin 2007) sowie der Sammelband „Die Transformation des Humanen. Beiträge zur Kulturgeschichte der Kybernetik (Hg. Michael Hagner u. Erich Hörl, Frankfurt a.M. 2008).

In einer „zweiten Welle“ folgten 2012 Rainer C. Becker, „Black Box Computer – Zur Wissensgeschichte einer universellen kybernetischen Maschine“ (Bielefeld 2012, eine Dissertation aus 2008), 2016 das recht populär gewordene und vielfach rezensierte Werk von Thomas Rid, „Maschinendämmerung – Eine kurze Geschichte der Kybernetik“ (Berlin 2016) und 2017 „Kybernetik, Kapitalismus, Revolutionen – Emanzipatorische Perspektiven im technologischen Wandel“ (Hg. Paul Buckermann, Anne Koppenburger, Simon Schaupp, Münster 2017), wiederum ein Sammelband.

Und über Anna-Verena Nosthoff und Felix Maschewski fand unlängst das Thema „Kybernetisierung des Politischen“ [21] auch Eingang in die Debatten z.B. bei der Rosa Luxemburg-Stiftung.

Nahezu alle genannten Veröffentlichungen greifen zitierend und interpretierend zurück auf das 2003 und 2004 von Claus Pias herausgegebene 2-bändige Werk „Cybernetics / Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953“.[22] Der erste Band enthält sämtliche Protokolle der letzten fünf der insgesamt zehn Konferenzen. Die Wortprotokolle entstanden auf die Initiative von Heinz von Foerster, der ab der sechsten Konferenz mit der ursprünglichen Herausgeber-schaft beauftragt war. Er entschloss sich, die mitstenographierten Diskussionen nahezu vollständig transkribieren zu lassen, um den dialogisch-explorierenden Charakter der Gespräche zu erhalten. Letztlich gebührt Claus Pias der wesentliche Dank dafür, diese Bände – der zweite Band von Cybernetics beinhaltet interpretierende Essays und weitere Dokumente zur Kybernetik – für eine breitere Diskussionsgrundlage herausgegeben zu haben.

Sehr merkwürdig mutet die Tatsache an, dass außer bei Becker in „Black Box Computer“ und in den Aufsätzen von Erich Hörl und des Soziologen Dirk Baecker die vielleicht bedeutendste Folge der Macy-Konferenzen überhaupt nicht erwähnt wird, noch nicht einmal im Werk von Thomas Rid.

Gemeint ist die Gründung eines eigenen Forschungsinstituts, des Biological Computer Laboratory (BCL, Univ.. of Illinois, Urbana-Champaign), das von 1958 bis 1976 existierte und von Heinz von Foerster geleitet wurde. Sogar der Herausgeber Claus Pias erwähnt es in seiner Einstimmung zu dem 2-bändigen Werk nicht. Dies bleibt ausschließlich Heinz von Foersters „Erinnerungen …“ im 2. Band überlassen.[23] Und das ist umso verwunderlicher, weil dort erstmals die Idee des Parallelrechnens entstand. Albert Müller kritisiert ebenfalls, dass das BCL in der kultur- und medienwissenschaftlichen Rezeption so gut wie gar nicht erwähnt wird.[24]

Dabei entstanden am BCL ganz wesentliche Arbeiten zu neuronalen Netzwerken, zur Theorie autopoietischer Systeme (Maturana/Varela), zu Selbstorganisation und zur Philosophie der Kybernetik, zur Polykontexturalitätstheorie und Logik (Gotthard Günther, Lars Löfgren) sowie zu Musiktheorie und Computermusik (Herbert Brün, Heinz von Foerster), um nur einige wenige zu nennen. Das Institut ist somit – gemessen an den dort arbeitenden Personen und ihren zahlreichen Veröffentlichungen – in der Ideengeschichte der Kybernetik kein wissenschaftshistorisch vernachlässigbares Detail!

In seinem einflussreichen Aufsatz „The Ontology …“ [14] erwähnt Galison das BCL nicht, obwohl dort die prominentesten Vertreter der Kybernetik entweder arbeiteten oder mit den Kollegen am BCL kooperierten, darunter auch Warren McCulloch, Norbert Wiener und Gregory Bateson. Galison bleibt seltsam fixiert auf Norbert Wiener, John von Neumann und die Bombe sowie seine These von der Kybernetik als Kriegswissenschaft. Bemerkenswert ist, dass gerade diese These durch die Bezugnahme auf das BCL – vordergründig betrachtet – eine zusätzliche Bekräftigung hätte erfahren können, denn das Institut wurde überwiegend durch das US-Militär finanziert, insbesondere durch das AFOSR, das Airforce Office of Scientific Research.

Es hat in mehrererlei Hinsicht und insbesondere für uns Europäer durchaus etwas Groteskes, wenn z.B. der philosophische Aufsatz Gotthard Günthers, „Das metaphysische Problem einer Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik“, ebenso wie andere am BCL entstandene Texte Günthers den Vermerk tragen: „Prepared under the Sponsorship of the Airforce Office of Scientific Reseach, Directorate of Information Sciences, Grant AF-AFOSR-xx“.[25]

Dabei hatte diese Förderung durch die Airforce ihre Konsequenzen. Für die Rezeption des Autors in Deutschland. Als Günther 1968 das 1967 erschienene Werk „Zur Logik der Sozialwissenschaften“ von Jürgen Habermas in der Zeitschrift „Soziale Welt“ scharf kritisierte, wurde kolportiert, dass aus Kreisen um Habermas geäußert worden sei, den Günther müsse man nicht lesen, der sei ja von der US-Airforce bezahlt.[26]

Hierzu ist anzumerken, dass es in den USA bis Ende der 60er-Jahre eine gemeinsame Verantwortung aller staatlichen Institutionen für die staatliche Forschungsförderung – insbesondere der Grundlagen-forschung – gab, dazu gehörte eben auch das Militär.

Die Gegenthese zu Galisons Kybernetik als Kriegswissenschaft lässt sich flankieren durch eine historisch-politische Tatsache, die in medien- und kulturwissenschaftlichen Publikationen in Europa ebenso wenig Erwähnung findet wie das BCL selbst, sieht man einmal von Albert Müller ab.

Die Förderbedingungen änderten sich mit den studentischen Protesten gegen den Vietnamkrieg in den USA. Senator Mike Mansfield machte, um die Situation an den Universitäten zu entspannen, den Vorschlag, alle Forschungsförderungen des Militärs zu überprüfen und nur noch solche Projekte zu fördern, die einen direkten militärischen Nutzen hatten.[27] 1969 verabschiedete daher der US-Kongress das sogenannte Mansfield-Amendment, das 1970 in den Defense Procurement Authorization Act integriert wurde.[28]

Entsprechend dem Mansfield-Amendment war nun jeder Wissenschaftler, der Förderungen über das DoD, das Department of Denfense, erhielt, angehalten, die Bezüge seiner Forschungen zu militärischen Aufgaben zu erläutern. Heinz von Foerster erklärte freimütig: „the research at BCL was not related to a military mission“.[29] Damit endete die Förderung für das BCL, da sich woanders Mittel im selben Umfang nicht beschaffen ließen. Das Institut wurde 1974 geschlossen und abgewickelt.

Filterblasen in Kultur- und Medienwissenschaften – der militärische Bias

„Die Sprache sagt: „Geh dort lang, und wenn du das und das siehst, biege in die und die Richtung ein.“ Mit anderen Worten: sie bezieht sich auf den Diskurs des Anderen“ Friedrich Kittler, Jacques Lacan zitierend. [30]

Neben Galison gibt es mindestens eine zweite Spur der Zitationen und Interpretationen zur Kriegswissenschaft, die auf den einflussreichen Kulturwissenschaftler und Medienphilosophen Friedrich Kittler zurückgeht. Von ihm ist hinreichend bekannt, dass er immer wieder interpretierend auf Kriegstechnologie und Krieg als Ursprung Bezug nahm.[31] Nicht wenige kritisierten seine Interpretationen – in diesem speziellen Punkt! – als zu monoperspektivisch fixiert.[26]

Sowohl für das Schillersche Spiel als urmenschliche Aktivität als auch für die Subversion als Ausdruck kreativer Betätigung gibt es dann – als alternative mögliche Ursprünge von Technik und Technologie – dort keine Plätze mehr.

Diese Kittlersche Spur der Interpretation lässt sich sogar noch weiter zurückverfolgen bis zu Martin Heidegger [32], der das Wort „Kybernetik“ öffentlich nur ein einziges Mal in den Mund genommen hat. Auf die Frage von Rudolf Augstein und Georg Wolff zum Ende der Philosophie in seinem Spiegel-Interview: „Und wer nimmt den Platz der Philosophie jetzt ein?“, antwortete er knapp: „Die Kybernetik.“[33]

Heideggers Schatten ist lang – in mancherlei Hinsicht. Jedenfalls hatte er den Kybernetik-Philosophen Gotthard Günther eingehend studiert, dies jedoch nie öffentlich gemacht. Wir sind gezwungen, uns bis zur Öffnung des Heideggerschen Archivs auf eine von Otto Pöggeler schriftlich verifizierte mündliche Bemerkung Heideggers ihm gegenüber zu verlassen, nach der Heidegger gesagt hat, dass er die Lektüre Günthers für sehr lehrreich halte, gerade weil er scheitere.[34]

Die Interpretationen aus Kultur- und Medienwissenschaften sowie die Positionen der sich darauf in politischen Debatten Berufenden einfach als Technoskeptizismus abzutun greift fehl. Es spiegelt sich dort vielmehr ein Verfahren im Diskurs, das sich selbst durch einen Mechanismus der Iteration eingrenzt und sich gegen alternative oder zusätzliche – wie gezeigt durch Quellen belegbare – Interpretations- oder Erkenntniswege verwehrt. Es weist damit die Charakteristika einer zitatorischen Echokammer auf, einer Filterblase, die ein dominierendes Narrativ einer bestimmten Färbung ausprägt. Dieses wird gebildet und verfestigt durch wiederholte Iterationen ähnlicher Interpretationen, die Quellenwahl wird selektiv, d.h. anderslautende Quellen werden selten bis gar nicht als solche registriert. Kybernetik und Macy-Konferenzen verbleiben als ein Hauptanker der Kritik.

Dazu gehört auch, dass andere mögliche Ansatzpunkte der Kritik, wie beispielsweise die zentralen Rollen Marvin Minskys, Claude Shannons und der Dartmouth-Konferenz 1956 nicht oder nur wenig in den Blick genommen werden. Hier wurde immerhin der Begriff „Artificial Intelligence“ ins Leben gerufen, der auf heutige Entwicklungen einen sehr hohen Impact hatte.

Ironischerweise wird das Phänomen Filterblase in den Kultur- und Medienwissenschaften nicht nur mit Blick auf Facebook und andere „soziale“ Netzwerke – in der letzten Zeit eingehend reflektiert. Jedoch scheint die gerade von den Kybernetikern ausdrücklich thematisierte Selbstreferenz, hier als reflektierender zusätzlicher Blick auf den eigenen Fokus, in den Medienwissenschaften zu fehlen.

Das ist umso bedauerlicher, denn viele kybernetische Primärquellen bieten tiefere Einsichten und Positionen, die erheblich bereichernde Argumente zur Kritik der kalifornischen Ideologie liefern können.

Vom Standpunkt der Kybernetik zweiter Ordnung aus betrachtet sind die aktuellen IT-Systeme der Multis als zentralistisch organisierte simple Input-Output-Systeme beschreibbar, die in die eine Richtung als Datenstaubsauger arbeiten und in die andere als Instrument zur auf das Individuum bezogenen Selektion und Bereitstellung von Informationen mit dem Ziel, gesellschaftliche Gruppen zu fraktalisieren. Demokratische Rückkopplungen, wie Vilém Flusser sie erhofft hatte, sind das definitiv nicht.[32]

Insofern – um einmal in einem armoristischen Bild zu bleiben – stellen die aktuellen kritischen Positionierungen und Debattenbeiträge, die in ihren Begründungen die Kybernetik als Kriegs- und Steuerungs-wissenschaft für Gesellschaften interpretieren, eine argumentative Selbstentwaffnung dar.

Man möchte, fast verzweifelt, mit dem Phänomenologen Edmund Husserl ausrufen:

„Zu den Sachen selbst!“

Hier sinngemäß „Lest die kybernetischen Primärquellen!“

Oder, wir bleiben erst mal in der Turing-Galaxis.

Obwohl, Alan Turing hat das nicht verdient.

 

So long, Nick H. aka Joachim Paul

 

Quellen

[1] Richard David Precht, Focus, 16.12.2017

https://www.focus.de/kultur/medien/kultur-wozu-brauchen-wir-noch-philosophen-herr-precht_id_7989417.html

[2] Heinz von Foerster, Die Verantwortung des Experten, Überarbeitete Fassung des Grundsatzreferats zur Herbsttagung der American Society for Cybernetics, 09.12.1971; in: Heinz von Foerster, Sicht und Einsicht, Braunschweig, Wiesbaden 1985, S. 17-23, S. 21f

[3] Bündnis für humane Bildung, www.aufwach-s-en.de

[4] Landtag von Nordrhein-Westfalen – S. 14 des Ausschussprotokolls vom 04.05.2016,

https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument?Id=MMA16%2F1283|1|1&Id=MMA16%2F1283|3|58&Id=MMA16%2F1283|59|61

[5] Matthias Burchardt, Stellungnahme 16/3737, S. 8,

https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMST16-3737.pdf

[6] Tiqqun, Kybernetik und Revolte, 2007,

https://ia800505.us.archive.org/19/items/tiqqun_kybernetik_und_revolte/tiqqun_kybernetik_und_revolte.pdf

[7] Albert Müller, Zur Geschichte der Kybernetik – Ein Zwischenstand, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, ÖZG 19.2008.4, S. 22, Quelle 3,

http://www.studienverlag.at/data.cfm?vpath=openaccess/oezg-42008-mueller

[8] https://en.wikipedia.org/wiki/Franklin_Foer

[9] https://en.wikipedia.org/wiki/Michael_P._Lynch

[10] Ralf Lankau, Systemfehler. Oder: Es gibt kein richtiges Leben im digitalen, Papier zu den Buckower Mediengesprächen:

http://lankau.de/wp-content/uploads/sites/7/2014/10/lankau_buckow16_final.pdf

[11] Ralf Lankau, Digitalisierung und schulische Bildung, Hessischer Landtag, 14.10.2016

http://www.aufwach-s-en.de/wp-content/uploads/2017/06/Lankau_Hessischer_Landtag_Stellungn_2016.pdf

[12] [Ralf Lankau, Kein Mensch lernt digital, Weinheim, Basel 2017, S.48

[13] Arturo Rosenblueth, Norbert Wiener u. Julian Bigelow, Behavior, Purpose and Teleology, in: Philosophy of Science 10 (1943), 18–24.

[14] Peter Galison, The Ontology of the Enemy: Norbert Wiener and the Cybernetic Vision, Critical Inquiry, Vol. 21, No. 1. (Autumn, 1994), pp. 228-266, Univ. of Chicago Press –

http://jerome-segal.de/Galison94.pdf

[15] Norbert Wiener, Letter to J. B. S. Haldane, 22 June 1942, Box 2, Folder 62, NiVP – zitiert nach Galison

[16] https://de.wikipedia.org/wiki/Macy-Konferenzen

[17] Warren S. McCulloch and Walter Pitts, „A Logical Calculus of the Ideas Immanent in Nervous Activity“, Bulletin of Mathematical Biophysics (1943), 5, 115-133

[18] Warren S. McCulloch, A Heterarchy of Values determined by the Topology of Nervous Nets, Bulletin of Mathematical Biophysics, 7(1945) 89-93

[19] Stuart Umpleby, Definitions of Cybernetics, 1982, rev, 2000,
http://asc-cybernetics.org/definitions  Anm. vom 14.05.2018: Wie mir Albert Müller via Email mitteilte, hat sich Stuart Umpleby auf seiner hier zitierten Definitionsseite wohl geirrt. „Die Definitionen finden sich erstmals auf Seite 1 des Bandes Cybernetics of Cybernetics (1974) und sind beide eindeutig mit [H.V.F.] unterschrieben. Stuarts kleine Verwechslung ist insofern kurios, als sowohl er selbst als auch Varela zu dem Band beigetragen haben. Varelas Beiträge snd mit [F.V.] gekennzeichnet.“ Die im Text angegebenen Def. stammen also von Heinz von Foerster.

[20] W. Ross Ashby, Einführung in die Kybernetik, Frankfurt a.M. 1985, S.7

[21] Anna Verena-Nosthoff, Felix Maschewski, https://agora42.de/interview-mit-anna-verena-nosthoff-und-felix-maschewski/

[22] Claus Pias, Hg., Cybernetics / Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. I Transactions/ Protokolle, Zürich, Berlin 2003, und, Claus Pias, Hg., Cybernetics / Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. II Essays and Documents / Essays und Dokumente, Zürich, Berlin 2004.

[23] Heinz von Foerster, Erinnerungen an die Macy-Konferenzen und die Gründung des Biological Computer Laboratory, in: Claus Pias, Hg., Cybernetics / Kybernetik. The Macy-Conferences 1946–1953, Bd. II Essays and Documents, Berlin 2004

[24] Albert Müller, Eine kurze Geschichte des BCL, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, 11 (1), 9-30, Wien 2000,

https://www.univie.ac.at/constructivism/papers/mueller/mueller00-bcl.pdf

[25] Gotthard Günther, Das metaphysische Problem einer Formalisierung der transzendental-dialektischen Logik, in: Heidelberger Hegeltage 1962, Hegel-Studien Beiheft 1, S. 65-123, abgedruckt in: Gotthard Günther, Beiträge zur Grundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Bd 1, Hamburg 1976, S. 189-247

[26] Rudolf Kaehr, Gisela Behrendt, private Kommunikationen

[27] https://en.wikipedia.org/wiki/Mike_Mansfield

[28] Ronda Hauben, Creating the Needed Interface. – Telepolis: Magazin der Netzkultur 1999, https://www.heise.de/tp/features/Creating-the-Needed-Interface-3563729.html

[29] Stuart Umpleby, Heinz von Foerster and the Mansfield Amendment, Cybernetics an Human Knowing, Vol 10, nos. 3-4, pp. 187-190

https://www.researchgate.net/publication/233661621_Heinz_von_Foerster_and_the_Mansfield_Amendment

[30] Friedrich Kittler, Die künstliche Intelligenz des Weltkriegs: Alan Turing, in: Die Wahrheit der technischen Welt, Berlin 2013, S. 232-252, S. 234

[31] Friedrich Kittler, Unberechenbarkeit, https://www.youtube.com/watch?v=AavTap5FgSQ

[32] Christopher Busch, Strategische Zitate. Zu Friedrich Kittlers Heidegger-Lektüre, Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Sep. 2014, Vol. 44, Issue 3, pp 161–169,

https://link.springer.com/article/10.1007/BF03379990

[33] Martin Heidegger, „Nur noch ein Gott kann uns retten“. In: Der Spiegel, 30. Jg., Nr. 23, 31. Mai 1976. Das Gespräch mit Rudolf Augstein und Georg Wolff fand am 23. September 1966 statt. Das vollständige Gespräch ist abgedruckt in: Günther Neske & Emil Kettering (eds.), Antwort – Martin Heidegger im Gespräch, Pfullingen 1988

[34] Cai Werntgen, Kehren: Martin Heidegger und Gotthard Günther: europäisches Denken zwischen Orient und Okzident, München 2006, S. 12

[35] Vilém Flusser, Verbündelung oder Vernetzung? in: Kursbuch Neue Medien, Mannheim 1995, S. 15-23

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Bus und Bahn fahrscheinfrei

Plötzlich hat ein Brief von Bundesministern eine Debatte zum “kostenlosen” Nahverkehr ausgelöst, der natürlich nie kostenlos ist, aber fahrscheinfrei sein kann. Die Piratenpartei und ich haben uns damit sehr intensiv beschäftigt. Wir haben in Berlin und in NRW Machbarkeitsstudien in Auftrag gegeben, viele Veranstaltungen durchgeführt, Material gesammelt, Anträge gestellt und eine zweijährige Enquetekommission im Landtag […]
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Peter Sloterdijk und die Künstliche Intelligenz, oder: Götterdämmerung und antimoderne Hysterie

Anlässlich seines 70. Geburtstags erschien im Suhrkamp-Verlag 2017 ein weiterer Band von Peter Sloterdijk mit dem Titel „Nach Gott“, eine Sammlung von Vorträgen und Aufsätzen.

Der erste, neu verfasste Beitrag titelt mit „Götterdämmerung“ und befasst sich mit den „Verständnissen“ unserer „Gegenwart als Zeit wachsender Komplexitäten und Kompliziertheiten“.[1] Es darf bemerkt werden, dass Sloterdijk zu einer Minderheit gehört, die zwischen Kompliziertheit und Komplexität eine scharfe Unterscheidung trifft. Denn sonst hätte ihm – wie vielen anderen – einer der beiden Begriffe gereicht.

Gleichwohl gilt der Philosoph als umstritten. Das gilt aber im Grunde für Jeden, dessen Denken in Texten mit einer gewissen Komplexität kondensiert. Kritiker haben hier immer die Möglichkeit, das zu einfacheren Interpretationen herunterzubrechen. Und oft tun sie das auch, aus politischen Motiven, aus Motiven der philosophischen Konkurrenz oder aus Weiterem, über das die Höflichkeit gebietet, sich hier Spekulationen zu enthalten.

Zwei Zeitgenossen, die ihn verteidigen, möchte ich vorab nennen. Siegfried Zielinski, sein Nachfolger im Amt der Leitung der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe, bescheinigt ihm missverstanden worden zu sein.[2] Und der Philosoph Slavoj Žižek nennt ihn in einem Beitrag zu Sloterdijks 70stem in DIE ZEIT „Im Herzen ein Kommunist“.[3]

Was mich betrifft, so gebe ich freimütig zu, dass mir seine Einlassungen vor einigen Jahren zur „gebenden Hand“ zu Staat und Steuern, überhaupt nicht gefallen haben. Aber das muss auch nicht sein.

In Sloterdijks Texten ereignet sich eine Selbstfeier der Sprache sowie des eigenen Vermögens zur Sprache, die sowohl technisch als auch lyrisch-poetisch geprägten Geistern aufstoßen kann. Seine üppig überbordende Metaphorik, seine komplexen Vernetzungen und Bezüge hinein ins Textgefüge unserer Welt fordern nicht selten Belesenheit – im Verbund mit Zeit und Muße, jedoch zumindest die Bereitschaft und die Fähigkeit, nachschlagen oder nachlesen zu können. Zumindest letzteres sollte in Zeiten des Internet problemlos möglich sein.

Viele seiner Texte gaben mir etwas. Stellvertretend für so Einiges möchte ich hier „Nicht gerettet – Versuche nach Heidegger“ anführen, das schon im Titel Bezug auf Heideggers letztes Interview im Spiegel nimmt und seinen Satz: „Nur noch ein Gott kann uns retten“.

Für mich bestätigt Peter Sloterdijk recht eindrucksvoll die These des Psychologen Julian Jaynes:

„In Wahrheit und Wirklichkeit ist die Sprache ein Wahrnehmungsorgan und nicht einfach nur ein Kommunikationsmittel.“[4]

Sprache als Wahrnehmung. Sloterdijks Stil und seine sprachlichen Wahrnehmungen evozieren bei so einigen Kritikern den Eindruck einer gewissen Arroganz. Des weiteren liebt er die große Bühne. Es steht mir nicht zu, das zu bewerten. Jedoch mögen diese Feststellungen auch ein Indiz für eine gewisse Getriebenheit sein, aus „Verzweiflung über die mangelnde Kraft der philosophischen Gegenwart zu echter Zeitgenossenschaft“. Diese Formulierung habe ich von Erich Hörl raubkopiert, der sie in seinem Aufsatz „Das kybernetische Bild des Denkens“ auf den Philosophen Gotthard Günther bezog.[5]

Denn in Sloterdijks, den Band „Nach Gott“ einleitendem Aufsatz „Götterdämmerung“ „günthert“ es gewaltig. Er feiert den Philosophen der Kybernetik geradezu. Und startet gleich mit einem Zitat aus Günthers Aufsatz „Seele und Maschine“:

„Allen Götterwelten folgt eine Götterdämmerung“.[6]

Aktuell erweisen sich angesichts des Themas der künstlichen Intelligenz so einige renommierte Wissenschaftler, Unternehmer und auch Philosophen weder wissenschaftlich noch argumentativ-philosophisch als satisfaktionsfähig. Technische Singularität und Superintelligenz sind hier die Stichworte. Ich schrieb dazu im Blog und im philosophischen Wirtschaftsmagazin agora42.[7,8]

Zu diesen Prominenzen gehören u.a. der Physiker Stephen Hawking und der Historiker Yuval Noah Harari (Homo Deus), beides Bestseller-Autoren.

Nun, im Werk Gotthard Günthers hegelt es gewaltig und des öfteren wird gespenglert, aber immer – implizit – geleibnizt. Und Sloterdijk – wie schon erwähnt – günthert ganz gern. Zeit also für mich, mal zu sloterdijken.

Denn der Philosoph reflektiert in „Götterdämmerung“ entlang der ursprünglichen Argumentationslinie Gotthard Günthers noch einmal das Thema der menschlichen Reflexion und geht hernach geradezu elegant mit den oben erwähnten Prominenzen um [1]:

„Müssen wir uns wirklich mit der Suggestion befassen, die Erfinder der Künstlichen Intelligenz hätten sich in die freigewordene Position des Macher-Gottes gedrängt? Folglich sollten sie wie dieser mit dem Aufstand ihrer Kreaturen rechnen? Gibt es eine Erbsünde der Maschinen? Sollen Maschinen an ihren Menschen glauben, oder wird es einen Ahumanismus der Robots geben?

Was sollen wir den seit Jahrhunderten aufflammenden antimodernen Hysterien antworten, die unterstellen, der Mensch möchte „werden wie Gott“?

[…] Die Konsequenzen des immer rascheren Abfließens von Menschenreflexionen in Maschinenreflexionen sind unabsehbar. Gegenbewegungen bezeugen ihren Protest. Man wird Staudämme bauen gegen die Fluten externalisierter Intelligenz.

[…] Nicht wenige der klügsten unter den geistig virulenten Zeitgenossen – nennen wir Hawking und Hariri anstelle von einigen Nennenswerten – drücken ihre spirituellen Sorgen in der Vision von der Überwältigung der Menschen durch ihre digitalen Golems aus.

Lassen wir das vorerst letzte Wort dem Denker, der das Phänomen der künstlichen Intelligenz früher und durchdringender als alle Zeitgenossen reflektiert hatte. Gotthard Günther schreibt am Ende seines Aufsatzes „Seele und Maschine“ 1956:

„Die Kritiker, die beklagen, daß die Maschine uns unsere Seele „raubt“, sind im Irrtum. Eine intensivere, sich in größere Tiefen erhellende Innerlichkeit stößt hier mit souveräner Gebärde ihre gleichgültig gewordenen, zu bloßen Mechanismen heruntergesunkenen Formen der Reflexion von sich ab, um sich selber in einer tieferen Spiritualität zu bestätigen. Und die Lehre dieses geschichtlichen Prozesses? Wieviel das Subjekt von seiner Reflexion auch an den Mechanismus abgibt, es wird dadurch nur reicher, weil ihm aus einer unerschöpflichen und bodenlosen Innerlichkeit immer neue Kräfte der Reflexion zufließen.“[6]

Soweit Peter Sloterdijk. Er fügt seinem Zitat Günthers nichts mehr hinzu. Dem könnte ich nun folgen.

Ich schlage dennoch als folgerichtige Ergänzung einen in der Sendung Freistil ausgesprochenen Satz von Rudolf Kaehr vor:

„Der Tod Gottes wird auch die Arithmetik verändern. Und ich denke, das ist zu leisten.“[9]

Wenn es mir als Kybernetiker gelänge, eine polykontexturale KI, die den Namen KI auch verdient, zu konstruieren, bspw. zur Dekonstruktion des abendländischen philosophischen Textwissens, ich würde sie Sloterdijk nennen.

Habt Spaß, Nick H. aka Joachim Paul

Quellenangaben:

[1] Peter Sloterdijk, Götterdämmerung, in: Nach Gott, Frankfurt a. M. 2017, S. 7 – 30

[2] Siegfried Zielinski über Sloterdijk – Sloterdijk ist missverstanden worden http://www.deutschlandfunkkultur.de/siegfried-zielinski-ueber-seinen-vorgaenger-sloterdijk-ist.1013.de.html?dram:article_id=345003

[3] Slavoj Žižek über Sloterdijk „Im Herzen ein Kommunist“
http://www.zeit.de/2017/26/peter-sloterdijk-70-geburtstag

[4] Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewusstseins durch den Zusammenbruch der bikameralen Psyche, Reinbek 1988, S. 67 – orig. The Origin of Consciousness in the Breakdown of the Bicameral Mind; Houghton Mifflin, Boston 1976

[5] Erich Hörl, Das kybernetische Bild des Denkens, in: Die Transformation des Humanen, Michael Hagner & Erich Hörl, (Eds), Frankfurt am Main 2008, S. 163-195, S. 195

[6] Gotthard Günther, Seele und Maschine, Erstveröffentlichung in: Augenblick Bd. 3, 1955, Heft 1, S. 1-16, abgedruckt in: „Beiträge zu einer operationsfähigen Dialektik“, Band 1, p.75-90, Felix Meiner Verlag, Hamburg, 1976. Online: http://www.vordenker.de/ggphilosophy/gg_seele-maschine.pdf

[7] Joachim Paul, Wer hat Angst vor der Superintelligenz? Wer hat Angst vor Märchen? WTF!
Neuss, September 4, 2016, Online: http://www.vordenker.de/blog/?p=1530

[8] Joachim Paul, Über Monster und Kurzschlüsse der Erkenntnis – Oder: Keine Angst vor künstlicher Intelligenz, in: agora 42 – Das philosophische Wirtschaftsmagazin, Stuttgart, 2017/2, 30.03.2017 – S. 64 – 67, www.agora42.de

[9] FREISTIL, oder die Seinsmaschine – Mitteilungen aus der Wirklichkeit, Audioauszüge aus einer Sendung des WDR 3, produziert und konzipiert von Thomas Schmitt http://www.tagtraum.de – Regie Thomas Schmitt, Text Rudolf Kaehr (Zitat im Transkript nicht enthalten.) Online: http://www.vordenker.de/rk/rk_Freistil-oder-die-Seinsmaschine_2000.pdf

 

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Zwischenruf aus dem Maschinenkeller der Digitalisierung

Kritische Anmerkungen zu Schule und Digitalisierung, zur Bertelsmann-Stiftung, zur Digitalisierungskritik, hier das Bündnis für humane Bildung

~20min Lesezeit

Rücken Sie bitte ein Stück zur Seite, hier unten wird gearbeitet. Oder besser, machen Sie doch gleich woanders Ihr Geschäft ….

Ich arbeite im Keller. Und irgendwo über mir schwebt die öffentliche Debatte um das Themenfeld Bildung, Schule, Digitalisierung. Ebenso wie ich arbeiten viele andere engagierte Menschen daran, unser Bildungssystem besser zu machen, es fit zu machen für die Zukunft, die – in allen gesellschaftlichen Bereichen – wesentlich durch Informationstechnologien und Digitales mitbestimmt sein wird.

Was ich mache, ich bin einer von zwei operativen Chefs des größten Onlinedienstes für die Bereitstellung von digitalen Bildungsmedien in Deutschland. Der Mediendienst EDMOND NRW versorgt alle allgemein- und berufsbildenden Schulen in NRW – zusammen etwa 6.500 Schulen – mit digitalem Content zu allen Unterrichtsfächern. Solche Mediendienste sowie weitere Bildungsserver gibt es in allen 16 Bundesländern, betrieben von der öffentlichen Hand, von Ländern, Kommunen und Kommunalverbänden. Ungefähr seit der Jahrtausendwende, also schon eine ganze Weile.

Viele meiner medienpädagogisch arbeitenden Kolleginnen und Kollegen sind auch Mitglieder der GMK, der Gesellschaft für Medienpädagogik und Kommunikationskultur, die sich dadurch auszeichnet, dass zu den Veränderungen gemeinsam konstruktiv kritische und differenzierte Ansätze und Standpunkte sowie politische Forderungen entwickelt werden.

Und erst Dienstag kehrte ich zurück vom Halbjahrestreffen einer bundesweiten Facharbeitsgruppe, die sich seit den 90ern mit Fragen der Dokumentation und Distribution von Bildungsmedien auseinandersetzt.

Aber eigentlich gibt es uns gar nicht. Zumindest in den sogenannten Leitmedien. Unsereins wird äußerst selten mal zu Podiumsdiskussionen eingeladen und schon gar nicht in die einschlägigen Polit-Talkshows im TV. Und zwar weil die Bereitschaft zu polarisieren bei uns sehr selten ist. Das passt nicht in die Dramaturgie solcher Talkrunden und Podien.

Wir sind Medienpädagogen und Digitalmaschinisten, Kanalarbeiter in den medialen Kellern der Bildungseinrichtungen. Und wir verändern die Welt – im Auftrag der öffentlichen Hand und nach geltender Gesetzeslage.

Wenn ich könnte, wenn ich dürfte, ja wenn ich denn mal eingeladen würde, ich könnte reihenweise virtuelle Ohrfeigen verteilen. Sachlich und wissenschaftlich begründet, gern auch mal polemisch, aber immer mit beißender Rhetorik. Und zwar in drei Richtungen.

Erstens, mir blutet das Herz ob der Ahnungslosigkeit mancher „Fach“-PolitikerInnen. Die lassen sich von diversen Verbänden und Interessengruppen die Ohren vollpusten mit digitalem Marketinggequatsche. Drei Punkt Null, Vier Punkt Null, Fünf Punkt Null. Und reden selten bis gar nicht mit den eigentlichen Betroffenen.

Zweitens könnte ich vor Wut aus der Hose springen ob des Hirnchen waschenden Agenda-Settings durch z.B. die Bertelsmann-Stiftung.

Dort wird mit einer schon bewundernswerten Ausdauer und dem Bewusstsein eine – wie auch immer geartete – „Elite“ zu sein, die es grundsätzlich besser weiß, seit Jahrzehnten neoliberale Ideologie-Injektion betrieben.

Und die Injektionsnadeln zeigen auf die politischen Gremien. Sie sind meist mit „wissenschaftliche Studie“ verschleiert, „Ideologie“ steht nicht drauf. Parallel dazu werden diese Studien von einschlägigen Medien – die nicht selten eine Nähe zum Konzern, zur Bertelsmann SE & Co KgaA, aufweisen – kräftig orchestriert.

„Wie eine Studie der Bertelsmann-Stiftung sagt“ – wo ich ergänzen würde – Null Null Fünf mit der Lizenz zum Klugscheißen. Oder besser: Ideologie scheißen, denn klug ist das nie, allenfalls klug gemacht. Im Sinne neoliberaler Zielvorstellungen.

In der Folge wird die öffentliche Debatte schön eingegrenzt von den Agenda-Leitplanken, die die Stiftung gesetzt hat. Und im akustischen Backing der Debatte säuselt ein Chor mehr oder weniger leise die Themen von Privatisierung und Ökonomisierung – in der Bildung. In der Absicht, dass sich diese hintenrum in die Hirnchen schleichen.

An anderer Stelle – aber zeitlich passend – werden dann seitens des Mutterkonzerns oder seiner vielen Töchter Dienstleistungsangebote an die öffentliche Hand gemacht.

Und da die Stiftung 76,9% des Kapitals des Konzerns hält und den Status der Gemeinnützigkeit besitzt, werden kräftig Steuern gespart. Eine steuerbefreite unternehmensverbundene Reformwerkstatt, die operativ arbeitet, d.h. selbst ihre Themen setzt. Mit der Lizenz zur Politikbeeinflussung.

Und die nicht gezahlten Steuergelder fehlen dann, z.B. bei der Ausstattung von Schulen, WLANs, kaputte Toiletten, etc.

Ja und dann gibt es noch die Digitalisierungskritiker. Wichtige Impulse und Positionen in der gesellschaftlichen Debatte um die Bildung von Morgen. Sollte man meinen.

Denn drittens beteiligt sich eine relativ laute Stimme der Digitalisierungskritik an profaner Polarisierung und überdeckt damit differenziertere Standpunkte – das Bündnis für humane Bildung. Hier versammelt sich ein illustrer Kreis von respektablen Persönlichkeiten, meist aus universitären Kontexten.

Ich möchte diesen Personen beileibe keine Elfenbeinturm-Mentalität unterstellen, doch für einige, nicht alle, steht fest, die waren nie im Keller. Zumindest erwecken sie den Eindruck. Oder der Keller interessiert einfach nicht.

Sprecher des Bündnisses ist Ralf Lankau, Hochschullehrer in Offenburg. Er bemüht sich wiederholt, in seinen Texten und Vorträgen eine breitere Öffentlichkeit davon zu überzeugen, dass er nicht nur von Kybernetik nichts versteht, sondern noch nicht einmal weiß, was dieser Begriff überhaupt bedeutet.

Ich glaube ihm. Matthias Burchardt, Uni Köln, tutet leider in dasselbe Horn.

Im Juni hatte ich eine Begegnung der dritten Art mit Lankau. Er hielt einen Vortrag auf einer Veranstaltung der GEW. Ich schrieb darüber.

Seitdem nenne ich mich übrigens ganz offensiv auch „Kybernetiker“. Und das fühlt sich wirklich gut an. In Deutschland gibt es diesen Abschluss zwar nicht, aber ich habe in Physik diplomiert im Fachbereich Biophysik. Und promoviert habe ich an einer medizinischen Fakultät – über Irgendwas mit neuronalen Netzen. Und die werden ja – wieder – zur Kybernetik gerechnet. Also kann ich mich – mit einigem Recht – Kybernetiker nennen. Und arbeiten tue ich auch noch als Medienpädagoge! Da muss ich ja schon mit dem Leibhaftigen im Bunde sein – und das zudem im Keller, im Kanal, im Untergrund! Buuuh!

Denn nach Lankau vertritt die Kybernetik ein deterministisches Menschenbild, steckt mit dem Behaviorismus unter einer Decke und hat das Ziel, ganze Gesellschaften zu steuern und zu manipulieren.

„Bis heute setzt das kybernetische Denken Kommunikation als Signalübertragung (bzw. Nachrichtenübermittlung) gleich mit Mensch und Gesellschaft als steuerbaren Maschinen. Es findet sich in Kommunikationsmodellen der Nachrichtentechniker Shannon und Weaver ebenso wie bei den Behavioristen mit ihren Input-Output-Systemen (I-O-S) oder dem »programmierten Lernen«, das unterstellt, man könne das Lernen von Menschen programmieren und steuern wie Maschinen.“

[Ralf Lankau, Kein Mensch lernt digital, Weinheim, Basel 2017, S.48]

Unfassbar. Das ist ein so großes Durcheinander, dass es kaum lohnt, das aufzudröseln.

Und Matthias Burchardt von der Uni Köln spricht von der monströsen Präsenz digitaler Endgeräte in unseren U-Bahnen. Smartphones als Menschen kontrollierende „kybernetische Exoparasiten“.

[Anmerkung für Philosophie-Interessierte: Und im Hintergrund klappert leise und rhythmisch Heideggers Ge-Stell, gell?]

Auf meinem Weg zu und von der Arbeit fahre ich täglich S-Bahn und Bus. Und ich sehe Menschen, die Musik hören und Menschen, die lesen, auf Smartphones und Ebook-Readern. Und fast ebensoviele in Büchern, teilweise sehr dicken Büchern, Magazinen und Zeitungen. Aus Papier.

Aber vielleicht ist meine Wahrnehmung ja nicht so selektiv. Oder anders selektiv. Der polnische Aphoristiker Stanislaw Jerzy Lec schrieb einmal: „Den Blick in die Welt kann man auch mit der Zeitung versperren.“

Yep. Tue ich auch oft. Zeitung lesen morgens in der S-Bahn. Auf dem Smartphone. Das stört den Sitznachbarn nicht so. Beim Aufklappen einer Papierzeitung wie z.B. dem großformatigen Wochenblatt DIE ZEIT wäre das wohl anders. Mein Ellbogen in des Nachbarn Rippen. Oder so.

Achja, die Mediengeschichte. Ein weiteres Mitglied des Bündnisses ist der Neurologe Manfred Spitzer. Ein gefeierter Guru der Digitalisierungskritik. Wie das so ist mit Gurus, die haben meist ein Label und ein Geschäftsmodell.

Bei den Indern war das die Erleuchtung, als Trainingsprogramm für westliche Sinnsucher und westliche Dollars, bei Spitzer die Digitale Demenz, analog auf Papier und für Euros.

Lankau sagt, es gibt keine digitale Bildung, Spitzer sagt, es gibt digitale Demenz.

Öhm, ja. Wenn Lankau recht hat, hat Spitzer unrecht. Oder umgekehrt.

Ich sage, Lankau hat recht. Der „Begriff“ „digitale Bildung“ hindert uns. Am Begreifen. Er liefert weder einen Erkenntnis- noch einen Bezeichner-Gewinn. Es ist einfach nur ein riesiger sprachlicher Unfall.

Davon gibt es so einige. Die neuronalen Netze, die als Simulationsalgorithmen auf Rechnern laufen, müssten eigentlich neuromorphe Netze heißen. Denn die neuronalen Netze sind eigentlich biologische Netze und in unseren Köpfen.

Aber egal, solche sprachlichen Verkürzungsunfälle ziehen sich durch die gesamte Menschheitsgeschichte. [Und wurden nicht selten zum Gründungsakt für ganze „Religionen“ und Ideologien.]

Ähm, wo war ich, ach ja, Mediengeschichte. Manfed Spitzer zeichnet vor allem eins aus, eine völlig ahistorische und damit auch unwissenschaftliche Betrachtungsweise. Wie er dazu kommt, weiß ich nicht, er soll ja mal Philosophie studiert haben. Dort lernt man sowas jedenfalls nicht.

Denn die zu ihrer Zeit jeweils neuen Medien – und Geräte – waren immer des Teufels. Die Geschichte weiß das.

Ob aber Spitzer weiß, dass er sich in guter, ja in geradezu erlesener Gesellschaft befindet? Platon, Shakespeare? Platon kritisierte die Schrift als das Gedächtnis schädigend! Wir wissen das aber nur, weil er das aufgeschrieben hat! Shakespeare kritisierte den Buchdruck, warum, habe ich gerade keinen Bock zu schreiben, das kann aber bei McLuhan nachgeschlagen werden. [1]

Spitzer vergleicht gerne die Synapsen und auch das ganze Gehirn mit einem Muskel, der zu trainieren ist. Der Vergleich hinkt. Gewaltig. Muskeln können ruhen, das Gehirn arbeitet immer, sogar im Schlaf. Das schließt aber nicht aus, dass man es auch trainieren kann.

Das werden unsere Ahnen auch gemacht haben. Beim Produzieren von Faustkeilen, die eine Hand schlägt mit einem Stein, die andere hält einen Stein, haben wir uns wahrscheinlich zu Einhändern, bzw. Rechtshändern gemacht. Ohne es zu wollen.

Wir haben uns immer – mit Technik, mit Medien – selber umgebaut. Das gehört zum Wesen des Menschen. In gewisser Weise sind wir unsere Technik.

Zurück zur Schule.

Julia Behrens ist bei der Bertelsmann-Stiftung verantwortlich für den Monitor Digitale Bildung, der letztes Mal kurz vor der Bundestagswahl erschien, mit Blick auf die über den Digitalpakt angekündigten „Wanka-Milliarden“. Ich schrieb dazu.

Und auch der Spiegel. Die LehrerInnen seien Digitalmuffel hieß es dort. Was eine Unverschämtheit ist.

In einem Video auf der WebSite der Stiftung spricht sie von „Wildwuchs“ und behauptet, dass die Auswahl von Digitalen Medien für Schule schwierig sei, hilfreich wäre – Konjunktiv! – so Frau Behrens „zum Beispiel eine Plattform mit qualitätsgesichertem Material“.

Also das ist schon frech. Anders als bei Lankau, dem ich da „zugute“ halten muss, dass er nicht in den Keller geht und auch sonst nicht recherchiert, gehe ich davon aus, dass Frau Behrens sehr genau weiß, dass es schon lange Länderplattformen für die Bereitstellung von digitalen Medien für Schule gibt und dass das Land Baden-Württemberg seit Jahren eine Kommission besitzt, die diese Medien fachlich und didaktisch begutachtet.

Ich werde darauf noch zurückkommen. Aber schauen wir uns mal die Forderungen des Bündnisses für humane Bildung genauer an. Da gibt es Kritik am schon erwähnten Digitalpakt im Verbund mit einem Forderungskatalog.

Die Schulen sollen sich abkoppeln vom Netz und sich selbst vernetzen, forderte Lankau auf seinem Vortrag am 07.06.2017 auf den Einwurf eines Lehrers hin, der fragte, was er denn tun solle, wenn er im Unterricht mit digitalen Medien arbeiten will.

Wie gesagt, Lankau war nie im Keller, sonst würde er wissen, dass es diese Vernetzungen schon lange gibt, und zwar betrieben von der öffentlichen Hand.

Und Frau Behrens leugnet diese Plattformen, weil, das unterstelle ich jetzt mal, der B-Konzern es in Zukunft selbst machen will, Konzepte dafür schon längst in der Schublade hat. Sonst hätte er sich ja nicht beim US-Anbieter Udacity eingekauft.

Hier mal die Forderungen der Gründer des Bündnisses für humane Bildung zur Fragestellung „Welche (Hoch)-Schulen wollen wir?“:

1. Schulen und Hochschulen in Deutschland sind Bildungseinrichtungen in humanistischer und demokratischer Tradition. Sie sind vom Menschen her zu denken, nicht von technischen Systemen und deren Entwicklungszyklen. Nötig sind mehr Lehrkräfte, Mentoren, Tutoren, nicht Hardware.

Ach, wo zielt das hin, und wer will das im Ernst bestreiten? Für mehr Lehrkräfte sind wir doch alle, oder? Weiter oben warf ich Spitzer eine ahistorische Betrachtungsweise vor. Diese spiegelt sich auch hier in der 1. Forderung des Bündnisses.

Denn wie sieht‘s mit der Vergangenheit unserer Schulen aus? Wir kommen aus, bzw. leben noch in einer gesellschaftlich-ökonomischen Formation, die man die Industriegesellschaft oder den industriellen Kapitalismus nennt. Und die sich verändert hin zu einem Etwas, für das wir noch keinen richtigen Namen haben, das aber oft hoffnungsvoll als Informations- und Wissenschaftsgesellschaft bezeichnet wird.

Mit nur ein wenig Überlegung lässt sich feststellen, dass das alte deutsche dreigliedrige Schulsystem der Industriegesellschaft hervorragend angepasst war. Wie Vilém Flusser scharf bemerkte, waren die Hauptschulen dafür da, diejenigen Menschen auszubilden, die die Maschinen bedienen, die Realschulen bildeten Diejenigen aus, die die Maschinen reparieren und die Gymnasien waren zuständig für die Ausbildung Derjenigen, die Maschinen konstruieren.[2]

Hat mal jemand aus dem Bündnis die Vergangenheit unseres Schulsystems, seine Geschichte kritisch in den Blick genommen? Offensichtlich nicht, denn dann wäre aufgefallen, dass trotz dieser zweckgebundenen Ausrichtung des Schulsystems genügend Lehrkräfte den Menschen, den Schüler, die Schülerin im Blick hatten und einen gut Teil Bildung, humanistische Bildung, Bildung als Selbstzweck und nicht als bloße ökonomische Notwendigkeit vermittelt haben. Zumindest an meinem Gymnasium war das so. Mit allen Imponderabilien, die so eine Schulzeit mit sich bringt ;-), denn ideal ist nix. Und Verwerfungen gab es auch. Ohne Zweifel.

Aber jetzt wird der Teufel des bloßen ökonomischen Zwecks an die Wand gemalt. Dass die kybernetische Steuerung – allein diese Wortkombination schillert zwischen Pleonasmus und Oxymoron – ganzer Gesellschaften das Ziel sein soll.

Mir drängt sich der Gedanke auf, dass in dieser Befürchtung der Kritiker aus dem Bündnis ein ebenso schlechtes Menschenbild steckt wie in denjenigen, die vielleicht im Silicon Valley und ganz sicher bei der NSA solche feuchten Steuerungsträume von Gesellschaften haben. Man pflegt dasselbe Menschenbild.

Ohne mich.

Weiter zur Forderung Zwei:

2. Medien und Medientechnik im Unterricht sind Werkzeuge im pädagogischen bzw. (fach-)didaktischen Kontext. Es sind mögliche Hilfsmittel, um Unterricht und Lernen zu unterstützen. Über den sinnvollen Einsatz von Lehrmedien entscheiden Lehrkräfte aufgrund ihrer Ausbildung und gemäß dem Grundrecht der Lehr- und Methodenfreiheit selbst.

Eine nette Forderung. Tun sie das wirklich? In der Praxis? Dürfen sie das? Also wir verwenden hier in unserer Schule das Mathe-Buch xyz, und ob Sie das Scheiße finden, interessiert uns nicht. So ist es doch, oder? Dass sich mit Hilfe digitaler Medien die Wahlfreiheit der Inhalte vielleicht auch erhöhen könnte, darauf kommen die Kritiker nicht.

Die Nummer 3:

3. Weder Lehrkräfte noch Schülerinnen oder Schüler dürfen verpflichtet werden, Geräte der Medien- bzw. Unterhaltungselektronik wie Tablets, Smartphones u.ä. im Unterricht einzusetzen. Jedes Kind muss ohne Nutzung elektronischer Geräte am Unterricht teilnehmen und Hausaufgaben machen können, ohne benachteiligt zu werden.

Aber ihre Tochter ist natürlich verpflichtet, jedes Mal, wenn sie Latein hat, das 1kg schwere Lateinwörterbuch mit in die Schule zu bringen, also 3mal die Woche. Liebe Leute, das ist jetzt echt kein Scherz. Ich habe neulich im Bus eine junge Frau gefragt, was sie da in der Hand hält – es war nicht das Smartphone – kicher – und ob sie das jedes Mal mitnehmen muss. [Ok, früher gab‘s auch Kinderarbeit, da haben die Kohlen geschleppt.]

Und hier die 4.

4. Daten von und zwischen Schulen und Schülern dürfen weder aufgezeichnet noch für Lernprofile ausgewertet werden. Schülerinnen und Schüler sind juristisch minderjährige Schutzbefohlene, deren Daten nach deutschem Recht geschützt werden müssen. Hier besteht gesetzgeberischer Nachholbedarf noch vor technischen Konzepten.

Ja, einverstanden. Aber der öffentliche Dienst macht das schon eine ganze Weile – entsprechend der Gesetzeslage. Kein Grund, auf uns einzuschlagen. Ich kenne unsere Logfiles.

Aber schauen wir uns doch mal den sogenannten Nachmittagsmarkt des Lernens an, da gibt‘s so Einiges im Netz. Z.B. der Cornelsen-Verlag betreibt eine Lernplattform, die Lerncoachies.

Dort zahlen die Eltern eine Netflix vergleichbare monatliche Gebühr und Töchterchen oder Söhnchen darf dann mit bunten Apps zusätzlich zur Schule lernen. Und das Lernverhalten wird getrackt. Ein Vorläufer der kommenden „learning analytics“. Schaut einfach mal in die Datenschutzerklärung des Verlags. Fallen Jemand die Lücken auf?

Hat das Bündnis da schon mal kritisiert?

Die Nummer Fünf.

5. Bildschirmmedien sind aus Sicht von Kinderärzten, Kognitionswissenschaftlern, Vertretern der Medienwirkungsforschung und der Pädagogik in den ersten Schuljahren nicht lernförderlich. Daher müssen KiTas und Grundschulen in der direkten pädagogischen Arbeit IT-frei bleiben.

Ja klar. Und die Kinderzimmer zuhause sind ja eh schon vollgestopft mit Elektronik. Da wird dann gedaddelt, sorry, nur gedaddelt. Andere Einsatzmöglichkeiten lernen die Kiddies nicht, weil in der Schule soll‘s ja verboten sein. Was Hänschen nicht lernt …

Tolle Idee, wirklich. Hoffentlich bricht dieser bewahrpädagogische Zeigefinger irgendwann mal ab. Wegen Versteifung.

Und die 6.

6. Die entscheidende Medienkompetenz für Bildungschancen wie -gerechtigkeit sind die Kulturtechniken Lesen, Schreiben und Rechnen. Investitionen in diese Kulturtechniken und eine intensive Leseförderung sind für Bildungsbiografien nachhaltig und emanzipatorisch.

Ja. Das stimmt. Aber das hin-und-her-Übersetzen aus und in Bildsprachen, Filmsprachen vernachlässigen wir dann. Und das Reflektieren darüber. So bleiben unsere medienverstümmelten Kinder dann schön manipulierbar. Auch Drehbücher werden immer noch geschrieben.

Und irgendwie wird in diesen Forderungen im Subtext der Eindruck vermittelt, als ginge es um eine Entweder-Oder-Frage. Leute, geht mal in den Keller, äh, in die Schule. Da wird nach wie vor gebastelt und geklebt. Und neuerdings dampfen auch die Lötkolben und der 3D-Drucker brummt.

Also ich habe keine Sorge, dass z.B. die Haptik verloren geht. Die ist übrigens eminent wichtig gerade für mathematisches Verständnis.

Und hier die 7.

7. Medientechnik im Unterricht ist immer aus pädagogischer Perspektive zu hinterfragen und zu beurteilen: ob und ggf. wann sie altersangemessen eingesetzt werden kann, nicht muss.

Gut. Und welche Lehrkraft tut das nicht? Ich kenne keine. Und ich war neulich noch in einer SCHILF – als Dozent. Ohh, ok, SCHILF = schulinterne Lehrerfortbidung.

Lankau schlägt übrigens gern auf das Hasso-Plattner-Institut ein. Dort wurde in einem Modellprojekt mit 30 Schulen, ein LMS, ein Lernmanagementsystem, eine sogennannte Schulcloud entwickelt. Wer will, kann sich das bei github runterladen. Die Kanzlerin hatte das mehrfach erwähnt. Bundesschulcloud und so. Wanka-Milliarden.

Diese Schulcloud wird nie kommen, bundesweit. Weil es dazu schon lange Länderinitiativen gibt. Und weil das ein universitärer Modellversuch ist. Wenig praxistauglich, schon aus Datenschutzgründen.

Vielleicht sollten Lankau und Merkel mal gemeinsam in den Keller gehen. Obwohl, Merkel muss das nicht. Sie braucht nur bessere „Einflüsterer“.

Und nicht die von der Bertelsmann-Stiftung. Die Bertelsmann-Stiftung braucht kein Mensch. Allerdings brauchen wir die verloren gegangenen Steuergelder. Und zwar für unser Bildungssystem.

Und was wir auch nicht brauchen, ist diese Entweder-Oder-Logik aus den Forderungen des Bündnisses. Dies ist schlecht und das ist gut. Leute, schlagt mal nach unter Tetralemma, Catuscoti oder Urteilsvierkant.

Entweder – Oder – Sowohl-als-auch – Weder Noch. Dann klappt‘s auch mit den Neuronen.

Es geht im Grunde nur um Macht, um Lobbyismus, um die durchgedrehte Idee des Neoliberalismus.
Und um die Verteilungsfrage. Vor allem darauf muss sich Kritik besinnen – und nicht nach Schraubenziehern schlagen. Wirkliches kybernetisches Denken wäre da hilfreich.

Ich gehe dann mal wieder in den Keller, weitermachen und die Welt umbauen.

Euch einen schönen dritten Advent. Trotzdem.

Herzlich, Nick H. aka Joachim Paul

 

Quellen, sofern nicht verlinkt

[1] McLuhan, H. Marshall: Die Gutenberg-Galaxis – Das Ende des Buchzeitalters. München 1995

[2] Flusser, Vilém; Unsere Schule, aus: Nachgeschichte, S. 109-114, Frankfurt a.M., 1997, Deutsche Erstveröffentlichung (leicht gekürzt) in: Vilém Flusser, Nachgeschichten. Essays, Vorträge, Glossen, hrsg. Volker Rapsch, Düsseldorf 1990 (Bollmann Verlag);
Geschrieben 1981, Veröffentlichung der portugiesischen Fassung unter dem Titel  „Pós-história“ 1982 bei Duas Cidades, São Paulo

 

 

Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

Neoliberalismuskritik mit Pierre Bourdieu – Von der Mont Pèlerin Society zur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft

Dieses Europa hat keine andere Utopie als jene, die sich zwangsläufig aus den Unternehmensbilanzen und Buchführungen ergibt, kein positives Projekt, nur das der shareholders, denen es nur noch um maximale Renditen geht, denen Bildung und Kultur nur noch als Produktionsfaktor in den Sinn kommen [….] es ist höchste Zeit, die Voraussetzungen für den kollektiven Entwurf einer sozialen Utopie zu schaffen [….]

[Hervorhebung im Original] [1]

Mit diesem kräftigen Zitat vom Buchrücken des Werkes Gegenfeuer von Pierre Bourdieu leitet Raffael Scholz seine Diplomarbeit ein. Der Soziologe gab ihr den Titel „Neoliberalismuskritik mit Pierre Bourdieu – Von der Mont Pèlerin Society zur Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“. Sie kann über den Link aufgerufen werden.

Wie das? Sollen wir jetzt auch noch soziologische Diplomarbeiten lesen, in die sonst bestenfalls nur der prüfende Professor und vielleicht ein paar Institutsmitglieder reinschauen?

Genau. Das Ding liest sich nämlich wie ein Krimi. Raffael Scholz hat es geschafft, dem Neoliberalismus und seiner Geschichte ein Stück seines intransparenten Fells abzuziehen. Obwohl die Arbeit bereits an mehreren Stellen im Netz verfügbar ist, wird sie hier ein weiteres Mal republiziert. Und das verbunden mit der Hoffnung, diese komplizierten Zusammenhänge für noch mehr LeserInnen nachvollziehbar zu machen, den Neoliberalismus und seine Wirksamkeit verständlich zu machen.

Zu Zeiten des kalten Krieges war hierzulande von einigen Pressevertretern und Politikern des öfteren von der Gefahr der kommunistischen Unterwanderung des Westens die Rede. Und zwar mit dem Ziel, den ein oder anderen Vertreter linker oder sozialpolitischer Denkrichtungen zu diskreditieren. Heute müssen wir feststellen, dass die neoliberalen Unterwanderstiefel wesentlich besser funktioniert haben, dass es dem Neoliberalismus gelungen ist, zu vielen gesellschaftlichen und politischen Fragen die Agenda zu bestimmen und wesentlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung in den westlichen Gesellschaften zu nehmen. Ihren Ausgang nahm diese Entwicklung bei der Mont Pèlerin Society.

Dieses von Friedrich August von Hayek im April 1947 initiierte Treffen von 36 liberalen Intellektuellen am Mont Pèlerin – bei Vevey am Genfersee, zwischen Lausanne und Montreux – kann als Startschuss einer weltweiten Gründungswelle von zahlreichen neoliberalen Denktanks verstanden werden, denen die auf dem Treffen gegründete Gesellschaft als Anregung und Vorbild diente.

Nun ist es nicht so, dass man den Neoliberalismus einfach als eine monolithisch daherkommende geschlossene Ideologie verstehen kann, und schon gar nicht als eine Art von Verschwörung. Den Beteiligten ist aber gemein, dass es ihnen um politische und wirtschaftliche Einflussnahme, um Macht geht. Die Forderung nach einer logischen Konsistenz der theoretischen Vorstellungen blieb dabei völlig auf der Strecke.

Etwas vereinfacht kann der Neoliberalismus auf zwei Wurzeln zurückgeführt werden, erstens die Chicagoer Schule der ökonomischen Theorie, die behauptete, dass die Wirtschaftswissenschaften ebenso wie die Naturwissenschaften universell gültige Gesetzmäßigkeiten beschreiben, sowie zweitens die Österreichische Schule – u.a. um den bereits genannten Friedrich August von Hayek – in der die Ansicht vorherrschte, dass naturwissenschaftliche Methoden nicht auf die Gesellschaft anwendbar seien. Diese elementare Meinungsverschiedenheit tat jedoch der Begeisterung für die bloße Idee des freien Marktes keinen Abbruch. „Wie man ihn theoretisch begründete, spielte letztlich keine Rolle.“[2] Das schreibt der britische Philosoph John Gray, der selbst Mitglied der Mont Pélerin Society war und 1996 aus ihr austrat.

Ein Zitat Hayeks betont die Überlegenheit der sog. freien Marktwirtschaft:

„Dass in die Ordnung einer Marktwirtschaft viel mehr Wissen von Tatsachen eingeht, als irgendein einzelner Mensch oder selbst irgendeine Organisation wissen kann, ist der entscheidende Grund, weshalb die Marktwirtschaft mehr leistet als irgendeine andere Wirtschaftsform.“ [3]

Durch die unreflektierte Annahme einer höherwertigen Rationalität des Marktes, die mehr sein soll als die Summe der Rationalitäten der einzelnen Marktteilnehmer (homo oeconomicus) und die vom Neoliberalismus daher über die Rationalitäten der Individuen gestellt wird, gewinnt der Neoliberalismus von der Struktur her quasireligiöse Züge. Er vergötzt den Schwarm der Marktteilnehmer und predigt faktisch Anpassung, Unterwerfung und Selbstaufgabe für das Individuum.

Diese Predigt erfolgt jedoch nicht offen sondern über Gesten der Verführung, des Versprechens auf Selbstverwirklichung und Selbstgenuss, das jedoch der neoliberalen Wettbewerbslogik folgend ganz zwangsläufig wenige Gewinner und viele Verlierer produziert. Reduziert man auf die ökonomischen Verhältnisse, dann reicht allein die sich immer weiter verschärfende globale Vermögensverteilung [4] als Aufweis.

Einer der fundamentalen Widersprüche des Neoliberalismus „ist der zwischen dem in der neoliberalen Rhetorik so vielbesungenen ‚freien Markt‘ und der Tatsache, dass der Neoliberalismus vor nichts eine größere Angst hat als vor einem wirklich freien Markt. Der ‚freie Markt‘ ist nur für die ökonomisch Schwachen, ob Personen oder Staaten, gedacht, während die ökonomisch Starken, insbesondere Großkonzerne, durch staatliche Interventionen vor ebendiesen Kräften zu schützen sind. Der Neoliberalismus benötigt also für seine eigentlichen Ziele, nämlich die einer Umverteilung und beständigen Akkumulation, ganz wesentlich den starken Staat, der die ‚Marktfreiheit‘ in seinem Sinne reguliert.“[5]

Am vorläufigen Ende der Entwicklung, die an dem Hügel in der Schweiz einen ihrer Anfänge hatte, steht u.a. die Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft, die wie auch in Scholz‘ Arbeit erwähnt durch unseriös geführte Kampagnen auffiel. So sah sich die INSM dem Vorwurf der Beeinflussung von Drehbüchern der Fernsehserie Marienhof der ARD ausgesetzt.

Der Soziologe Raffael Scholz – Auslöser dafür war in der Tat seine hier republizierte Diplomarbeit – konnte von der Piratenfraktion NRW als Rechercheur und freier Referent angeworben werden. Er war zwischen 2015 und 2016 für mehrere Monate freier Mitarbeiter der Fraktion und führte eine umfangreiche Recherche durch auf deren Basis die Fraktion am 06.04.2016 ihre große Anfrage zur politischen Einflussnahme der Bertelsmann-Stiftung auf die Landesregierung NRW stellte.

Näheres dazu mit allen dazugehörigen Links findet man in zwei Telepolis-Beiträgen von Thomas Barth:

https://www.heise.de/tp/features/Lobbyismus-Koenig-Bertelsmann-3572721.html

https://www.heise.de/tp/features/Bertelsmann-Juristen-und-NRW-Lokalpresse-nehmen-Piraten-Kritik-auf-3633597.html
Darüber hinaus muss in diesem Zusammenhang noch auf ein Interview mit Dieter Plehwe hingewiesen werden, der lange u.a. zur Mont Pèlerin Society geforscht hat:

https://www.heise.de/tp/features/Die-transnationalen-Machteliten-haben-sowohl-kosmopolitische-als-auch-neo-nationalistische-Kraefte-3896376.html

Einen schönen 2. Advent.
Nick H. aka Joachim Paul

wie üblich hier die Quellen:

[1] Bourdieu, Pierre; Gegenfeuer. Wortmeldungen im Dienste des Widerstands gegen die neoliberale Invasion. Konstanz 1998

[2] Gray, John; Politik der Apokalypse – Wie Religion die Welt in die Krise stürzt; aus dem Englischen von Christoph Trunk, Klett Cotta, Stuttgart 2009; Original: „Black Mass. Apocalyptic Religion and the Death of Utopia“, Farrar, Strauss and Giroux, New York 2007

[3] Hayek, Friedrich A. von (2001): Wirtschaft, Wissenschaft und Politik. Aufsätze zur Wirtschaftspolitik. Hg. v. Viktor Vanberg. Tübingen 2001, S. 76

[4] Piketty, Thomas; Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014

[5] Mausfeld, Rainer; Berger, Jens; Interview: Die neoliberale Indoktrination; Nachdenkseiten 2016; http://www.nachdenkseiten.de/?p=30286#more-30286

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Weihnachtszeit – Charity-Zeit ….

Die Wohltätigkeit ersäuft das Recht im Mistloch der Gnade.

Hmm. Vielleicht sollte ich doch noch mal Pestalozzi lesen.

Georg Schramm in seiner Rolle als Lothar Dombrowski gestand in seiner Festrede anläßlich der Verleihung des Otto-Brenner-Preises 2017 am 21.11. in Berlin, dass er ihn auch nicht gelesen hat.

Und es ist langsam Zeit, den Friede Springers und den Liz Mohns dieser Welt gewaltfrei aber kräftig auf die Pelle zu rücken.

Demokratie und Pressefreiheit – oder rumgedreht – Pressefreiheit und Demokratie zuliebe.

Denn die eine bedingt die andere. Einen schönen ersten Advent noch.

Nick H. aka Joachim Paul

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Zum Sozialticket: Sollen sie doch Diesel fahren

Nordrhein-Westfalen beherbergt mit der Riesenstadt Rhein-Ruhr die größte Metropole der westlichen Welt ohne flächendeckend funktionierenden Öffentlichen Personennahverker (ÖPNV) und gleichzeitig mit den größten Verkehrsproblemen der Bundesrepublik. Es läge daher nahe, den ÖPNV in NRW massiv auszubauen und attraktiver zu machen: Vor allem, um die Berufspendler von der Straße zu holen. Denn es gibt Menschen, die […]
Veröffentlicht unter Persönliche Blogposts

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