Mittwoch, 16. Oktober 2013
TOP 5. Aussetzung der Sanktionen im ALG II Bezug
Der Effekt von Sanktionen gegen ALG II-Empfängern ist immer noch nicht bewiesen. Die Jobcenter nutzen dieses Werkzeug, das moralisch höchst umstritten ist, ohne jede Auswertung oder Bilanzierung. Dementsprechend hat an vielen Stellen bereits ein Umdenken eingesetzt. Wir fordern, dass die Landesregierung im Bundesrat auf eine Aussetzung drängt und eine entsprechende Gesetzesinitiative auf Bundesratsebene startet.
Torsten Sommer, Arbeitspolitischer Sprecher der Piratenfraktion: „Anstelle einer intensiven Betreuung setzen viele Jobcenter verstärkt auf Sanktionen. Das ist eine Fehlentwicklung. Wir müssen neue Wege finden, um die Menschen zu motivieren und mitzunehmen, statt sie zurückzulassen und damit auszugrenzen.“
Abstimmungsergebnis: Der Antrag wurde einstimmig an den Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales überwiesen.
Protokoll der Rede von Torsten Sommer:
Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer und Zuschauerinnen auf der Tribüne und natürlich im Live-Stream! Laut einer Pressemitteilung des Landkreistages vom 1. Oktober dieses Jahres befanden sich im September 2013 bundesweit über 6 Millionen Menschen im Bezug von SGB-II-Leistungen. Während in den ostdeutschen Ländern der Anteil an Hartz-IV-Beziehern seit 2005 deutlich sinkt, ist in Berlin und Nordrhein-Westfalen leider nichts vorangegangen. Bundesweit haben wir uns hier am schlechtesten entwickelt. Im August 2013 musste eine höhere Anzahl von Menschen im Hartz-IV-Bezug verzeichnet werden als noch vor acht Jahren, als die Arbeitslosigkeit in Deutschland insgesamt auf einem Rekordniveau war.
Was tun wir an dieser Stelle? Statt Hilfe und einer intensiveren Betreuung setzen viele Jobcenter hier verstärkt auf Sanktionen. War die Anzahl der verhängten Sanktionen bis zum Mai dieses Jahres noch zurückgegangen, ist sie zuletzt wieder deutlich angestiegen, obwohl es kein Plus an freien Arbeitsstellen gibt.
Im Einzelnen:
Wie sich aus diversen Statistiken schon ablesen lässt, resultieren die meisten Sanktionen aus Verspätungen oder Terminversäumnissen. Bei den über 25-Jährigen gehen damit Sanktionen in Höhe von jeweils 10 % des Bezuges einher – kumulierend, versteht sich. Mit dieser Sanktion fällt derjenige regelmäßig unter einen Bezug, der als existenzsichernd anzunehmen ist. Mit anderen Worten: Von einem solchen Bezug kann man auch bei Anlegung von strengen Kriterien nicht mehr leben.
Selbst wenn hier nicht durchgängig auf Sanktionen abgezielt wird, muss man festhalten, dass der Betreffende immer dem Ermessen des jeweiligen Sachbearbeiters ausgeliefert ist. Auch diese ungleiche Behandlung lässt viele Bezieher verzweifeln, gerade dann, wenn sie sich untereinander austauschen und dadurch von den unterschiedlichen Maßstäben erfahren. Für die Sachbearbeiter ist das ebenfalls keine einfache Situation.
Dass Sanktionen wegen nicht eingehaltener Termine im Gegensatz zu Sanktionen wegen einer Pflichtverletzung die häufigsten sind, kann wohl nicht alleine daran liegen, dass es so viele Terminversäumnisse gibt. Es ist eher anzunehmen, dass diese Art der Sanktion leichter nachweisbar und gegenüber dem Bezieher auch leichter durchsetzbar ist. Und selbst dann kommen wir in den Widerspruchsverfahren zu einem Durchsetzungsgrad von nur etwa 50 %.
Explizit genannt werden hier die Regelungen der Sanktionspraxis, die hauptsächlich in den §§ 31 und 31a des SGB II normiert sind. Eine hier vorgenommene Unterscheidung in über und unter 25-Jährige halten wir für willkürlich und somit für nicht vereinbar mit dem AGG.
Denn § 31a Abs. 2 Sozialgesetzbuch II bestimmt, dass bei Menschen unterhalb der willkürlichen Altersgrenze der Regelsatz komplett entfällt, wenn nur ein Verstoß gegeben ist. Bei einer Wiederholung entfällt sogar das Geld für Unterkunft und Heizung. Während im letzten Fall bei einem sogenannten reuigen Verhalten zumindest die Unterkunft wieder bezahlt wird, verbleibt es bei der harten Regelung – der Regelsatzstreichung – beim ersten Verstoß. Verschärfend kommt hinzu, dass es an dieser Stelle keinen gesetzlichen Ermessensspielraum gibt.
In diesem Zusammenhang wäre es auch interessant, zu erfahren, wie das in der am 1. Januar in Kraft getretenen Agenda 2010 genannte Konzept „Fördern und Fordern“ überhaupt evaluiert wurde. Beispielsweise die Erfassung der Gesamtkosten der Sanktionspraxis, übrigens insbesondere im Justizbereich, muss an dieser Stelle vollumfänglich einbezogen werden. Das ist bisher leider nicht geschehen.
Auf meine Kleine Anfrage vom 6. August 2013 zum Thema „Rechtssicherheit in der Sanktionspraxis“ erhielt ich von der Landesregierung viermal die Antwort: „Der Landesregierung liegen hierzu keine Erkenntnisse vor.“
Am Ende lässt sich Folgendes zusammenfassen: Die bisherige Sanktionspraxis, seit 2005 angewandt, lässt sich kaum wissenschaftlich auswerten und kann somit als gescheitert angesehen werden.
(Beifall von den PIRATEN und Martina Maaßen [GRÜNE])
Wir müssen neue Wege finden, Menschen zu motivieren und mitzunehmen, anstatt sie zurückzulassen und damit auszugrenzen.
Im Ausschuss für Arbeit, Gesundheit und Soziales müssen wir uns mit dieser Frage wieder eingehend befassen. Bereits in der letzten Wahlperiode gab es zu dieser Thematik eine Entscheidung im Ausschuss. Leider ist die endgültige Befassung der Diskontinuität zum Opfer gefallen. Lassen Sie uns deshalb gemeinsam diese wichtige Aufgabenstellung erneut aufgreifen und zu einem ergebnisorientierten Abschluss bringen.
Ich möchte an dieser Stelle unsere Landtagspräsidentin, Frau Gödecke, zitieren, die am letzten Freitag hier am Pult sagte: „Nordrhein-Westfalen muss das soziale Gewissen der Bundesrepublik sein.“ Dem kann ich mich nur anschließen. – Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall von den PIRATEN – Vereinzelt Beifall von den GRÜNEN)
biite unterstützen
Petition 46483
Arbeitslosengeld II – Abschaffung der Sanktionen und Leistungseinschränkungen (SGB II und SGB XII) vom 23.10.2013
https://epetitionen.bundestag.de/petitionen/_2013/_10/_23/Petition_46483.html