Das nordrhein-westfälische Parlament braucht eine fortschrittliche Debattenkultur, die den Erwartungen der Gesellschaft folgt.

21. April 2016, TOP 11, ca. 16.35 Uhr

Drucksache 16/11689

I. Sachverhalt

Die Zuschauer zu grüßen hat sich im Landtag von Nordrhein-Westfalen mit dem Einzug der PIRATEN zu einer gängigen und mittlerweile auch von einigen anderen Abgeordneten[1] gern gelebten Praxis entwickelt.

Das Präsidium des Landtages beauftragte zwischen Dezember 2015 und Februar 2016 ein Gutachten[2], inwieweit Abgeordnete Besucher ansprechen dürfen. Anlass bot eine Situation am 4. Dezember 2015 im Plenum: Der Abgeordnete Oliver Bayer hatte den Zuschauern und Abgeordneten einen komplexeren Sachverhalt erklären wollen. Vizepräsident Keymis unterbrach ihn und mahnte Weimar an.

Das Gutachten trägt den Titel „Zulässigkeit der Kommunikation zwischen Abgeordneten und Besuchern während der Plenardebatte mit Bezügen zur historischen Entwicklung“ und sollte ausdrücklich auch Bezüge zur historischen Entwicklung darstellen.

Das Gutachten selbst weist darauf hin, dass bei der Ansprache des Publikums die Intention entscheidend ist. Auf der einen Seite steht die Strategie demokratiefeindlicher Kräfte, wie ehemals die NSDAP „Sand ins Getriebe zu streuen, Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen, die parlamentarische Arbeit möglichst dadurch zu behindern, daß man ihre Regeln anzweifelte.“[3] Diese Kräfte möchten Volk und Parlament voneinander entfernen und Regeln brechen, um zu polarisieren.

Auf der anderen Seite steht die Intention, den Parlamentarismus schrittweise weiterzuentwickeln und dadurch zu stärken. Dazu gehört es, einer Entfremdung und Politikverdrossenheit entgegenzuwirken, indem die Kommunikation gesellschaftlichen Entwicklungen folgt. Implizite Regeln des Parlaments unterliegen einem Wandel und dieser muss den stark gestiegenen Anforderungen an Transparenz, Bürgerbeteiligung und Offenheit folgen können.

Das Gutachten spricht dabei von Errungenschaften und formuliert: „Hier ist auch ein Wertewandel zu berücksichtigen. Transparenz und Öffentlichkeit haben heute einen anderen Stellenwert als noch vor einigen Jahren.“[4] Damit zeigt es, dass sich der Parlamentarismus ändern kann und weiter verändern muss und dass dies ein guter Prozess ist. Alle Bemühungen um Transparenz, auch das Streamen von Anhörungen und zukünftig hoffentlich Ausschusssitzungen und auch die Rede für diejenigen, die zuhören, sind positive Entwicklungen, die dann nachhaltig zu Veränderungen führen, wenn sie nach und nach von mehreren Fraktionen aufgenommen und angenommen werden.

Gleichzeitig zeigt das Gutachten auf, welche Diskrepanz entstehen kann, wenn Veränderung und Anspruch bzw. Anschein auseinanderdriften: „Die Debatte im Plenum dient nicht mehr der Suche nach der richtigen Lösung, sie zwingt Regierung und Opposition vielmehr dazu ihre jeweilige Politik darzulegen und Meinungsunterschiede öffentlich auszutragen.“[5] Ging es in Plenardebatten ursprünglich um Entscheidungsfindung, so werden heute nur noch Stellungnahmen für die Öffentlichkeit abgegeben. Dennoch wird der Anschein vermittelt, die Debatten seien Ergebnisoffen. Reine Showdebatten, welche weder ergebnisoffen, noch bezüglich ihrer Rolle und Funktion für die Öffentlichkeit transparent sind, stärken allerdings nicht den Parlamentarismus, sondern fördern Politikverdrossenheit.

Unverständliche und an den jeweiligen Sachfragen vorbeigehende Parteipolitik im Parlament, Fraktionszwang und die Verbannung von Entscheidungsfindungen in nichtöffentliche und inoffizielle Treffen außerhalb der offiziellen parlamentarischen Institutionen, sind Entwicklungen, die mutmaßlich den Erwartungen der Gesellschaft entgegengesetzt verlaufen sind. Es bleibt ein Problem des Systems, wenn Entscheidungen politisch von der Regierung getroffen werden und die Regierungsfraktionen diese Entscheidungen im Parlament lediglich exekutieren. Die Regierung nimmt sogar mit der Beantragung von Unterrichtungen und der Ausweitung von Redezeiten in dieser Legislaturperiode zunehmend direkt Einfluss auf die Schwerpunktsetzung und den organisatorischen Verlauf der Parlamentsdebatten. Errungenschaften des Parlamentarismus bleiben dabei auf der Strecke. So führt der fehlende Respekt für das Freie Mandat im Landtag NRW immer wieder zu Missverständnissen zwischen Parlament und Öffentlichkeit.

Die Folge dieser Praxis entgegen des Anspruchs des Parlaments ist eine Debattenkultur, die zu einer Kultur der Mittelmäßigkeit auch bezüglich der politischen Ziele und Ergebnisse für Nordrhein-Westfalen führt. Denn oftmals werden ohne breite Aussprache und ohne jede ergebnisoffene Beteiligung in der Fraktions- und Parteispitze vorgefasste elitäre Positionen durch das Parlament gebracht, die singulär Partikularinteressen bedienen oder die sich am Ende als wenig oder gar nicht zu Ende durchdacht erweisen. In anderen Fällen, man sieht es an der Verfassungskommission, weicht der eigene Anspruch an Offenheit und Transparenz während eines langen Prozesses schlussendlich einem davon weitgehend abgekoppelten elitären Entscheidungsverfahren.

Die sukzessive Weiterentwicklung der Debattenkultur und der expliziten wie impliziten Regeln des Parlamentarismus in NRW ist daher wünschenswert und sollte aktiv und progressiv betrieben werden. Demokratie darf für die „Alteingesessenen“ und „Entscheider“ unbequem sein und die Regeln des Parlaments dürfen nicht vorwiegend zur „Durchregierbarkeit“ hin optimiert werden. Technische und gesellschaftliche Entwicklungen im Zuge der Digitalen Revolution bieten die Chance, dem Ruf der Gesellschaft nach Bürgerbeteiligung und Transparenz zu folgen (siehe u.a. den Umsetzungsstand der Kremser Erklärung).

Das aktuelle parlamentarische System ist grundsätzlich stabil und funktionsfähig, es benötigt allerdings ein Update in der Debattenkultur von innen heraus. Gleichzeitig müssen die Erwartungen der Gesellschaft bekannt sein. Für Entwicklungen der Demokratie, die weit über die Debattenkultur hinausgehen und eine Verfassungsänderung benötigen, ist auch ein entsprechender Volksentscheid angebracht.

II. Der Landtag stellt fest:

  1. Das nordrhein-westfälische Parlament hat keine fortschrittliche Debattenkultur, die den Erwartungen der Gesellschaft hinsichtlich Offenheit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Ehrlichkeit folgen kann.
  2. Eine grundsätzliche Abwehrmauer gegen Entwicklungen, die aus der Innensicht lediglich unbequem oder gar aus strategischen Gründen inakzeptabel erscheinen, richtet sich immer auch gegen Offenheit, Transparenz und demokratische Beteiligung.
  3. Der Parlamentarismus darf, kann und muss sich weiterentwickeln, um den Erwartungen der Gesellschaft gerecht zu werden.

III. Beschlussfassung

Das nordrhein-westfälische Parlament braucht eine fortschrittliche Debattenkultur, die den Erwartungen der Gesellschaft hinsichtlich Offenheit, Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Ehrlichkeit folgt. Es verpflichtet sich diesen Werten.

 

[1] vgl. Gutachten, S.20: in einer Stichprobe lebten diese Praxis 24 von 124 der Redenden, davon 15 Angehörige der Piratenfraktion. Im Bundestag ergab eine ähnliche Stichprobe: 22 von 152.

[2] Gutachten „Zulässigkeit der Kommunikation zwischen Abgeordneten und Besuchern während der Plenardebatte mit Bezügen zur historischen Entwicklung“

http://landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMI16-339.pdf
Anm.: Genaueres zur Beauftragung und die Hintergründe des Präsidiums sind der Piratenfraktion unbekannt, da sie aus dem Gremium ausgeschlossen wird und es keine öffentlichen Protokolle gibt.

[3] Mergel, Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, S. 448; zitiert im Gutachten, S. 14.

[4] Gutachten, S. 21

[5] Achterberg, Parlamentsrecht, S. 564; Zitiert im Gutachten, S. 7f

Mitschnitt der kompletten Debatte:

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