Landesregierung versagt in der Flüchtlingspolitik

2015-09-30_Dietmar Schulz_Nachtragshaushalt FlüchtlingeNachtragshaushalt 2015 und Flüchtlinge

Zur Unterrichtung der Landesregierung und zum Nachtragshaushalt sagt Dietmar Schulz, Haushalts- und Finanzpolitischer Sprecher der Piratenfraktion NRW:

„Die Flüchtlinge erleben keine Willkommenskultur in NRW. Sie erleben eine desolate sanitäre Situation mit Außenduschen, verdreckten Toiletten, untauglicher Stromversorgung – sie landen in desolaten, chaotischen Verhältnissen. Seit Jahren weisen gerade wir Piraten die Landesregierung darauf hin, dass sie mit den Planungen der vorhersehbaren Situation hinterherhinken.

  • Wir forderten die verstärkte Vorbereitung und Bereitstellung von Flüchtlingsunterkünften.
    Vergebens. Abgelehnt durch Rot/Grün.
  • Wir forderten Bestandsaufnahmen von geeigneten Räumen für die Unterbringung
    Abgelehnt durch Rot/Grün.
  • Wir forderten die Umsetzung von einheitlichen Unterkunftsstandards.
    Abgelehnt durch Rot/Grün.
  • Wir forderten „keine Zeltstädte“ für Flüchtlinge in NRW.
    Abgelehnt durch rot/Grün.

Noch vor einem Jahr haben Frau Kraft und Herr Jäger verkündet, dass Zeltstädte nicht in Frage kämen. Heute wird die Zeltunterkunft Standard der Erstunterbringung. Die Landesregierung verfährt nach dem Prinzip „Trial and Error“ und rennt den Entwicklungen hinterher. Hilflos! Planlos!

Die Landesregierung ist völlig überfordert!“


 

Das Redemanuskript im vorbereiteten Wortlaut – es gilt das gesprochene Wort.

[Anrede]

Was muss in den Köpfen von Flüchtlingen vorgehen, wenn diese am vorläufigen Ende ihrer Flucht in Deutschland angekommen lieber auf der Straße übernachten als in einer ihnen angebotenen Flüchtlings-Massenunterkunft? So zu vernehmen in den Tagesthemen gestern und – ja, das muss gesagt sein – bezogen auf den Stadtstaat Hamburg und nicht in NRW. Nicht in NRW? Ist das nicht auch ein vorstellbares Szenario hier bei uns?

Diese Flüchtlinge erleben keine Willkommenskultur, sondern sie erleben desolate sanitäre Situationen mit Außenduschen, verdreckten Toiletten und untauglicher Stromversorgung.

Sie kommen in eines der reichsten Länder der Erde, in dem sie Schutz suchen und Schutzlosigkeit vor den für sie ungewohnten Witterungsverhältnissen vorfinden und desolate, chaotische Verhältnisse.

Und kümmert man sich persönlich als Abgeordneter dieses Hohen Hauses darum, wie ich es vor knapp drei Wochen in Köln tun wollte; in einer Zeltstadt in Chorweiler, in der tags zuvor von hygienischen Missständen durch das Auftreten von E-Coli-Bakterien in den Duschen berichtet wurde, wird einem der Einlass verweigert. Über vierstündiges Ringen und Verhandeln mit Bezirksregierung und Ministerium. Einlass begehrt. Gescheitert an der Eitelkeit und bürokratischen Unflexibilität einer Bezirksregierung, einer Regierungspräsidentin, die auch noch Rückendeckung von Ihrem, Frau Kraft, Innenminister erhält.

Sie wollen von dieser Opposition Unterstützung erwarten können?

Wir alle wissen, dass die auch und gerade seitens der Piraten seit Jahr und Tag geforderte Aufstellung von Standards für die Flüchtlingsunterbringung bis heute keine Pläne der Landesregierung existieren. Und Sie alle von der Landesregierung stellen sich wieder und wieder hier hin und behaupten, das sei alles nicht absehbar gewesen.

Frau Kraft, Sie stellen sich hier ans Rednerpult des hohen Hauses und verkünden Durchhalteparolen nach dem Motto „Wir schaffen das“. Sie schaffen es nicht. Die Menschen schaffen es. Und diese Menschen lassen Sie alleine. Alleine mit ihrer Planung. Alleine mit ihrer Organisation der Hilfsbereitschaft. Und all diesen tausenden Beteiligten der sog. Zivilgesellschaft an dieser Stelle nochmals vorzüglichen Dank.

Flüchtlingsorganisationen weltweit prognostizieren die Bewegungen von fünf Millionen Flüchtlingen europanah seit Jahren! Der Arabische Frühling, die Unruhen und kriegerischen Auseinandersetzungen im Nahen und Mittleren Osten sind keine Erscheinung, die in diesem Jahr über uns hereingebrochen sind. Sie sind seit Jahren bekannt. Seit Jahren weisen gerade wir Piraten SIE darauf hin, dass Sie mit ihren Planungen der vorhersehbaren Situation hinterherhinken.

  • Wir forderten die verstärkte Vorbereitung und Bereitstellung von Flüchtlingsunterkünften. Vergebens. Abgelehnt durch Rot/Grün.
  • Wir forderten Bestandsaufnahmen von geeigneten Räumlichkeiten für die Unterbringung von Flüchtlingen. Vergebens. Abgelehnt durch Rot/Grün.
  • Wir forderten die Umsetzung von einheitlichen Unterkunftsstandards. Vergebens. Abgelehnt durch Rot/Grün.
  • Wir forderten „keine Zeltstädte“ für Flüchtlinge in NRW. Vergebens. Abgelehnt durch rot/Grün.
  • Und Sie haben durch Ihren Innenminister verkünden lassen, dass Zeltstädte nicht in Frage kämen. Das war noch vor 1 Jahr. Heute wird die Zeltunterkunft Standard der Erstunterbringung.

Was haben wir immer und immer wieder erfahren?

Ich sage es Ihnen: Ungläubiges Kopfschütteln und Schulterzucken von Rot/Grün gefolgt von Untätigkeit. Und jetzt tritt ein, was prognostiziert war! Bis heute fehlen trotz aller Anstrengungen der Landesregierung Unterkünfte.

Frau Ministerpräsidentin, warum stellen Sie sich nicht hier ans Rednerpult und sagen den Menschen im Land, wie die wahre Situation im Land aussieht?

Bis heute gibt es kein wie von uns zahlreich gefordertes Beschwerdemanagement. Das ist wohl auch gut so, denn es würde unter den Belastungen eher zusammenbrechen, als Abhilfe schaffen zu können.

Für Ihre „Merkelsche Attitüde“ hier und heute können Sie leider nicht mehr als ein müdes Lächeln ernten, Frau Ministerpräsidentin.

Da sollten Sie vielleicht einmal den Worten Ihres Parteivorsitzenden lauschen, der da sinngemäß sagt: Die Umsetzung aller Maßnahmen wird noch ein Problem werden. Aber auch Sigmar Gabriel liegt Welten daneben. Denn die Probleme sind schon längst da. Überall. In nahezu jeder größeren Kommune in NRW.

Und da reicht es einfach nicht, zu wissen, dass es Probleme gibt. Es ist NICHT die Aufgabe der Politik, zu sagen, dass es Probleme gibt oder geben wird. Es ist die Aufgabe der Politik, die Antworten zu geben und die Probleme proaktiv zu lösen!

Auch Sie geben diese Antworten nicht, Frau Ministerpräsidentin.

Sie zeigen keine Lösungswege auf.

Sie monetarisieren Willkommenskultur, aber Sie haben keinen Plan.

Sie verfahren nach dem Prinzip „Trial and Error“ und rennen den Entwicklungen hinterher. Hilflos! Planlos!

Frau Kraft, Sie und Ihre Landesregierung sind völlig überfordert!

Wo bleibt der Plan NACH der gebetmühlenartigen Beteuerung von Willkommenskultur?

Wo bleibt die Integration? Die Politik fordert Integration. Das ist gut. Aber wir alle sind es auch, die die Voraussetzungen dafür schaffen müssen. Die Rahmenbedingungen.

Da reicht es eben nicht, wenn wie im 3. Nachtragshaushalt 900 Stellen für sog. Integrationslehrerinnen und Lehrer geschaffen werden, die für die sprachliche Integration bereit stehen sollen. Lediglich 1/5 der Stellen können überhaupt mit entsprechenden Qualifikationen besetzt werden.

Und wir erleben in Zusammenhang mit dem eigentlichen heutigen Thema – dem 3. Nachtragshaushalt NRW weiter folgendes: Die Lancierung einer Unterrichtung durch die Landesregierung über die Ergebnisse und die Konsequenzen aus dem Flüchtlingsgipfel in Berlin, der sich überwiegend mit der Haushaltssituation 2016 befasst.

Heute, sehr verehrte Damen und Herren der Landesregierung, sehr verehrte Kolleginnen und Kollegen geht es jedoch nicht um den Landeshaushalt 2016, sondern um den 3. Nachtragshaushalt 2015.

Die Landesregierung hat es schon fast logisch nicht auf die Reihe bekommen, eine Ergänzungsvorlage für 2016 vorzulegen.

Stattdessen soll mit den Zahlen aus dem Flüchtlingsgipfel Schönfärberei betrieben werden, die das Märchen vom „Wir schaffen das“ fortsetzt, aber eben an der harten Realität komplett vorbei geht.

Sie wollen von den wahren Problemen im Land ablenken! Sie wollen die Menschen in unserem Land beruhigen, indem Sie den Eindruck erwecken, Sie hätten alles im Griff. Nichts haben Sie im Griff, Frau Ministerpräsidentin.

Dennoch setze ich mich einmal kurz mit den uns vorliegenden Zahlen und Erkenntnissen auseinander:

  • Es zeichnet sich bereits jetzt ein 4. Nachtragshaushalt ab, denn die 1 Mrd. € zusätzlich vom Bund heißt: 217 Mio € zu verteilen.
  • 5 Monat Verfahrensdauer bei Annahme von 800.000 Flüchtlingen auch in 2016 x 670 € / Monat = 2,68 Mrd. €  = rd. 580 Mio für NRW
  • Der Bund geht davon aus, dass 400.000 Asylbewerber keine Aussicht auf ein Bleiberecht haben und für diese soll 1 weiterer Monat bevorschusst werden zu 670 €/Asylbewerber = 268 Millionen € = rund 58 Millionen € für NRW
  • 350 Millionen € sollen in die Betreuung unbegleiteter Flüchtlinge gesteckt werden. Das heißt für NRW: rund 76 Millionen €
  • Verteilung des für 2016 eingeplanten Betreuungsgeldes = 1 Milliarde € = 217 Millionen € für NRW
  • 500 Millionen € Förderung des sozialen Wohnungsbaus. Angesichts 500.000 fehlenden Wohnungen eine Farce. Für NRW sind das rund 108 Millionen €

Das ist das Ergebnis dessen, worüber Sie, Frau Ministerpräsidentin den Landtag heute unterrichtet haben. Frau Kraft, das ist leider ein sehr sehr schlechtes Ergebnis.

Es bleibt nämlich mindestens 1,2 Milliarde € hinter dem Bedarf von NRW für 2016 zurück.

Aus angenommenen 800.000 Flüchtlingen in 2016 folgt für NRW eine Annahme von 175.000 Flüchtlingen. Im Mai/Juni bezifferten Sie selbst in Übereinkunft mit den kommunalen Spitzenverbänden aller Bundesländer den Bedarf pro Flüchtling/Asylbewerber mit 12.500 €.

Daraus folgen bei den Annahmen des Flüchtlingsaufkommens für 2016 in NRW: rund 2,2 Milliarden € Finanzbedarf.

Dem stehen nach den von Ihnen hier und heute dargestellten Zahlen derzeit

580 Mio + 58 Mio + rd. 80 Mio EUR + 217 Mio EUR + 108 Mio EUR

= rund 1,4 Milliarden € gegenüber.

Da braucht dann auch nicht mehr erwähnt zu werden, dass in des mit dem Bund vereinbarten Portfolios rund 1 Milliarde an Regionalisierungsmitteln enthalten sind, die gemäß der Übereinkunft auf 8 Mrd. für die kommenden Jahre angehoben werden sollen und nicht in die Versorgung von Flüchtlingen eingerechnet werden kann, aber dafür über 2019 hinaus gezahlt werden sollen.

Da hat die Landesregierung offenbar nicht aufgepasst, denn die Transportkosten für den Transport von zur Abschiebehaft planmäßig vorgesehenen Flüchtlingen können damit ja nun kaum gemeint sein.

Bis heute wird nicht proaktiv gehandelt, sondern rennt die Landesregierung genauso wie der Bund und die Bundesregierung hinter den Entwicklungen hinterher. Es fehlt jeder Schritt nach vorne, der aus dem Planungschaos und der Hilflosigkeit der Politik heraus führt. Dafür gibt es Verantwortliche und Verantwortlichkeiten. In NRW sind Sie es, Frau Kraft und Sie, Herr Innenminister Jäger.

Sie beide alleine und mit Ihnen die Landesregierung verantworten das Desaster und jede noch so kleine humanitäre Katastrophe, die sich hoffentlich NICHT in den nächsten Monaten abspielen wird. Ich verweise an dieser Stelle auf Duisburg-Walsum: Dort hat ein zu schwaches Stromnetz und haben mangelnde Abwasserversorgung führen dazu geführt, dass mit einem Mal eine Unterbringung von bis zu 1000 Menschen unbrauchbar geworden ist und geräumt werden muss sowie nicht mehr genutzt werden kann.

Der stellvertretende Bezirksbürgermeister von Walsum, Tews, spricht von einem Planungschaos des Landes und davon, dass die Flüchtlingshilfe der Zivilgesellschaft bei ähnlichem Chaos schon längst nicht mehr existent wäre.

Sie, Herr Minister Jäger sagten vorgestern, es sei in NRW kein Flüchtling in Unterkünften untergebracht, die nicht winterfest seien. Angesichts mittlerweile über 20 Zeltstädten halte ich das für ein recht abenteuerliches Märchen.

Zelte sind nicht winterfest! Schon gar nicht, wenn die sanitären Anlagen draußen sind.

Da das aber eine unrealistische Forderung ist und einige anfallende Kostenfaktoren in diesem Zusammenhang, wie z. B. Schulbetreuung, auf originäre Landesaufgaben zurückzuführen sind, sollten Bund und Land zusammen sämtliche Kosten pro Flüchtling tragen.

Und nur das bildet die Realität ab, von der Sie mit Ihrer Unterrichtung weit entfernt sind, Frau Kraft.

Und die große Diskussion mit den Kommunen steht noch aus! Hierfür haben wir heute keine Lösung gehört. Was sie tun, ist unkoordiniert. Und diese Lösung lässt sich auch nicht aus dem Nachtragshaushalt ablesen. Die Stichtagsverschiebung nach dem FlüAG entlastet die Kommunen nur ansatzweise!

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit dem vorliegenden Nachtragshaushalt wird begonnen, monetäre Belastungen abzufangen. Allerdings muss allen klar sein, dass während wir hier reden, Tausende von Flüchtlingen nach NRW kommen. Mit dem vorliegenden Gesetz (3. NTH) ist kein einziger Platz geschaffen und keine einzige Stelle besetzt.

Niemand darf sich morgen zurück lehnen und glauben, es sei alles getan. Im Gegenteil, die Menschen werden weiter kommen und Schutz suchen und wir stehen am Anfang der großen Herausforderungen der Integration.

Herzlichen Dank!

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