Mittwoche, 16. Oktober 2013
TOP 1. A k t u e l l e S t u n d e
Protokoll der Rede von Michel Marsching:
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren hier auf der Tribüne und im Stream! Wir reden über den IQB-Ländervergleich 2012. Ich bin sehr glücklich, dass wir eine sachliche Debatte führen. Ich hatte ein bisschen erwartet, wir würden die Empörungswellen hin- und herschwappen lassen, wer wann dran war und wer was falsch gemacht hat. Ich finde, es gehört viel Mut dazu, hier sachlich zu diskutieren. Dafür möchte ich mich bedanken.
(Beifall von den PIRATEN)
Das Wichtige bei dieser Studie ist: Sie bringt keine grundlegend neuen Erkenntnisse. Sie versetzt uns in die Lage, dass wir über die alten Probleme neu reden können, dass wir in die Zukunft schauend darüber nachdenken können, wie wir diese Probleme an den Schulen lösen können. Wir müssen nicht zurückgucken, was die anderen falsch gemacht haben.
Ich sehe vier zentrale Punkte, über die wir reden müssten:
Erstens. Das Statistische Bundesamt hat im Jahr 2010 die Bildungsausgaben pro Schüler zusammengerechnet. NRW liegt dort auf dem letzten Platz – mit 5.500 € pro Schüler. In Bayern sind es 6.900 €, in Sachsen 7.900 €, in Thüringen 8.600 €. Das sind über 50 % mehr Ausgaben. Welch ein „Wunder“, dass Nordrhein-Westfalen da die rote Laterne hat!
Zweitens. Lassen Sie uns einen Blick auf die Personalausgaben je Schüler werfen. Der Bildungsfinanzbericht 2012 bescheinigt NRW mit 4.200 € pro Schüler auch hier den letzten Platz. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen werden 2.100 € mehr pro Schüler ausgegeben. Das sind wieder 50 % mehr. Die alleinige Betrachtung der Qualifizierung der Lehrkräfte bringt uns hier nicht weiter; sie ist nicht zielführend.
Drittens. Gucken wir uns das Schüler-Lehrer-Verhältnis an. Da haben die Gewinner der Studie einen klaren Vorteil; denn bei ihnen kommen zwölf bis 14 Schüler auf einen Lehrer. In Nordrhein-West-falen sind es 17. Das sind wieder 50 % mehr – aber in die falsche Richtung. Das sind Fakten, die bei einer Analyse der Ergebnisse berücksichtigt werden müssen.
Viertens. Wenn man sich die Unterrichtsstunden anguckt – Herr Kaiser hat das gerade getan –, dann sieht man: In bayerischen Mittelschulen wird Mathematik mit 29 Jahreswochenstunden unterrichtet – das sind die durchschnittlichen Wochenstunden in den sechs Jahren von Klasse 5 bis Klasse 10 zusammen –, in den Realschulen in NRW sind es 24. Das hört sich erst einmal nicht dramatisch an. In sächsischen Gymnasien kommen die Schüler auf 25 Jahreswochenstunden. In NRW sind es 22. Auch dieser Unterschied hört sich nicht dramatisch an.
Wenn man das jedoch in absoluten Zahlen ausdrückt, dann heißt das, dass NRW-Schüler an den Mittelschulen bzw. an den Realschulen 195 Unterrichtsstunden weniger in Mathematik bekommen oder – anders ausgedrückt – sechseinhalb komplette Schulwochen. An den Gymnasien sind es immerhin noch 117 Schulstunden oder vier komplette Schulwochen.
Bei den Naturwissenschaften sieht es noch viel schlimmer aus. In Sachsen werden die Schülerinnen und Schüler mit 27 Jahreswochenstunden unterrichtet, in Nordrhein-Westfalen liegt der Durchschnitt bei nicht gymnasialen Schulen bei 20 Wochenstunden. Das sind 273 komplette Schulstunden weniger Naturwissenschaften. Insofern ist klar, dass NRW nicht diese guten Ergebnisse bringen kann. In Thüringen werden an den Gymnasien 29 Jahreswochenstunden unterrichtet. Hier sind es 22. Das sind wieder 50 % – aber in die falsche Richtung.
Das sind Fakten, die wir bei der Analyse der Ergebnisse berücksichtigen müssen. Das wirft auf die Interpretation seitens der Kultusministerkonferenz ein verdammt schlechtes Licht.
Bessere Lehrerausbildung allein hilft uns nicht. Wir müssen an die Ausstattung der Schulen ran. Wir müssen diese Probleme jetzt angehen. Wir müssen die Schulen finanziell, personell und sachlich besser ausstatten.
(Beifall von den PIRATEN)
Die Studie zeigt eine beachtliche Streuung bei den Leistungen in den Schulen, auch an Gymnasien. Daraus kann man eigentlich nur schließen: Individuelle Förderung ist das Wichtigste, was wir machen müssen. Das ist der richtige Ansatz. Denn damit lösen wir auch die wesentlichen Problemfelder; Frau Gebauer, Frau Hendricks und Frau Beer haben es gerade angesprochen. Die „soziale Disparität“, das soziale Umfeld, die soziale Stellung der Eltern, das ist immer noch wichtig für den Lernerfolg der Schüler. Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund profitieren noch viel zu wenig von diesem Schulsystem.
Wir müssen auch über den unterschiedlichen Erfolg der verschiedenen Geschlechter in den Fächern Mathematik und Naturwissenschaften reden. Wir müssen weitere Anstrengungen betreiben, auch Mädchen und junge Frauen für diese Fächer zu gewinnen, denn diese Fächer sind für alle Schülerinnen und Schüler wichtig.
Die Motivation der Schülerinnen und Schüler – das ist der letzte Punkt – ist dabei das Allerwichtigste. Wir müssen ihnen einen Lernerfolg beschaffen. Wir dürfen die Potenziale, die sie haben, nicht brachliegen lassen. Wir können es uns nämlich einfach nicht leisten, Schülerinnen und Schüler unter ihren Möglichkeiten hängen zu lassen.
(Beifall von den PIRATEN)
Deswegen möchte ich die Landesregierung an den rot-grünen Koalitionsvertrag erinnern: Kein Kind zurücklassen. – Der Handlungsbedarf ist hier offensichtlich. Wir müssen die individuelle Förderung endlich durchführen. Das darf kein laues Lippenbekenntnis mehr bleiben. Wir dürfen nicht „Weiter so“ machen in der Schulpolitik.
Um die individuelle Förderung aller Kinder und Jugendlichen zu ermöglichen, müssen wir grundlegende Verbesserungen anstoßen. Es muss um die Ausstattung der Schulen gehen. Es muss um die Lehrkräfte gehen. Wir müssen über kleinere Klassen reden. Wir brauchen auch flexiblere Ausbildungsgänge, damit die Schüler ihre Talente gefördert sehen und bei ihren Talenten Lernerfolge haben.
Da biete ich einen Blick in unser Wahlprogramm an. Das ist das, was wir „fließende Schullaufbahn“ nennen. – Vielen Dank.
(Beifall von den PIRATEN)
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