Donnerstag, 20. Juni 2013
TOP 8. Europa diskriminierungsfrei – auch an der Wahlurne: Keine Sperrklauseln bei Europawahlen!
Drucksache 16/3325
Im Sinne der europäischen parlamentarischen Demokratie sollte die stärkere Bürger- und Wahlbeteiligung die wichtigste Aufgabe des Wahlsystems und des Verfahrens für Europawahlen sein. Eine Sperrklausel im Europäischen Parlament, eine prozentuale Beschränkung zur Erlangung von Sitzen, hebelt die Innovationskraft kleiner und neuer Parteien im Europäischen Parlament aus. Eine öffentliche Debatte über das Express-Gesetzgebungsverfahren für eine Drei-Prozent-Hürde bei Europawahlen ist dringend notwendig. Die erneute Einführung einer Sperrklausel bei Europawahlen würde die Entkopplung der Bürger von der europäischen Politik weiter befördern.
Nico Kern, Europapolitischer Sprecher der Piratenfraktion: „Eine dauerhafte stabile Regierungsmehrheit wie etwa im Bundestag ist nicht die Arbeitsgrundlage des Europaparlaments. Es beruht weiterhin auf einem System von Fraktionen, die aus vielen Parteien unterschiedlicher politischer Färbung gebildet werden. Auch die zukünftige Wahl des Kommissionspräsidenten mit qualifizierter Parlamentsmehrheit rechtfertigt keine künstliche Verzerrung des Wählerwillens. Auch wenn es die etablierten Parteien bereits vergessen haben oder lieber ignorieren wollen: Kleine und neue Parteien erhöhen spürbar den politischen Wettbewerb, stärken die politische Vielfalt und fördern die Bürgerbeteiligung.“
Abstimmungsergebnis: Der Antrag wurde mit den Stimmen von SPD, Grünen, CDU und FDP abgelehnt.
Nicolaus Kern (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer hier im Saal und zu Hause! Im November 2011 hat das Bundesverfassungsgericht die Fünfprozentsperrklausel bei Europawahlen für verfassungswidrig und somit nichtig erklärt. Die Richter sagten, es fehle grundsätzlich an zwingenden Gründen, in die Wahl- und Chancengleichheit durch Sperrklauseln – Plural wohlgemerkt – einzugreifen.
Nun hat eine selten gesehene Koalition aus den Bundestagsfraktionen von CDU, CSU, SPD, FDP und Grünen jüngst einen Gesetzentwurf auf den Weg gebracht, der unter anderem eine Dreiprozenthürde bei Europawahlen vorsieht.
Vorab möchte ich etwas zum Gesetzgebungsprozess sagen. Vor nicht allzu langer Zeit, am 4. Juni, wurde der entsprechende Gesetzentwurf vorgelegt. Am 10. Juni wurde schnell eine Anhörung im Innenausschuss durchgeführt, und keine drei Tage später ohne Protokoll oder echter Auswertung der Anhörung hat der Bundestag dem Gesetzentwurf in zweiter und dritter Lesung zugestimmt.
Hier soll eine weitreichende Gesetzesänderung vorgenommen werden, die wirklich jeden Bürger betrifft, ohne jegliche öffentliche Debatte darüber anzuregen oder zuzulassen – mit einer Scheindebatte um 23 Uhr, quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Diese Nacht- und Nebelpolitik der etablierten Parteien ist Ausdruck von politischer Arroganz und Selbstgefälligkeit.
Kommen wir zum Gesetzesvorhaben selber. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2011 festgestellt, dass der – Zitat – schwerwiegende Eingriff in die Grundsätze der Wahlrechts- und Chancengleichheit der politischen Parteien unter den gegebenen rechtlichen und tatsächlichen Verhältnissen nicht zu rechtfertigen sei.
Der Verweis auf die Funktionsfähigkeit des Europäischen Parlaments, die nur mit Sperrklauseln sicherzustellen sei, trägt also nicht. Was 2011 galt, gilt auch heute. Denn an den Verhältnissen im Europaparlament hat sich seit 2011 nichts Entscheidendes geändert. Eine dauerhafte stabile Regierungsmehrheit, wie etwa im Bundestag, ist nicht die Arbeitsgrundlage des Europaparlaments. Es beruht weiterhin auf einem System von Fraktionen, die aus vielen Parteien unterschiedlicher politischer Färbung gebildet werden. Auch die zukünftige Wahl des Kommissionspräsidenten mit qualifizierter Parlamentsmehrheit rechtfertigt keine künstliche Verzerrung des Wählerwillens.
Auch wenn es die etablierten Parteien bereits vergessen haben oder lieber ignorieren wollen: Kleine und neue Parteien erhöhen spürbar den politischen Wettbewerb, stärken die politische Vielfalt und fördern die Bürgerbeteiligung.
(Beifall von den PIRATEN)
Dabei bewegen Sie sich, liebe Altparteien, hier auf wirklich dünnem Eis. Ob Sie, Herr Lindner, sich mit der Dreiprozenthürde einen Gefallen tun, bleibt abzuwarten. Ob die Spitzenperformance der „Doktoren“ Silvana Koch-Mehrin und Jorgo Chatzimarkakis wirklich ausreicht, um 3 % der Wähler zu überzeugen, lasse ich einmal dahingestellt.
Aber besonders dreist ist die Kehrtwende der Grünen. 2011 noch lobte ihr Parlamentarischer Geschäftsführer im Bundestag, Herr Beck, das Verfassungsgerichtsurteil, weil es auf die Chancengleichheit der Parteien und die Wahlrechtsgerechtigkeit abhebe. Nun will man davon nichts mehr wissen. In bemerkenswerter Geschwindigkeit haben sich die Grünen von den Grundsätzen des parlamentarischen Pluralismus und der Bürgerbeteiligung verabschiedet.
(Beifall von den PIRATEN – Christian Lindner [FDP]: Meine Güte!)
Nicht die Bürgerinnen und Bürger haben sich nach den Vorgaben des Parlaments zu richten, sondern das Parlament muss mit dem Votum der Bürgerinnen und Bürger arbeiten. Die Angst vor dem Wähler scheint bei den etablierten Parteien jedenfalls größer zu sein als ihr Vertrauen in die parlamentarische Demokratie.
Wir Piraten bleiben dabei: Ob Drei- oder Fünfprozenthürden bei Kommunal-, Landtags- oder Europawahlen sind Sicherheitsklauseln für machtversessene Altparteien.
(Beifall von den PIRATEN)
Der jetzt vorliegende Entschließungsantrag der anderen Fraktionen zeigt, dass die Argumente zur Chancengleichheit und Bürgerbeteiligung nicht gehört werden wollen. Daher beantragen wir die direkte Abstimmung und sorgen sicherlich wieder einmal dafür, dass hier ansonsten wieder große Geschlossenheit im Plenum herrscht. – Danke schön für Ihre Aufmerksamkeit.
(Beifall von den PIRATEN)
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