Plenarrede: Dietmar Schulz zu kalter Progression

Mittwoch, 24.04.2013

TOP 2. Reformblockade beim Abbau der kalten Progression im Bundesrat beenden – Steuerliche Mehrbelastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verhindern

Antrag der Fraktion der FDP
Direkte Abstimmung
Unser Redner : Dietmar Schulz
Unsere Abstimmungsempfehlung: Enthaltung

Das Wortprotokoll zur Rede von Dietmar Schulz:

Dietmar Schulz (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und am Stream! Der Antrag der FDP ist einer, den man nicht nur hier, sondern auch in Ausschüssen, in der Gesellschaft kontrovers diskutieren kann, wahrscheinlich sogar auch muss. So ist es geschehen in einer Anhörung im Finanzausschuss des Bundestages. Das ist jetzt ein Jahr her. Das war am 19.03.2012. Da ging es in der Beratung um die Frage, ob das mit der kalten Progression, so wie es die Bundesregierung seinerzeit vorgeschlagen hat, überhaupt funktioniert, und vor allen Dingen darum, ob es finanzierbar ist.

Wir dürfen eines feststellen: Die Mehrheit, egal welcher Fraktion sie nun angehört, im Bundesrat hat gesagt: Nein, es ist nicht finanzierbar. Nein, das bekämpft Symptome und ist keine Steuerpolitik im eigentlichen Sinne. Ja, man muss die kleinen und mittleren Einkommen entlasten, aber vor allen Dingen muss man dafür Sorge tragen, dass sie nicht definitiv zusätzlich zu der in der Progression befindlichen Schwächung auch noch inflationäre Einbußen hinnehmen müssen. Insofern verstehe ich den Antrag der FDP richtig, dass gerade dieser Aspekt mit diesem Vorhaben, die kalte Progression abzuschaffen, bewirkt werden soll.

Aber so kontrovers das auch im Kreise der Sachverständigen diskutiert wird, dürfen wir eines nicht aus den Augen verlieren, nämlich nach wie vor die Finanzierbarkeit. Von der Bundesregierung wurde gerne angeführt, dass wir eine Erhöhung des Steueraufkommens im Jahre 2014 um knapp 100 Milliarden € gegenüber 2010 haben würden.

So weit, so gut. Aber das reicht bei Weitem nicht aus, um Schieflagen innerhalb der durch das Steuersystem und durch die gesamten Steuergesetze hergestellten eventuellen auch sozialen Ungerechtigkeiten auszugleichen. Denn eins dürfen wir bitte nicht vergessen: Wir dürfen hier keine Wahlgeschenke in Aussicht stellen, die am Ende die nachfolgenden Generationen ausgleichen müssen. Wir haben zurzeit in der Bundesrepublik Deutschland eine Verschuldung von 2.100 Milliarden €. Wir denken überhaupt noch nicht daran, das zu tilgen, gleichwohl sagen wir aber, wir möchten bestimmte Einkommen entlasten.

Ja, und ich muss auch eine Kritik in Richtung des Herrn Finanzministers äußern, der da sagt – ich zitiere mit Genehmigung des Gerichts …

(Heiterkeit)

– Entschuldigung, nicht des Gerichts, sondern des Präsidiums –

… aus der „Neuen Westfälischen“ –:

„So wünschenswert eine steuerliche Entlastung vor allem für Klein- und Normalverdiener ist, so wenig kann der Gesamtstaat auf das Geld verzichten, dass eine Aufhebung der inflationsbereinigten Progression kostet.“

Sehr verehrter Herr Minister, damit schlagen Sie natürlich Ihrer Wählerschaft gewaltig ins Gesicht. Das muss man ganz klar sagen. Die kleinen und mittleren Einkommen sind diejenigen, die den Bärenanteil zum Steueraufkommen der Bundesrepublik Deutschland beitragen. Hier zu einer Entlastung zu kommen, ist sicherlich wünschenswert. Was aber unseres Erachtens nicht passieren darf, ist, dass hier, unabhängig von der Frage, ob der Grundfreibetrag angehoben werden soll, und dieses möglicherweise auch jährlich unter Berücksichtigung entsprechender Kriterien, die auch mit dem Inflationsausgleich zusammenhängen, keine Kompensation durch einseitiges, möglicherweise auch sehr kurzgesprungenes Drehen an der Steuerschraube im Bereich der Progression möglich ist.

Insofern geht die Kritik auch in Richtung FDP. Es ist nicht steuerkonzeptionell, was hier vorgelegt wird. Es ist ein Bekämpfen bzw. ein Behandeln einzelner Symptome und fügt sich nicht ein in ein gesamtstaatliches, gesamtfiskalisches Konzept, zu dem selbstverständlich auch gehört, dass wir berücksichtigen, dass seit Jahrzehnten im Bereich der Spitzenbesteuerung nichts Wesentliches unternommen worden ist. Das betrifft die Einkommensteuer, das betrifft möglicherweise auch die Besteuerung von Vermögen etc. pp. Da ist seit 1958 eher abgebaut als aufgebaut worden. – So viel zu den Fragen der Kompensation.

Ich persönlich muss Ihnen ganz ehrlich sagen: Der Antrag geht mir nicht weit genug und er ist vor allem nicht dezidiert genug, sodass ich mich persönlich bezüglich dieses Antrages nur ablehnend aussprechen kann. Dies ist auch die Empfehlung an meine Fraktion. In der vielfältigen in der Sachverständigenszene geführten Argumentation sagen die einen: Das sollte man machen. – Die anderen sagen: Man könnte es eventuell machen. – Die anderen finden: Das kann man unter dem Finanzierungsvorbehalt auf keinen Fall machen.

(Christian Lindner [FDP]: Wer sagt das? Nennen Sie einen!)

– Dann nenne ich einen, der ganz klar gesagt hat, dass das nicht so sein soll. Das ist Prof. Giacomo Corneo von der Freien Universität Berlin. Dies hat er in der Anhörung geäußert. Auch das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung steht nicht gerade positiv diesem Aspekt der einseitigen und singulären Befassung der kalten Progression gegenüber. Auch die sagen definitiv: Ja, man muss das Problem angehen, aber bitte im Rahmen eines gesamten Steuerkonzepts. – Da höre und lese ich momentan von der Bundesregierung nichts.

(Christian Lindner [FDP]: Man darf die schwachen Schultern nur dann entlasten, wenn man die starken Schultern belastet!)

– Das ist damit nicht gesagt. Damit ist lediglich gesagt, dass eine Diskussion, durchaus auch unter Einbeziehung der Sachverständigenebene, geführt werden muss, wie eine Steuergerechtigkeit, die heute hier im Saal schon häufig angesprochen worden ist, von A bis Z, also quer durch die gesamte Gesellschaft, hergestellt werden kann. Das erreichen wir auf keinen Fall, indem wir nur einen Bereich, zum Beispiel den Bereich der Progression, herausnehmen.

(Vorsitz: Vizepräsident Oliver Keymis)

Wie gesagt, ich lehne den Antrag ab. Ich stelle es meiner Fraktion frei, dies ebenso zu tun bzw. sich enthaltend oder auch zustimmend zu dem Antrag der FDP zu stellen. Allerdings muss ich ganz ehrlich sagen: Angesichts der Verkürzung der Problematik durch den Antrag kann ich nur raten, diesen abzulehnen. – Danke schön.

(Beifall von den PIRATEN)

Vizepräsident Oliver Keymis: Danke schön, Herr Kollege Schulz. – Nun spricht für die Landesregierung Herr Finanzminister Dr. Walter-Borjans.

Veröffentlicht unter Haushalts- und Finanzausschuss (A07), Reden

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