I. Ausgangslage
Die Zahl der Kinder, die in einkommensarmen Familien leben, stieg in Nordrhein-Westfalen in den letzten Jahren an. In manchen Stadtteilen lebt nach Auskünften der Freien Wohlfahrtspflege NRW sogar jedes zweite Kind in Armut.[1] Die Landesregierung bekennt in ihrem 10. Kinder- und Jugendbericht: „Nach dem aktuellen Landessozialbericht NRW (vgl. Kapitel 2.4) sind Kinder und Jugendliche in besonderem Maße von Armut betroffen. Sie leben zu einem überdurchschnittlichen Anteil in Haushalten, die von relativer Einkommensarmut betroffen sind: Die Armutsrisikoquote von Minderjährigen lag 2014 bei 21,9 Prozent und damit deutlich höher als in der Bevölkerung insgesamt (16,2 %).“[2]
Auch wachsen immer mehr Kinder in Familien auf, die auf Grundsicherungsleistungen angewiesen sind. In Nordrhein-Westfalen hat sich der Anteil dieser Kinder und Jugendlichen in den vergangenen Jahren auf 18,6% erhöht und liegt sowohl über dem bundes- als auch dem westdeutschen Durchschnitt (14,3%, 12,4%). Die große Mehrheit (81,1%) der betroffenen Sieben- bis Fünfzehnjährigen verbleibt länger als ein Jahr im SGB-II-Bezug, immer noch mehr als die Hälfte (58,3%) sogar länger als drei Jahre[3] oder gar ein Jahrzehnt (51,1%).[4] Überproportional häufig betroffen sind sowohl Familien mit alleinerziehenden Elternteilen als auch solche mit mehr als drei Kindern.
„Armut bedeutet gleichzeitig immer auch Gefährdungen wie mangelnde Gesundheit, Bildung und gesellschaftliche Teilhabe“, wie die Landesregierung treffend feststellt.[5]
Die Bertelsmann Stiftung konstatiert anlässlich ihrer jüngsten Studie zu Kinderarmut in Deutschland: „Je länger Kinder in Armut leben, desto negativer sind die Folgen. Verglichen mit Gleichaltrigen aus Familien mit gesichertem Einkommen sind arme Kinder häufiger sozial isoliert, materiell unterversorgt und gesundheitlich beeinträchtigt. Sie haben oft kein eigenes Zimmer und damit keinen Rückzugsort, ernähren sich ungesünder, Monatstickets für den Nahverkehr sind kaum finanzierbar und außerschulische Bildung, Hobbies oder Urlaub ein Luxus. Außerdem haben arme Kinder einen weitaus beschwerlicheren Bildungsweg vor sich. Antje Funcke von der Bertelsmann Stiftung führte anlässlich der Enquetekommission zur Zukunft der Familienpolitik in Nordrhein-Westfalen aus, dass Armut sich nicht nur negativ auf die späteren Bildungschancen auswirkt. „Denn mit Armutserfahrungen gehen vielfach schlechtere Bildungschancen, gesundheitliche Beeinträchtigungen, ein geringeres psychisches Wohlbefinden und ein niedrigeres Selbstbewusstsein einher.”[6]
Das Deutsche Kinderhilfswerk ergänzt: „Hinzu kommen die gestiegene Zahl der zu uns geflüchteten Kinder und Jugendlichen und eine nicht in den Statistiken auftauchende Dunkelziffer von in verdeckter Armut lebenden Familien. Gerade die Tatsache, dass konjunkturelle Aufschwünge der letzten Jahre kaum zu einer Abnahme der Kinderarmut beigetragen haben, macht deutlich, dass wir ein strukturelles Problem haben, dem Politik und Gesellschaft mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln und Kompetenzen entgegentreten müssen.“[7]
Alle Kinder haben – unabhängig von Verdiensten, Stand oder Einkommen ihrer Eltern – von Geburt an ein Recht auf soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard. Kinderarmut steht nicht nur diesen Rechten diametral entgegen, sondern beeinträchtigt die betroffenen Kinder und Jugendlichen auch in der Wahrnehmung zahlreicher anderer Rechte, beispielsweise des Rechtes auf Information und Beteiligung, bestmögliche Gesundheit, Bildung oder Beteiligung an Freizeit, kulturellem und künstlerischem Leben.
Sie verringert dabei nicht nur die Lebensqualität im Jetzt, sondern wirkt sich auch fatal auf die Entwicklung und das ganze weitere Leben aus. Der Bildungserfolg hängt in kaum einem anderen Staat so stark von der sozialen Herkunft ab wie in Deutschland[8] und der Armutsbericht erinnert regelmäßig daran, dass die Gruppe der Menschen mit dem niedrigsten Einkommen sogar eine um zehn Jahre geringere Lebenserwartung aufweist als die derer mit dem höchsten Einkommen.
Dass konjunkturelle Aufschwünge der letzten Jahre kaum etwas an der verbreiteten Kinderarmut geändert haben, verdeutlicht den Reformbedarf.
Steuerliche Leistungen, Geldleistungen, Leistungen der Sozialversicherung und des Realtransfers – es gibt rund 156 ehe- und familienpolitische Leistungen.[9] Dieses Nebeneinander geht mit hohem bürokratischen Aufwand einher und ist für die Familien schwer zu durchschauen. Längst nicht allen ist klar, welche Leistungen ihnen und ihren Kindern zustehen.
Darüber hinaus schlagen sich in der aktuellen Förderpolitik keinesfalls die Grundsätze nieder, dass dem Staat „jedes Kind gleich viel wert ist“ und allen Kindern die gleichen Chancen eröffnet werden. Es findet eine Ungleichbehandlung statt, die nur als besonders ungerecht bezeichnet werden kann, da Kinder aus einkommensstarken Familien im aktuellen System stärker profitieren als solche mit einkommensschwachen oder erwerbslosen Eltern.
Gutverdienende Eltern können Kinderfreibeträge von bis zu 287€ monatlich geltend machen, während das Kindergeld für Kinder mit weniger einkommensstarken Eltern monatlich zwischen 192€ (für das erste und zweite Kind) und 223€ (für das vierte Kind) beträgt. Bei besonders bedürftigen Kindern im SGB-II-Bezug wird das Kindergeld sogar komplett auf den Regelsatz angerechnet.[10] Sie leiden außerdem darunter, dass die eigentlich dafür vorgesehenen Leistungen (Kinderregelsatz und das Bildungs- und Teilhabepaket) nicht ausreichen, um nicht nur ihre physische Existenz abzusichern, sondern ihnen auch tatsächlich gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen.
Um all diesen Missständen Abhilfe zu schaffen, setzen sich immer mehr Experten für eine Kindergrundsicherung ein. Als sinnvolles Instrument gegen folgenreiche Kinderarmut, unnötige Bürokratie und ungerechte Förderungsunterschiede oder -entscheide muss diese vor allem das reale soziokulturelle Existenzminimum von Kindern und Jugendlichen abdecken. Die Kindergrundsicherung darf nicht die Leistungen für Familien in besonderen Lebenslagen schmälern, sondern muss im Gegenteil zu einer finanziellen Entlastung beitragen.
Nicht nur Wohlfahrtsorganisationen wie der Bundesverband der Arbeiterwohlfahrt (AWO) und die Freie Wohlfahrtspflege NRW[11] fordern die Einführung einer Kindergrundsicherung. In der Anhörung am 27.10.2016 im Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend des Landtages von Nordrhein-Westfalen sprachen sich alle zur Kindergrundsicherung stellungnehmenden Sachverständigen für sie aus.[12] Das gilt ebenso für die Anhörung der Enquetekommission V am 29.2.2016 zu finanziellen Entlastungsmöglichkeiten für Familien, in der eine intensive Diskussion über die Kindergrundsicherung geführt wurde. Dort befürworteten das Deutsche Kinderhilfswerk, Dr. Irene Becker, Werner Rätz sowie der Bundesverband des Familienverbundes der Katholiken die Einführung einer Kindergrundsicherung.[13] Die Enquetekommission zur Zukunft der Familienpolitik fasste den mehrheitlich abgestimmten Beschluss, eine Kindergrundsicherung auf Bundesebene einzuführen deren Höhe eine soziokulturelle Teilhabe sichert und für die alle Kinder anspruchsberechtigt sind.[14]
Die Kindergrundsicherung kann somit einen wichtigen materiellen Beitrag zur Bekämpfung von Kinderarmut leisten. Flankiert werden muss dieser auch weiterhin von infrastruktureller Armutsprävention. Zeitpolitik kann neben finanzieller Entlastung von Familien sinnvolle politische Impulse zur Unterstützung des Alltags von Familien geben. Dies ist insbesondere sinnvoll, damit sich die Zahl der behördlichen Anlaufstellen reduzieren lässt oder durch die Entwicklung von kommunalen Zeitleitplänen. Kindertageseinrichtungen und Tagespflege müssen auskömmlich finanziert werden, um ihrem Auftrag der Förderung, Erziehung und frühkindlichen Bildung nachkommen zu können. Auch Kinder- und Jugendhilfeeinrichtungen dürfen nicht chronisch unterfinanziert sein, wenn sie in der Lage sein sollen, Benachteiligungen auszugleichen und den Bedürfnissen der Kinder gerecht zu werden. Eltern müssen ihren Erziehungsauftrag wahrnehmen dürfen und in der Vereinbarkeit von Familie und Beruf unterstützt werden. Darüber hinaus waren sich in der öffentlichen Anhörung der Enquetekommission zur Zukunft der Familienpolitik zu finanziellen Entlastungsmöglichkeiten für Familien die Sachverständigen größtenteils einig, dass eine Kindergrundsicherung ein Schritt in die Richtung zu einem bedingungslosen Grundeinkommen für Erwachsene ist.
II. Der Landtag stellt fest:
- Kinder haben ein Recht auf soziale Sicherheit und einen angemessenen Lebensstandard. Das aktuellen Sozialleistungen im SGB-II zugrunde gelegte “Existenzminimum” für Kinder und Jugendliche ist nicht sachgerecht bestimmt und erweist sich nicht als Garant für echte gesellschaftliche Teilhabe.
- Die Einführung einer Kindergrundsicherung ist zentraler Baustein zukunftsorientierter Familienpolitik. Sie ist geeignet, die finanzielle Situation von Kindern erheblich zu verbessern und zudem Chancengleichheit in Bildung, Gesundheit und gesellschaftlicher Teilhabe herzustellen.
- Der Landtag bekennt sich deshalb zur Kindergrundsicherung als Mittel, Kinderarmut und die strukturelle Benachteiligung ärmerer Kinder zu bekämpfen.
III. Der Landtag fordert die Landesregierung auf,
- in Ministerkonferenzen, bei der Bundesregierung, den Bundesministerien und im Bundesrat auf die Einführung einer Kindergrundsicherung hinzuwirken, die ihrer Höhe nach mindestens das soziokulturelle Existenzminimum absichert und somit auch gesellschaftliche Teilhabe ermöglicht. Eventuellen individuellen Sonder- und Mehrbedarfen muss weiterhin Rechnung getragen werden.
- sich auf allen Ebenen dafür einzusetzen, dass das soziokulturelle Existenzminimum für Kinder und Jugendliche wahrheitsgemäß bestimmt wird. Es muss auf ihren tatsächlichen Bedürfnissen basieren und auch ihre eigene Auffassung bezüglich dieser berücksichtigen.
[1] Stellungnahme 16/4330, Freie Wohlfahrtspflege NRW.
[2] Vgl auch 10. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, S.94. https://www.mfkjks.nrw/sites/default/files/asset/document/10-kinder-und-jugendbericht_nrw_web_0.pdf.
[3] Factsheet: Kinderarmut. Kinder im SGB-II-Bezug in Deutschland, https://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/Factsheet_WB_Kinderarmut_DE_09_2016.pdf. Vgl auch 10. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, S. 88. https://www.mfkjks.nrw/sites/default/files/asset/document/10-kinder-und-jugendbericht_nrw_web_0.pdf.
[4] Stellungnahme 16/4330.
[5] 10. Kinder- und Jugendbericht der Landesregierung Nordrhein-Westfalen, S. 88. https://www.mfkjks.nrw/sites/default/files/asset/document/10-kinder-und-jugendbericht_nrw_web_0.pdf.
[6] Sabine Andresen, Danijela Galic: „Kinder. Armut. Familie. Alltagsbewältigung und Wege zu wirksamer Unterstützung“ 2015, S. 7; http://www.bertelsmann-stiftung.de/fileadmin/files/BSt/Publikationen/imported/leseprobe/LP_978-3-86793-657-6_1.pdf.
[7] Stellungnahme (16/4338) des Deutschen Kinderhilfswerkes zur Anhörung des Ausschusses für Familie, Kinder und Jugend des Landtages NRW am 27.10.2016 zum Thema „Kindergrundsicherung“.
[8] Vgl. Marlies Tepe (GEW), http://www.heute.de/deutsche-jugendliche-mit-guten-startchancen-anteil-der-menschen-ohne-bildungsabschluss-stagniert-45231478.html.
[9] Stellungnahme 16/4330, vgl. BMFSFJ: „Endbericht: Gesamtevaluation der ehe- und familienbezogenen Maßnahmen und Leistungen in Deutschland“ 2016, https://www.bmfsfj.de/blob/73850/1cea4bc07edb6697571c03c739ece52f/gesamtevaluation-endbericht-data.pdf.
[10] Vgl. Stellungnahme 16/4338.
[11] Siehe Stellungnahme 16/4339.
[12] Stellungnahmen 16/4326, 16/4331, 16/4338, 16/4360, 16/4387.
[13] Siehe EKPr 16/14.
[14] Drucksache 16/14000, S. 135.
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