I. Sachverhalt
Die Lebensläufe der Jugendlichen, die den Brandanschlag auf den Essener Sikh-Tempel Anfang diesen Jahres verübt haben sollen, verdeutlichen die Versäumnisse der Landesregierung auch diesen Jugendlichen Perspektiven und Unterstützung vermittelt zu haben. Als notwendig erkannte Beratungen wurden nicht, oder in zu geringem Umfang geleistet. Dabei sind Maßnahmen zur Prävention von Radikalisierung und zur Deradikalisierung wesentlich, um Radikalisierungstendenzen noch vor Eintreten einer Eskalation einzudämmen und Menschen wieder in die Gesellschaft zu integrieren. Demnach kommt diesen Maßnahmen eine ganz besondere Rolle zu. Sie müssen gesamtgesellschaftlich unterstützt und gefördert sowie mit entsprechend finanziellen Mitteln versehen werden. Ein ganzheitliches Handlungskonzept, das die verschiedenen Maßnahmen kohärent und abgestimmt zusammenbringt, ist deshalb zu notwendig.
Der gewaltbereite Salafismus ist ein vielschichtiges Phänomen, dessen unterschiedlichen Ausprägungen mit differenzierten Präventionsansätzen begegnet werden muss. So ist neben dem gewaltbereiten Salafismus ein Bereich des verkündungsoffensiven, aber meist weniger gewaltbereiten Salafismus festzustellen. Der militante Salafismus unterscheidet sich vom politischen Salafismus oder von dem sogenannten „POP-Salafismus“, der eine auf die Jugend setzende charismatische Ausprägung sein möchte. Ein ganzheitliches Handlungskonzept gegen Radikalisierung im Salafismus muss deshalb die verschiedenen Radikalisierungstypen und Radikalitätslagen einbeziehen. Das Konzept muss dabei auch in einer breit aufgestellten Strategie verortet werden. Die Ideologien, denen sich die sich radikalisierenden Menschen anschließen, sind oft austauschbar wie Extremismusexperten erforscht haben.
Ein differenzierter Ansatz zur Prävention von Radikalisierung und Deradikalisierung von gewaltbereiten Salafisten impliziert verschiedene Projekte, die sich in der Präventionsstufe, der Zielgruppe, der Ansprache und im Medium unterscheiden. Vor diesem Hintergrund müssen verschiedene Akteure der Jugendarbeit, Bildungsarbeit, der muslimischen Verbände oder auch der Justizvollzugsanstalten, Methoden der Ansprache und Inhalte entwickeln und um- setzen. Hierbei ist eine konsequente und konstante empirisch-wissenschaftliche Begleitung notwendig, die theoretische Forschung in praktische Präventionsmaßnahmen umsetzt und diese bereits bei Einführung auf den Prüfstand stellt, bewährte Projekte fördert und nicht erfolgreiche auch als diese benennt.
Bei der Erarbeitung einer Strategie sollte die Kompetenz der vorhandenen zivilgesellschaftli- chen Präventions- und Deradikalisierungsprojekte genutzt werden, indem eng mit ihnen zusammengearbeitet wird. Zivilgesellschaftliche Projekte wie „Hayat’“ leisten seit Jahren wert- volle Arbeit und sind zu unterstützen. Aber gerade diese Projekte leiden unter dem Ausbleiben einer stetigen und zukunftssicheren Finanzierung. Zivilgesellschaftliche Organisationen, die überregional Anerkennung und Vertrauen genießen, werden nicht ausreichend unterstützt und gefördert. Dem gegenüber steht die kurzfristig geplante Personalerhöhung bei der Polizei und dem Verfassungsschutz, sowie der massive Ausbau der Videoüberwachung. Während damit spezifische präventive Maßnahmen ohne Zusicherung einer finanziellen Unterstützung auf dem Status eines angedachten Handlungskonzepts verharren, wurde im Bereich der Polizei und des Verfassungsschutzes kurzerhand Geld in die Hand genommen. Dieser Umstand verdeutlicht die unausgeglichene Herangehensweise der Landesregierung an die bestehenden Probleme.
Die Polizei spielt auch in der Prävention von Radikalisierungen eine wichtige Rolle. Es ist allerdings „kein Naturgesetz, die Sicherheitsbehörden mit Ausstiegsberatungen zu betrauen und von der Gesellschaft und professionellen Organisationen abzuschotten“1. Präventions- und Deradikalisierungsarbeit sollte nicht vom Verfassungsschutz, sondern von zivilgesell- schaftlichen Organisationen betrieben werden. Dennoch setzt das zentrale Prävention- und Aussteigerprogramm des Landes Nordrhein-Westfalen auf den Verfassungsschutz NRW als intellektuellen Unterbau für die Projekte. Bezüglich des Projektes „Wegweiser“ heißt es auf der Seite des Ministeriums für Inneres und Kommunales: „Der Verfassungsschutz bringt sein Wissen zum extremistischen Salafismus ein und sensibilisiert relevante Stellen für das The- ma. Er finanziert und koordiniert die örtlichen Anlaufstellen und initiiert zudem den weiteren Ausbau der Netzwerke.“2 Zwar versichern Vertreter von „Wegweiser“ eine absolute Verschwiegenheit, jedoch braucht glaubhafte, vertrauensfördernde Verschwiegenheit eindeutige und damit institutionelle Unabhängigkeit vom Verfassungsschutz.
Das Internet stellt einen wichtigen Handlungsraum für sich radikalisierende Menschen dar. Ein ganzheitliches Handlungskonzept bezieht auch diesen Handlungsraum mit ein. Dabei geht es nicht um eine verstärkte anlasslose Überwachung der Kommunikationsströme im Internet, sondern um die Entwicklung von Angeboten, die sich an Menschen mit verschieden ausgeprägten Radikalisierungstendenzen richten. Auch anonyme Kontaktmöglichkeiten, ähnlich wie bei Whistleblower-Hinweisgebersystemen, können für zweifelnde oder ausstiegswillige Salafisten eine erste Anlaufstelle darstellen. Die gegen die Radikalisierung arbeitende Zivilgesellschaft sowie das Land NRW müssen deshalb im Internet mit Angeboten vertreten sein.
II. Der Landtag stellt fest
Das Land NRW braucht ein differenziertes Handlungskonzept zur Prävention und Deradikali- sierung, da es bei Radikalisierungsprozessen generell und besonders bei denen im salafisti- schen Bereich unterschiedliche Radikalisierungstypen und Radikalitätslagen gibt. Ein Hand- lungskonzept bezieht diese Unterschiede durch zielgruppengerechte Maßnahmen ein, die von verschiedenen zivilgesellschaftlichen und staatlichen Akteuren umgesetzt werden. Eine empirisch-wissenschaftliche Begleitung dient der ständigen Überprüfung der Effektivität der Maßnahmen.
Die bisherigen Bemühungen der Landesregierung zum Umgang mit gewaltbereitem Salafismus sind bestenfalls unausgeglichen. Während kurzfristig immer neue Stellen bei Polizei und Verfassungsschutz zur Überwachung und Repression zusammengeführt und neu geschaffen werden und viel Geld in neue technische Überwachungssysteme wie Videoüberwachung fliesst, bleibt der politische Wille bei dem wichtigen Bereich der Prävention und Deradikalisierung deutlich zurück.
Die mit dem Antrag der Fraktionen SPD und Bündnis 90/Die Grünen vom 10.03.2015 (Dr-16/8106) selbst gestellte Aufgabe, „Salafismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ zu betrachten, ist bis heute nicht erfüllt. Weder wird eine zeitliche Frist für die Erarbeitung eines Handlungskonzepts avisiert, noch werden finanzielle Zusagen zur Verbesserung von Präventions- und Deradikalisierungsprogrammen getroffen. Das erst jetzt, im zweiten Nachtragshaushalt 2016, 2 Planstellen und Sachmittelausstattungen von 7.500 EUR geschaffen werden, um mit den Arbeiten an einem Handlungskonzept zu beginnen, zeigt die fatale Fehleinschätzung der Landesregierung über die Bedeutung der Präventionsarbeit zum gewaltbereiten Salafismus in Nordrhein-Westfalen.
III. Der Landtag beschließt
- die Landesregierung aufzufordern das Programm „Wegweiser“ vom Verfassungsschutz strukturell zu lösen und unabhängig zu gestalten,
- die Landesregierung aufzufordern, auch unter Einbezug der Zivilgesellschaft gemeinsam mit Expertinnen und Experten aus Wissenschaft und Praxis das ganzheitliche Handlungskonzept für den Umgang mit gewaltbereitem Salafismus zu erarbeiten und dem Landtag regelmäßig und erstmalig spätestens zum Ende des Jahres 2016 darüber zu berichten.
- Das Handlungskonzept sollte u.a. folgende Maßnahmen berücksichtigen und dabei auf eine zielgruppenspezifische und, soweit möglich, radikalisierungstypische Herangehensweise achten:
1. Erarbeitung von Fortbildungen für Lehrerinnen und Lehrer, pädagogische Fachkräfte in der Schule und der Kinder-und Jugendhilfe, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Justizvollzugsanstalten sowie für Imame und Dialogbeauftragte zu „Demokratiebotschaftern“ entlang einer thematischen Strategie, die durch erfahrene Experten koordiniert und wissenschaftlich begleitet wird,
2. Maßnahmen zur Deradikalisierung in Justizvollzugsanstalten, durch erfahrene Experten entwickelt sowie wissenschaftlich begleitet,
3. Weiterentwicklung der interreligiösen und interkulturellen Bildung in der Jugendarbeit und in der Schule, durch erfahrene Experten entwickelt sowie wissenschaftlich begleitet,
4. Personelle Stärkung der Schulsozialarbeit,
5. Entwicklung und Durchführung von Angeboten zur Aufklärung und Prävention im Zusammenhang mit dem gewaltbereiten Salafismus im Bereich der offenen, verbandlichen, kulturellen und erzieherischen Jugendarbeit sowie in der Jugendsozialarbeit, durch erfahrene Experten entwickeln sowie wissenschaftlich begleiten,
6. Fortführung des dialog forum islam (dfi) zur Verstetigung des institutionalisierten Dialogs der Landesregierung mit dem alevitischen Verband und den muslimischen Verbänden, u.a. zur gemeinsamen Entwicklung einer Gegennarrative, alternativer Rollenbilder und eines alternativen Gemeinschaftsbildes,
7. Stärkung des interreligiösen Dialogs,
8. Fortführung der bestehenden und Entwicklung weiterer Qualifizierungsreihen und Informationsangebote durch die Landeszentrale für politische Bildung,
9. Aufbau eines integrierten Forschungsplanes zu Radikalisierungen generell und zum Themenbereich Salafismus, insbesondere auch zur Rolle von Frauen im gewaltbereiten Salafismus, zu den Bedingungen für Radikalisierung sowie der empirischen Begleitforschung in der Methodik bei präventiven und deradikalisierenden Maßnahmen,
10. Entwicklung eines Internetangebots für Menschen mit Radikalisierungstendenzen, das Informationen sowie Kontaktmöglichkeiten bietet,
11. Stärkung der Sensibilität der demokratischen Zivilgesellschaft für gesellschaftliche Entwicklungen hin zu Islamfeindlichkeit und verfassungsfeindlichem Salafismus.
Mitschnitt der kompletten Debatte:
Protokoll der Rede von Frank Herrmann:
Frank Herrmann (PIRATEN): Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Liebe Zuschauer im Saal und zu Hause! Je suis Bagdad, meine Damen und Herren! Je suis Bagdad! Ein solches oder anderes Zeichen der Anteilnahme, des Mitgefühls aufgrund des verheerenden Bombenanschlags in Bagdad Samstagnacht habe ich in den letzten Tagen nicht wahrgenommen. Stattdessen wird über den Anschlag berichtet wie über eine der vielen Kriegshandlungen, wie sie täglich in einem der Länder im Nahen Osten stattfinden.
Aber hier fängt Integration und vor allem Prävention meiner Meinung nach an. Wir müssen wahrnehmen, was es für die bei uns lebenden Muslime heißt, wenn eine Gruppe von Mördern, die sich „Islamischer Staat“ nennt, den heiligen Ramadan ausnutzt, um eine möglichst große Gruppe von gläubigen Muslimen in Bagdad zu ermorden. Das ist kein Geländegewinn in einem Krieg. Das ist ein direkter Anschlag auf Menschen in einem Land, in das wir, der Westen, vor Jahrzehnten den Krieg hineingetragen haben und die langsam anfangen, sich ihre Gesellschaft wieder aufzubauen. Das betrifft eben auch die Muslime hier, und zwar die, die bei uns geboren sind, aber auch die, die später nach Deutschland gekommen sind und heute hier leben.
Erinnern Sie sich bitte an unsere Betroffenheit nach den Anschlägen von Paris und Brüssel. Vielleicht können Sie dann ein bisschen nachvollziehen, wie sich unsere muslimischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in Bezug auf die Anschläge in Bagdad gerade fühlen. Hier sind wir in meinen Augen viel zu oberflächlich. Ich denke, wir nehmen das nicht richtig wahr. Ja, ich habe jetzt von „wir“ und „die“ gesprochen, obwohl ich der Meinung und der Überzeugung bin, dass der Islam zu Deutschland gehört. Ich dachte, vielleicht erschließen sich Ihnen so meine Gedanken besser.
Meine Damen und Herren, Migranten leben hier in Deutschland in der zweiten und dritten Generation. Die meisten in Deutschland lebenden Jugendlichen mit arabischem Namen sind in Deutschland geboren und deutsche Staatsbürger. Aber Diskriminierungserfahrungen sind dort immer noch sehr weit verbreitet, in der Schule und auch später bei der Arbeitssuche. Das Auftreten als Teil einer imaginären muslimischen Gemeinschaft, die den Westen das Fürchten lehrt, stellt für einige eine vermeintlich verheißungsvolle Alternative dar. Das ist etwas anderes, als ständig weiter diskriminiert zu werden.
Genau da müssen wir Ansätze und Angebote machen, und zwar dringend. Seit mindestens einem Jahr und länger mehr Befugnisse für den Verfassungsschutz und Videoüberwachung an jeder Ecke – das ist dafür nicht der richtige Ansatz. Deshalb, meine Damen und Herren, wollen wir mit unserem Antrag an die Diskussion vom März letzten Jahres erinnern. Da haben Sie selbst, verehrte Kolleginnen und Kollegen der regierungstragenden Fraktionen, Salafismusprävention als gesamtgesellschaftliche Aufgabe definiert und beschlossen. Und was war dann?
Unser Antrag – Sie werden es erkennen – orientiert sich stark an dem Antrag, den wir im März 2015 gestellt haben, als Sie das Handlungskonzept angekündigt haben. Dass wir uns hier wiederholen müssen, liegt daran, dass es dieses ganzheitliche Handelskonzept immer noch nicht gibt. Natürlich werden Sie gleich sagen: Wir machen das doch schon alles. Der Antrag der Piraten ist überflüssig. – Das sehen wir natürlich anders, denn erst jetzt, im Zweiten Nach- tragshaushalt 2016, der erst einmal wieder geschoben worden ist, finden sich zwei
Mitarbeiterstellen zur Koordination der dringend notwendigen interministeriellen Arbeitsgruppe. Das haben Sie in Ihrem Antrag erwähnt. Sie brauchen 15 Monate, um das umzusetzen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, das ist grobfahrlässig!
Mit einem Ausbau von Videoüberwachung, Bodycams für Polizisten, mehr Überwachungsrechten für den Verfassungsschutz sind Sie schnell dabei, aber zielgerichtete Präventionsarbeit ist nicht vorhanden. Meine Damen und Herren, der Handlungsbedarf ist dringend. Darüber wollen wir mit Ihnen im Ausschuss sprechen. Ich würde mich über eine offene und ideologiefreie Diskussion dazu freuen.
Danke schön für die Aufmerksamkeit.
(Beifall von den PIRATEN)
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